Das Guericke-Einhorn: Das kurioseste Einhorn der Wissenschaft

Ein fossiler Fund im Jahr 1663, zwei angesehene deutsche Wissenschaftler und die groteske erste bildliche Darstellung eines prähistorischen Großtieres: Wie das Einhorn von Quedlinburg seinen Weg in die Fachliteratur fand.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 16. Juni 2023, 08:47 MESZ
Kupferstich des Quedlinburger Einhorns

Kupferstich des Quedlinburger Einhorns von Nikolaus Seeländer, der in der Protogaea von Gottfried Leibniz abgedruckt wurde. Das Werk erschien im Jahr 1749, 33 Jahre nach dem Tod des Wissenschaftlers und Philosophen.

Foto von Nikolaus Seeländer, 1682-1744 / Wikimedia Commons

Die Paläontologie, also die Wissenschaft, die sich mit den Lebewesen der geologischen Vergangenheit beschäftigt, bereitet uns immer wieder faszinierende Einblicke in eine Welt, die seit Tausenden oder gar Millionen Jahren nicht mehr existiert. Anhand der fossilen Knochen von Tieren, die vor langer Zeit ausgestorben sind, wird ihr Körperbau rekonstruiert und ihre Lebensweise abgeleitet. Doch der Forschungszweig ist vergleichsweise jung: Als ihr Begründer gilt der französische Naturforscher Georges Cuvier, der zwischen 1769 und 1832 lebte.

Zwar gab es schon weitaus früher prähistorische Knochenfunde, doch mangelte es damals an dem nötigen Wissen und wissenschaftlichen Methoden, um die Befunde korrekt zu interpretieren. Das brachte durchaus kuriose Blüten hervor – so wie im Fall des sogenannten Guericke-Einhorns: einem Wesen, das nie existiert hat und doch Einzug in die Fachliteratur seiner Zeit gehalten hat.

Der fossile Fund von Quedlinburg

Wie die meisten Fossilienfunden wurde auch das „Einhorn“ bei Grabungsarbeiten gefunden. Fundort waren die Seweckenbergen, ein Höhenzug bei Quedlinburg in Sachsen-Anhalt. In den Hügeln wurden seit dem Mittelalter Kalkstein und Gips abgebaut, die in ihrer Funktion als Baustoff in großen Mengen gebraucht wurden.

Beim Brechen des Gipssteins stießen Arbeiter im Jahr 1663 auf einige Knochen und Knochenfragmente. J. A. Wallmann, ein Mitglied der höheren Quedlinburger Gesellschaft, suchte Jahrzehnte nach dem Fund den Sohn einer der Arbeiter auf und berichtete darüber im Jahr 1776. Der Mann sagte, sein Vater habe ihm erzählt, es seien Knochen eines Einhorns, „das die Sündfluth verschlemmet“ hätte, gefunden worden.

Dem indirekten Zeugen zufolge befand sich unter diesen Knochen demnach ein Schädel, auf dessen Stirn ein abgebrochenes Horn saß. Weil die Arbeiter die Fossilien nicht mit archäologischer Sorgfalt freilegten, waren von den meisten nach der Bergung nur noch Fragmente vorhanden. Mit diesen vervollständigte man das abgebrochene Horn, so dass es in seiner Gänze „so dicke, als das Schienbein eines Menschen gewesen“ sei, so der Sohn des Arbeiters.

Niemand stellte infrage, dass es sich bei den Knochen um Überreste eines Einhorns handelte. Der Glaube an Fabelwesen war zu jener Zeit noch weit verbreitet.

Der Grubenleiter, dem der Fund gemeldet wurde, wusste nicht, was er mit den Fossilien anfangen sollte. So wurde der Befund Anna Sophia I. von Pfalz-Birkenfeld, der damaligen Fürstäbtissin von Quedlinburg, übergeben. Diese lagerte die Knochen zusammen mit ähnlichen Stücken auf dem Dachboden des Quedlinburger Schlosses. An dieser Stelle könnte die Geschichte des seltsamen Fundes enden, doch stattdessen schlug er hohe Wellen.

Universalgenie Otto von Guericke

Grund dafür war Otto von Guericke, damaliger Bürgermeister von Magdeburg und darüber hinaus ein anerkannter Wissenschaftler. Er war ein Wegbereiter der Meteorologie, erstellte astronomische Berechnungen und erfand im Jahr 1649 die Kolbenvakuumluftpumpe. Besonderes Ansehen erlangte er durch seine Experimente mit den sogenannten Magdeburger Halbkugeln, mit deren Hilfe er die Wirkung des Luftdrucks nachweisen konnte.

BELIEBT

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    Dieser Kupferstich aus dem Jahr 1717 des flämischen Malers Anselmus van Hulle zeigt den deutschen Politiker und Wissenschaftler Otto von Guericke.

    Foto von Wikimedia Commons

    Im Jahr 1672 veröffentlichte er sein Hauptwerk Experimenta nova Magdeburgensis, in dem er ein Fossil beschreibt, das in Quedlinburg gefunden wurde und das er selbst als Gerippe eines Einhorns bezeichnet: „… mit dem hinteren Körperteil, wie dies bei Tieren zu sein pflegt, zurückgestreckt, bei nach oben erhobenem Kopfe auf der Stirn nach vorn ein langgestrecktes Horn von der Dicke eines menschlichen Schienenbeins tragend, im entsprechenden Verhältnis hierzu etwa 5 Ellen in der Länge.“

    Guericke genoss in der wissenschaftlichen Welt seiner Zeit großen Respekt. Sein Wort hatte Gewicht, man vertraute auf sein Urteil. So erklärt sich der Bekanntheitsgrad, den das vermeintliche Einhorn durch die Publikation erlangte und warum es mit Otto von Guericke verknüpft und sogar nach ihm benannt wurde. 

    Dazu, wie nah er dem Fund persönlich kam, gibt es einige widersprüchliche Informationen. Manche Quellen berichten, er sei zum Zeitpunkt des Fundes zufällig in der Stadt gewesen. An anderer Stelle heißt es, er sei als Experte hinzugeholt worden. Auch, dass er persönlich die Knochen freigelegt und zu dem Skelett eines Einhorns zusammengefügt hat, ist eine Variante der Geschichte. Tatsächlich ist nicht klar, ob er das Fossil jemals mit eigenen Augen gesehen hat.

    Leibniz, Valentini und ein seltsames Bild

    Zudem war Guericke nicht einmal der Erste, der über den Fund berichtete: Die früheste bekannte Erwähnung des sogenannten Einhorns von Quedlinburg findet sich in einem Traktat des ortsansässigen Kämmerers Johann Mayer. Im Jahr 1669 schrieb der Arzt Friedrich Lachmund in seiner Oryctographia Hildesheimensis über fossile Einhörner und in diesem Zusammenhang auch über den Fund des fast unversehrten Skeletts eines gewaltigen Tieres nahe Quedlinburg.

    Der Wissenschaftshistoriker Fritz Krafft hat sich in einem Artikel für die Zeitschrift Monumenta Guerickiana mit der „Mär um das vermeintliche Guericksche Einhorn“ auseinandergesetzt und versucht, die Verbindung zwischen Guericke und dem Fund zu rekonstruieren. Er kommt zu dem Schluss, dass der Einschub in Experimenta nova auf Berichten anderer, vermutlich dem von Lachmund, basiert.

    In ähnlicher Weise übernahm der deutsche Mathematiker, Historiker und Philosoph Gottfried Leibniz Guerickes und andere Schilderungen des Einhornfunds in sein naturgeschichtliches Werk Protogaea. Es wurde im Jahr 1749 postum veröffentlicht. Anders als bei Guericke, der das Fossil nur textlich beschrieb, wurde der Bericht in Protogaea um einen Kupferstich von Nikolaus Seeländer ergänzt. Die Abbildung ist so grotesk, dass sich sofort die Frage nach der Lebensfähigkeit eines solchen Wesens stellt.

    Die erste Zeichnung des Einhornskeletts findet sich im ersten Band des Museum Museorum des Naturforschers Michael Bernhard Valentini. Sie gilt als älteste bildliche Darstellung eines prähistorischen Großsäugetiers.

    Foto von Wikimedia Commons

    Vorlage für die Darstellung war eine Zeichnung des Einhornskeletts, die im Jahr 1704 in dem Werk Museum Museorum des deutschen Naturforschers Michael Bernhard Valentini abgedruckt worden war. Sie beruhte auf den Schilderungen des Kämmerers Johann Meyer und gilt als die älteste bekannte bildliche Veröffentlichung eines vorzeitlichen Großsäugetieres – auch wenn sich dieses im Nachhinein als Fantasiewesen herausstellte.

    Bastelarbeit aus Mammut, Wal und Wollnashorn

    Denn das angebliche Einhorn war tatsächlich nichts weiter als das Ergebnis einer Bastelarbeit aus den Knochen verschiedener prähistorischer Tiere – eiszeitliches Mammut, Wollnashorn und Wal. Es hätte wohl keine derartige Berühmtheit erlangt, wäre seine Existenz nicht durch mehrere wissenschaftliche Größen seiner Zeit legitimiert worden. So schrieb der Theologe David Sigismund Buttner, der sich im Rahmen seiner Untersuchung „der Zeichen und Zeugen der Sintflut“ mit dem Einhorn beschäftigt hat, im Jahr 1710 : „Dessen gedencket auch der Herr von Guericke, an welches Zeugniß niemand, so den Mann kennet, zweifeln wird.“

    Der Glaube an Einhörner fand mit dem Fund eines fast vollständigen Mammutkadavers in Sibirien im Jahr 1799 ein schnelles Ende und auf die Idee, aus Fossilien nach Belieben Fantasiewesen zu rekonstruieren, kämen Paläontologen heute sicher nicht mehr. So ist die Geschichte des Guericke Einhorns inzwischen vor allem dies: eine skurrile Anekdote aus der Anfangszeit der prähistorischen Forschung. 

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