Hausfrau, Regentin, Heilige: Welche Rollen hatten Frauen im Mittelalter?

Mittelalterliche Frauen unterstanden zwar Männern, trotzdem waren viele von ihnen einflussreich, mächtig und außerordentlich bekannt. Heute kennen wir nur wenige berühmte Beispiele. Warum gerieten so viele Frauen in Vergessenheit?

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 30. Apr. 2024, 15:00 MESZ
Illustration: La Cité de Dames. Mehrere Frauen bauen eine Mauer und arbeiten.

Illustration aus dem Buch Cité de Dames von Christine de Pizan. Das Bild zeigt Frauen, die gemeinsam an einer besseren und gerechteren Version der Stadt „bauen“. 

Foto von La Cité des Dames of Christine de Pisan, 1410-1415, Meister der Cité des Dames

Sie kämpften auf ihre Weise gegen Kriegsfeinde, verwalteten Besitz und Ländereien, schrieben Bücher, besetzten hohe kirchliche Ämter und regierten sogar ganze Länder: Frauen hatten im Mittelalter einen nicht zu unterschätzenden politischen und gesellschaftlichen Einfluss. Trotzdem wurden sie in der Geschichtsschreibung häufig übersehen. 

Es sind hauptsächlich männliche Stimmen, die die mittelalterlichen Erzählungen prägen. Deshalb sind uns heute nur vereinzelte berühmte Frauen bekannt – darunter die deutsche Benediktinerin und Universalgelehrte Hildegard von Bingen oder die französische Nationalheldin Jeanne d’Arc. Warum gerieten so viele Frauen des Mittelalters in Vergessenheit? Welche Rollen hatten sie in der Gesellschaft – und wie lauten ihre Geschichten? Ein Blick auf weltverändernde Frauen und Zusammenschlüsse. 

Die Frau des Hauses

„Über nicht-adelige Frauen weiß man heute sehr wenig“, sagt Eva Schlotheuber, Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie forscht bereits seit Jahrzehnten zu Frauenrollen im Mittelalter, vor allem im Rahmen der Klostergemeinschaft. „Das liegt daran, dass die Frauen oft hinter den Männern zurücktreten“, sagt die Historikerin. Doch auch, wenn es wenige Rekonstruktionsmöglichkeiten für Einzelschicksale gibt, sind ihre allgemeinen Lebensrealitäten bekannt. 

Während sich die Männer im Mittelalter um die Aufgaben im ‚Außen‘ kümmerten – zum Beispiel Land und Leute verwalteten, für die Verteidigung oder Saatgutbeschaffung zuständig waren –, waren die Frauen für inneren Verhältnisse im Haus verantwortlich. Dazu zählte sowohl die Versorgung der vielen Mitbewohnenden und Bediensteten als auch die Kindererziehung. Unterschätzen sollte man diese Aufgaben nicht: „Das Haus zu verwalten war für die Infrastruktur der Zeit eine enorme Aufgabe“, sagt Schlotheuber. „Je nach Stand konnte es sich bei den Haushalten um große Gebilde handeln, bei denen den Frauen die Schlüsselgewalt zukam.“ 

BELIEBT

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    Das Bild aus einer Handschrift des Tacuinum Sanitatis – einer Sammlung mehrerer mittelalterlicher Bilderkodizes – zeigt eine Frau bei der Safranernte. Bauersfrauen mussten nicht nur den Haushalt führen und die Kinder erziehen, sondern auch harte Arbeit auf dem Feld leisten. 

    Foto von Gemeinfrei / Wikimedia Commons

    Andere Arbeiten und Handel durften die Frauen ohne Zustimmung ihres Vormunds, meist einem männlichen Familienmitglied, nicht betreiben. Sie galten als nicht rechts- oder geschäftsfähig – es sei denn, sie waren Witwen. Diese waren wiederum voll rechtsfähig. Trotzdem waren viele der Frauen – vor allem in den Städten – auch außerhalb des Hauses tätig. Üblich war, dass sie ihre Männer bei der Arbeit unterstützten, erklärt Historikerin Silke Urbanski in ihrem Aufsatz „Husvrouwen, Mägde, Beginen – die Frauen der Stadt“. War der Mann beispielsweise Handwerker, arbeiteten Frau und Tochter in der Werkstatt mit. War der Mann Bauer, halfen sie bei der Feldarbeit. War der Mann Kaufmann, lenkten die Frauen die Geschäfte, wenn ihre Männer außerhalb der Stadt zu tun hatten. Frauen aus der Mittelschicht waren auch als Bierbrauerinnen oder Hökerinnen tätig – und verkauften mit der Zustimmung ihres Vormunds ihre Waren. 

    Auch politische Positionen und öffentliche Ämter durften Frauen nicht ohne weiteres bekleiden. „Im öffentlichen Raum hatte die Frau nicht per se eine Stimme“, sagt Schlotheuber. In der Gesellschaft wirken konnte sie nur auf zwei verschiedenen Wegen: durch Heiligsprechung oder Heirat – beides legitimierte zum autorisierten Handeln in der Öffentlichkeit. 

    Die Stellung der Frau in der Gesellschaft veränderte sich über die Jahrhunderte der Vormoderne: Im Frühmittelalter überwog der Stand das Geschlecht. Adel berechtigte zur Herrschaft über Land und Leute. Als Mitglied der Königsdynastie wurde jede*r gebraucht und so wurden auch Frauen wichtige Herrschaftsaufgaben übertragen. Im Spätmittelalter verringerte sich ihr Aktionsradius durch gesellschaftliche Entwicklungen allerdings. 

    Mächtige Frauen im Mittelalter: Politische Einflussnahme als Regentin 

    Wer im Frühmittelalter als Tochter eines einflussreichen, adeligen Mannes geboren wurde, hatte ein gutes Startkapital in der mittelalterlichen Welt. Sie hatte Zugang zu Wissen, lernte – häufig im Kloster – lesen und schreiben und konnte unter bestimmten Voraussetzungen sogar Herrschaftsaufgaben übernehmen, sofern Mann oder Sohn verhindert waren. „War der Mann aus dem Haus, hatte die Frau die Zügel in der Hand und vertrat ihn“, sagt Schlotheuber. 

    Da die Königs- oder Kaisertöchter zum Machterhalt der Familien wieder mit einem König oder Fürsten verheiratet wurden, konnte die Frau in der Rolle der Regentin ihren politischen Einfluss im Idealfall sogar ausbauen. Verstarb ihr Mann und gab es keine Söhne im regierungsfähigen Alter, übernahm die Frau als Vormund zunächst sogar die alleinige Herrschaft. 

    Das Wandgemälde aus dem späten 12. Jahrhundert zeigt Eleonore von Aquitanien (links), möglicherweise mit ihrer Tochter Johanna (rechts). 

    Foto von Gemeinfrei / Wikimedia Commons

    So auch Eleonore von Aquitanien, die als mächtige Regentin und eine der einflussreichsten Frauen des Mittelalters in die Geschichte einging. Sie stammte aus dem Haus Poitiers und war qua Geburt um 1124 Herzogin von Aquitanien. Aufgrund ihres Erbes fühlte sie sich laut ihrem Biografen Ralph V. Turner dazu berechtigt, ihr eigenes Reich zu regieren und es gegenüber Eingliederungen – auch durch ihren Ehemann – zu schützen. Selbst nach Versuchen ihres zweiten Ehemanns, Heinrich II., ihre Macht einzuschränken, indem er sie 15 Jahre einkerkern ließ, regierte sie weiter: „Nach Heinrichs Tod im Jahr 1189 lenkte Eleonore von Aquitanien noch 10 Jahre lang die Geschicke für ihre Söhne und nahm so wieder eine bedeutende politische Rolle ein“, sagt Schlotheuber. 

    Frauen im Kloster: Aufnahme in eine mächtige Gemeinschaft 

    Ein anderer Weg, als mittelalterliche Frau zu Macht zu kommen, war die religiöse Karriere in einem Kloster oder einem Stift. „Heiligkeit war der Weg, Autorität im öffentlichen Raum zu bekommen – und damit auch eine Stimme für Frauen“, sagt Schlotheuber. 

    Von den christlichen Anfängen bis ins späte Mittelalter hinein gab es im europäischen Raum Tausende von Frauenklöstern. Diese Frauengemeinschaften waren bis ins 12. Jahrhundert hinein oft mächtige Institutionen mit großen Grundherrschaften und weitreichendem Einfluss, der durch ihre Lebensweise legitimiert wurde. „Dass Gott [die religiösen Frauen] in besonderer Weise erhörte, war auch die Überzeugung der mittelalterlichen Gesellschaft und verlieh ihnen einen hohen Status, der sich politisch und wirtschaftlich, auf jeden Fall gesellschaftlich und kulturell manifestierte“, heißt es im Sachbuch Unerhörte Frauen: Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter der Historikerinnen Eva Schlotheuber und Henrike Lähnemann. Nonnen waren in der mittelalterlichen Gesellschaft also hoch angesehen. 

    Der Wirkungsbereich des Stifts Essen befindet sich grün eingerahmt im linken Bereich der Karte. Die Äbtissin hatte nicht nur Einfluss auf die Stadt selbst, sondern konnte auch in ihrem Umland walten.

    Foto von Gemeinfrei / Wikimedia Commons

    „Wenn Frauen als Äbtissinnen dem Kloster vorstanden, hatten sie die volle Gewalt nach innen“, sagt Schlotheuber. „Sie waren Land- oder Stadtherrinnen sowie Grundherrinnen, sie sprachen Recht und mussten ihrerseits die Verteidigung über den Vogt organisieren.“ Zu ihrer eigenverantwortlichen Entscheidungsgewalt zählte alles, was ihre Territorien betraf. So konnten sie beispielsweise eine Infrastruktur aufbauen lassen, also Städte gründen oder Marktplätze errichten, mussten aber gleichzeitig auch politische Entscheidungen treffen: zum Beispiel, ob sie sich in Fehden beteiligen wollten oder nicht. Die Macht der Äbtissinnen war mit jener männlicher Fürsten vergleichbar. 

    Frauenklöster als geschützte Reflexionsräume

    Äbtissin Mathilde von Essen mit ihrem Bruder Otto. Mathilde gilt als die bedeutendste und einflussreichste Äbtissin in der Geschichte von Essen. 

    Foto von Gemeinfrei / Wikimedia Commons

    Die Frauenklöster waren regelrechte Schlüsselorte der weiblichen Entwicklung im Mittelalter. Geschützt vor der Außenwelt, vor Männern und oftmals arrangierter Heirat, sowie durch die Klausur abgeschlossen nach außen, eröffneten die Klostermauern nach innen ein Gemeinschaftsleben mit großer Autonomie. Die Äbtissin Mathilde von Essen stand sogar unter dem Schutz der höchsten Instanz des Landes: dem Kaiser. Die Plätze in den gesellschaftlich hoch angesehenen Klöstern waren sehr begehrt. Viele adelige Familien gaben ihre Töchter in die Obhut der Institutionen – meistens auf Wunsch der Tochter – und lösten dadurch regelrechte Trends in der Gesellschaft aus: Auch nicht-adelige Mädchen wollten in die Klöster. Es war der einzige Weg für sie, lesen und schreiben zu lernen – und sozial aufzusteigen. Doch nur die fleißigsten und ehrgeizigsten Mädchen ergatterten einen Platz. 

    Über das Leben im Frauenkloster gibt es diverse Aufzeichnungen – von Tagebucheinträgen und Briefsammlungen bis hin zu ganzen Chroniken. Allen kann man entnehmen, dass die Frauenklöster Reflexionsräume für weibliche Perspektiven waren. Während die Männer in der Öffentlichkeit hörbar waren, sprachen die Frauen im Kloster eher nach innen und tauschten sich in ihrer Gemeinschaft über Weltliches und Geistliches aus, diskutierten über verschiedene Modelle weiblicher Lebensführung oder drückten sich literarisch und künstlerisch aus. Viele Gemälde aus dem Mittelalter, die von Frauen gemalt wurden, stammen von Nonnen. Denn: Es war Frauen praktisch nur im Kloster möglich, künstlerischen Bestrebungen nachzugehen, da sie dort von anderen Verpflichtungen wie Kindererziehung und Haushaltsführung entbunden waren. 

    “Die Klöster waren Orte, an denen die Rollenmodelle neu geformt wurden und Frauen eine Alternative zur Heirat geboten wurde.”

    von Eva Schlotheuber
    Professorin für Mittelalterliche Geschichte, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

    „Die Klöster waren Orte, an denen die Rollenmodelle neu geformt wurden und Frauen eine Alternative zur Heirat geboten wurde“, sagt Schlotheuber. Das habe sich auch schnell auf die Gesellschaft übertragen. Wenn einem Mann zum Beispiel klar wurde, dass seine Frau ihn ebenso gut verlassen und mit den Kindern ins Kloster gehen konnte, dann veränderte sich einiges in der Ehe, so die Historikerin. So konnten die Frauengemeinschaften auch Druck auf die Gesellschaft ausüben. Denn: „Immer, wenn sich eine neue Alternative auftut, ergeben sich in der Gesellschaft mehr Freiheiten.“

    Von Bestseller-Autorinnen und Briefwechseln: Frauen als Schriftstellerinnen

    Obwohl viele schriftliche Quellen aus dem Mittelalter von Männern stammen, waren die  Frauen insgesamt näher an der Schrift als die Männer. Doch aufgrund des oftmals nach innen gerichteten Charakters hatten ihre Schriften weniger Überlieferungschancen, sagt Schlotheuber. „Es gibt Handbücher von Müttern für ihre Söhne, Briefe und Tagebücher.“ In ihrem Schreiben drückten sich Frauen aus, gaben ihre Gefühle preis oder versuchten, sich in der Öffentlichkeit zu profilieren und ihre Macht zu behaupten.

    Neben amateurhaften Schreiberinnen gab es auch angesehene Schriftstellerinnen. Darunter Christine de Pizan, eine Französin venezianischer Herkunft. Sie begann zunächst aus Geldnot Lyrik zu verfassen und diese zahlungskräftigen Mäzenen zu widmen, da ihr Mann verstorben war und sie sich allein um ihre Kinder kümmern musste. Anschließend schrieb sie auch Prosa, unter anderem den Bestseller Das Buch von der Stadt der Frauen, das aus der heutigen Perspektive als eines der ersten feministischen Werke gilt. Ihre Texte sind politisch, thematisieren die Misogynie der Männer im Mittelalter, widmen sich vergessenen Frauen und beschreiben eine utopische Welt, in der Frauen die gleichen Rechte wie Männern gewährt werden. 

    Schriftstellerin Christine de Pizan gibt eine Lesung für Männer. 

    Foto von Gemeinfrei / Wikimedia Commons

    Warum verstummten die Stimmen der Frauen?

    Obwohl die meisten Frauen ihre Rolle laut Schlotheuber damals wohl nicht anzweifelten, gab es, wie verschiedene Quellen beweisen, bereits weibliche Rebellion. Diese ging allerdings eher von einflussreichen und gesellschaftlich angesehenen Frauen aus, da ihnen aufgrund ihrer Rolle mehr Gehör zuteil wurde. Trotz dieser mächtigen Frauen und den einflussreichen weiblichen Gemeinschaften in den Klöstern, die bereits ein Fundament für unseren heutigen Feminismus legten, wurden Frauen in der Geschichtsschreibung wenig beachtet – und gerieten zunächst in Vergessenheit. 

    Schuld daran sind historische Entwicklungen – und insbesondere der Fokus der Forschung. Mit dem Investiturstreit im 11. und 12. Jahrhundert, dem Streit zwischen dem Verhältnis weltlicher und geistlicher Macht, und der daraus resultierenden Hierarchisierung  der Gesellschaft wurden die Rollen und Zuständigkeiten neu verteilt – zum Nachteil der Frauen, erklärt Schlotheuber. Die Gesellschaft entwickelte sich im öffentlichen Raum zu einer männlich dominierten. Die Schriften der Frauen, oftmals für die eigene Gemeinschaft verfasst, waren nicht so weit verbreitet wie die der Männer und ihre Überlieferungschancen deshalb geringer. 

    Darüber hinaus wurden später, während der Reformationsbewegung im 16. Jahrhundert, viele Frauenklöster aufgelöst. Dabei gingen zahlreiche weibliche Handschriften verloren. Laut der Historikerin Gisela Muschiol im Podcast „Gelehrte Frauen im Mittelalter – Autorinnen und Dichterinnen“ des Bayerischen Rundfunks (BR) gab es noch eine zweite große Vernichtungswelle von Handschriften: während der Französischen Revolution und Säkularisation. Durch diese Ereignisse gingen die Schriften der Frauen weitestgehend verloren. Zusätzlich sorgten die gesellschaftlichen Entwicklungen fortan dafür, dass männliche Stimmen die Geschichte prägten. So kommt es bis heute dazu, dass anonyme Quellen der Vergangenheit eher männlichen Autoren zugeschrieben werden. 

    Dass die übrig gebliebenen weiblichen Stimmen im Laufe der folgenden Jahrhunderte derart übersehen wurden, liegt allerdings zu großen Teilen an der historischen Forschung. „Da die Frauen nach innen und die Männer nach außen gesprochen haben, sind die Frauen für uns natürlich erst einmal weniger sichtbar. Es sei denn, wir legen gezielt unseren Fokus darauf“, sagt Schlotheuber. Der große Durchbruch in der Forschung sei erst in den 1970er- und 1980er-Jahren gelungen, als die Frauen an die Universitäten kamen. „Sie haben weibliche Perspektiven eingebracht und neue Fragen gestellt“, sagt Schlotheuber. „So wurden ganz neue Forschungsfelder aufgemacht und die weiblichen Stimmen der Vergangenheit hörbar gemacht.“ Es war der Beginn einer neuen Forschungsära, die bis heute ständig neue Quellen ans Licht bringt. 

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