Das erste Institut für Sexualforschung – und seine Zerstörung

Anfang des 20. Jahrhunderts führte Magnus Hirschfeld im Institut für Sexualwissenschaft eine einzigartige Bibliothek zur Geschlechter- und Sexualforschung. Im Mai 1933 fiel die jahrelange Arbeit einer Bücherverbrennung der Nationalsozialisten zum Opfer.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 3. Mai 2024, 08:48 MESZ
S/W-Fotografie: Eine Gruppe von Menschen steht um einen brennenden Haufen Bücher. Einige zeigen den Hitlergruß.

Die Bücherverbrennung auf dem Opernplatz in Berlin am 10. Mai 1933 im Rahmen der Aktion „wider den undeutschen Geist“ war eine der ersten und umfangreichsten Bücherzerstörungen der Nationalsozialisten. Unter den brennenden Büchern waren auch Werke von Heinrich Heine, Erich Kästner, Karl Marx, Sigmund Freud und Else Lasker-Schüler – und unzählige Bücher aus der Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaften.

Foto von Bundesarchiv Bild 102-14597 / Georg Pahl

Am 10. Mai 1933, nur wenige Monate nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, nahm die von ihnen gestartete Kampagne „wider den undeutschen Geist“ einen ersten, erschreckenden Höhepunkt. Auf über 20 öffentlichen Plätzen versammelten sich Anhänger*innen des Regimes, um Berge aus Büchern zu verbrennen.

In dem Bücherhaufen, der auf dem Berliner Opernplatz brannte, befanden sich neben Werken zahlreicher Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen auch Bücher, die nur wenige Tage zuvor aus der Bibliothek eines in Berlin ansässigen, 1919 gegründeten Instituts entnommen wurden – Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft.

Magnus Hirschfeld und das Institut für Sexualwissenschaft

Der zur Zeit der Bücherverbrennung bereits 64 Jahre alte Hirschfeld war ein deutscher Arzt und Sexualforscher, der gleich wegen mehrerer Punkte im Fadenkreuz der Nationalsozialisten gelandet war. Er war Jude, schwul und setzte sich stark für die Rechte Homosexueller und für die Sexualforschung ein. Bereits im Jahr 1897 hatte er mit der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) die weltweit erste Emanzipations-Bewegung für Homosexuelle ins Leben gerufen. Das WhK hatte später seinen Sitz im Institut für Sexualwissenschaft.

Magnus Hirschfeld (rechts) mit seinem Kollegen und zeitweisen Liebhaber Tao Li im Jahr 1932 auf einer Konferenz der Weltliga für Sexualreform in Brünn, Tschechien. Li und Hirschfelds zweiter Partner Karl Giese waren in Hirschfelds Testament als seine Erben eingetragen.

Foto von Wellcome Collection

Dieses eröffnete Hirschfeld am 6. Juli 1919 in Berlin-Tiergarten. Es war weltweit das erste Institut seiner Art und wurde bald vor allem aufgrund der umfangreichen Bibliothek bekannt, in der eine beispiellose Sammlung von Schriften und Büchern zu den Themengebieten Sexualität und Geschlecht zu finden war. Geleitet wurden die Bibliothek und das dazugehörige Archiv von Hirschfelds Lebenspartner Karl Giese. 

Zusätzlich machten die Beratungs- und Therapieangebote für homosexuelle und damals noch als ,Transvestiten‘ bezeichnete transgeschlechtliche Menschen das Institut berühmt. Neben der Aufklärungsarbeit in diesen Bereichen boten die insgesamt über 40 Mitarbeitenden des Instituts außerdem die Behandlung von Geschlechtskrankheiten an.

BELIEBT

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    Hirschfeld (rechts) und sein Lebenspartner Karl Giese.

    Foto von Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V.

    Erste Operationen zur Geschlechtsangleichung

    Vor allem die Behandlung und Beratung von transgeschlechtlichen Menschen macht Hirschfeld bis heute zu einem Pionier der Sexualforschung. Den Begriff ,Transvestit‘, der heute nicht mehr verwendet wird, damals aber bahnbrechend war, prägte er maßgeblich. Dessen Definition entsprach damals eher jener, die heute für Transgeschlechtlichkeit gilt. Als einer der ersten Menschen der Welt erforschte Hirschfeld an seinem Institut außerdem Methoden zur Geschlechtsangleichung und führte diese Operationen auch durch. Eine seiner bekanntesten Patient*innen war die dänische Malerin Lili Elbe. Sie nahm ihre erste geschlechtsangleichende Operation im Jahr 1930 am Institut von Hirschfeld wahr, weitere folgten in der Dresdener Frauenklinik unter der Aufsicht des Arztes Kurt Warnekros, einem Kollegen Hirschfelds.

    Zerstörung des Instituts

    Den Nationalsozialisten passte all das nicht in ihre Ideologie. Sie bezeichneten die Forschung als „sittenwidrig“, idealisierten Heterosexualität und verfolgten Menschen, die anderer Meinung waren. Am 6. Mai 1933 fielen sie in Hirschfelds Institut ein und plünderten die dazugehörige Bibliothek. Unzählige Bücher zur Geschlechter- und Sexualforschung sowie Patienten- und Klinikakten gingen so verloren. Das Institut wurde während der Plünderung zu großen Teilen zerstört. Hirschfeld befand sich zu dieser Zeit bereits im Exil. 

    Bücher aus der Bibliothek des Instituts vor ihrem Abtransport zur Bücherverbrennung am 10. Mai 1933.

    Foto von Bundesarchiv, Inv.-Nr.: Bild 183-R70390

    Verfolgung der LGBTQ-Community durch Nationalsozialisten

    Hirschfeld war nicht der einzige Mensch, der aufgrund seiner sexuellen Identität im von Nationalsozialisten geführten Deutschland unerwünscht war. Laut Angaben des Deutschen Historischen Museums fand während der Herrschaft der Nationalsozialisten die stärkste Verfolgung homosexueller Männer in Deutschlands Geschichte statt. Über 50.000 Männer wurden in dieser Zeit verurteilt, rund 10.000 bis 15.000 kamen in Konzentrationslager. Lesbische Frauen wurden meist unter anderen Gesichtspunkten verfolgt, beispielsweise aufgrund ihrer politischen Haltung oder dem Label der „Asozialität“, ebenso Menschen, die in den Augen der Nationalsozialisten nicht in die Kategorien von ,Mann‘ oder ,Frau‘ passten.

    Im Zuge der Verfolgung verschärfte das NS-Regime 1935 den im Jahr 1871 im Deutschen Kaiserreich eingeführten Paragrafen 175, der „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern unter Strafe stellte: Ab 1935 reichte bereits der Verdacht, schwul zu sein, um zu bis zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt zu werden. Erst im Jahr 2002 hob der Bundestag die Urteile, die auf Grundlage des Paragrafen im Nationalsozialismus ergingen, auf. Im Juli 2017 folgten auch alle Urteile, die nach 1945 gefallen waren.

    Hirschfeld sollte all das nicht mehr mitbekommen. Sein Ziel, das Thema Homosexualität und Transgeschlechtligkeit in die Öffentlichkeit zu bringen und aufzuklären, konnte er zumindest in Deutschland nach dem Einfall der Nationalsozialisten in seinem Institut nicht mehr verfolgen. Nach Aufenthalten in Zürich und Paris starb er im Jahr 1935 genau an seinem 67. Geburtstag an einem Schlaganfall. Sein Partner Karl Giese, der Hirschfeld nach dem Überfall im Mai 1933 ins Exil gefolgt war, beging nur drei Jahre später in Brünn, Tschechien, Suizid – kurz nach dem Anschluss Österreichs. Das Institutsgebäude wurde im Jahr 1943 von den Alliierten zerbombt. 

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