Meinungsfreiheit in Deutschland: Man darf so einiges sagen

40 Prozent der Deutschen haben derzeit das Gefühl, ihre Meinung nicht frei äußern zu dürfen – obwohl die Meinungsfreiheit mit dem Grundgesetz gesichert wird. Wie kommt das Gefühl des „Man darf heute wirklich gar nichts mehr sagen“ zustande?

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 3. Apr. 2024, 15:01 MESZ
Das Grundgesetz auf Glasscheiben.

 Das gläserne Grundgesetz: Die Meinungsfreiheit wird staatlich stark geschützt.

Foto von Michael Rose / CC BY-SA 3.0

Die Meinungsfreiheit feiert in Deutschland gerade ihr 75. Jubiläum – genauso wie die Versammlungsfreiheit. Beide zählen zu den Grundpfeilern unserer Demokratie und sind im Grundgesetz verankert. Konkret bedeutet das: Jede*r hat das Recht, seine*ihre Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten – und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Und: Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. 

Daran scheinen jedoch nicht alle zu glauben: Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach und Media Tenor zur Meinungsfreiheit, die im Dezember 2023 stattfand, haben lediglich 40 Prozent der deutschen Bevölkerung derzeit das Gefühl, unbeschadet frei reden zu dürfen. Es ist der schlechteste Wert seit Beginn der Befragungen im Jahr 1953. 

Dabei entspricht diese Einschätzung nicht der Realität, sagt Rechtswissenschaftler Ralf Poscher vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht: „Es gibt hinsichtlich der Meinungsfreiheit keine Bedrohung durch ‚das System‘“. 

Wie kommt dieses Gefühl also zustande? Und wie frei in unserer Meinungsäußerung sind wir wirklich? 

Grundrechte stehen unter starkem Schutz

Die Meinungs- und auch die Versammlungsfreiheit gehören zu den Grundrechten, die vor Eingriffen durch den Staat schützen sollen. Zum Beispiel darf niemand in Deutschland wegen seiner Meinung verhaftet werden – anders als noch zu DDR-Zeiten oder derzeit zum Beispiel in Russland oder Iran. Die Grundrechte dürfen auch bei einer Verfassungsänderung nicht angetastet werden. 

Artikel 5 des Grundgesetzes sichert die grundlegenden Freiheiten in der Meinungsäußerung und Berichterstattung. 

Foto von Public Domain

Sie stehen staatlich also unter starkem Schutz – und gewähren der Bevölkerung viele Freiheiten. „Sie können schreiben, äußern, sich versammeln – zu allen Themen, die Sie wollen. Und es kommt dabei nicht darauf an, ob ihre Ansichten verfassungskonform sind oder nicht“, sagt Poscher.

Gefühl der Unfreiheit wird vom Rechtspopulismus befeuert

Trotzdem scheint die Mehrheit der Deutschen das Vertrauen in die verfassungsrechtlich gesicherte Meinungsfreiheit zu verlieren. 44 Prozent der Befragten sind laut der Umfrage der Ansicht, sich in der Öffentlichkeit nur noch vorsichtig äußern zu können, besonders wenn es um konservative oder rechtspopulistische Meinungen geht. 2017 waren noch 63 Prozent der Deutschen überzeugt, ihre politische Meinung frei sagen zu können, heute sind es ganze 23 Prozent weniger. Was hat sich seitdem geändert?

In den vergangenen Jahren wurde eine vermeintliche Meinungs-Unfreiheit in Deutschland zum rhetorischen Instrument populistischer Parteien. Erst kürzlich, im Februar 2024, gab es im Bundestag wieder einen öffentlichen Disput über die Meinungsfreiheit, in welchem die in mehreren Bundesländern als rechtsextremistisch eingestufte Partei Alternative für Deutschland (AfD) eine Meinungs-Unfreiheit postulierte. Populistische bis rechtsextreme Parteien nutzen dieses Element in wiederkehrender Weise, um die Demokratie zu delegitimieren und zu destabilisieren. 

Auch in privaten Kreisen wurde das „Heute darf man ja wirklich gar nichts mehr sagen“ in politischen Diskussionen übernommen – obwohl dieses Gefühl faktisch falsch ist. Würde es ernsthaft eine Unfreiheit in der Meinungsäußerung in Deutschland geben, könnte diese niemand mehr einfach so adressieren, ohne staatlich verfolgt zu werden.

BELIEBT

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    Meinungsfreiheit: Was ist erlaubt, was nicht?

    Allein für seine persönliche politische Meinung oder Kritik an der Regierung, wie sie bei der AfD an der Tagesordnung ist, wird hierzulande dementsprechend niemand eingesperrt. „Man darf erstmal die verrücktesten Ideen haben – und diese auch äußern“, sagt Poscher. Man dürfe sich sogar öffentlich für Dinge einsetzen, die verfassungswidrig sind und versuchen, andere argumentativ zu überzeugen. 

    „Der Kampf der Meinungen soll frei bleiben“, erklärt der Rechtsexperte. Deshalb toleriere das Grundgesetz zunächst auch extreme Meinungen einzelner, genauso wie Versammlungen zu verfassungsfeindlichen Themen. So müsse man beispielsweise auch öffentliche Zusammenkünfte von Rechtsextremisten erst einmal dulden, denn einzelne Demonstrationen rührten noch nicht von einer Verfestigung verfassungsfeindlicher Auffassungen. 

    Es gibt also viel Spielraum. Alles darf man trotzdem nicht. „Es gibt Grenzen – unter anderem die Persönlichkeitsrechte einer Person“, so Poscher. Werden diese verletzt, zum Beispiel durch Beleidigung oder Verleumdung, darf staatlich eingegriffen werden. Verboten sind außerdem volksverhetzende Aussagen und Symbole wie der Hitlergruß sowie Aufrufe zu Hass und Gewalt. In Versammlungen ist es darüber hinaus nicht erlaubt, sich uniformiert oder mit Waffen zu zeigen und andere dadurch einzuschüchtern.

    Eingegriffen wird auch dann, wenn das stabile Grundgerüst der Demokratie droht, ins Wanken zu geraten, und sich größere verfassungsfeindliche Gruppierungen bilden. „Wenn sich eine verfassungsfeindliche Meinung nicht im politischen Diskurs abschleift, sondern sich in Organisationen wie Vereinigungen oder Parteien verfestigt und diese kämpferisch und organisiert gegen die Verfassung vorgehen, dann darf man Vereine verbieten – und auch Parteien“, erklärt Poscher. Entschieden würden solche Verbote auf höchster Bundesebene: bei Parteien zum Beispiel durch das Bundesverfassungsgericht. 

    Letzte Generation vs. Bauerndemonstrationen: Wann greift der Staat ein?

    Auch bei Versammlungen kann staatlich eingegriffen werden – zum Beispiel, wenn von ihnen Gefahren ausgehen und die öffentliche Sicherheit bedroht wird. „Das kann natürlich umso eher passieren, wenn sie nicht angemeldet sind – vor allem, wenn man sich dann auf die Straße stellt“, erklärt Poscher auf die Frage, warum die Straßenblockaden der Letzten Generation teils gewaltvoll aufgelöst wurden – die Bauerndemonstrationen aber nicht. „Die Polizei sah in den Aktionen der Letzten Generation häufig eine strafbare Nötigung der Autofahrer*innen“, so Poscher. Dann müsse diese einschreiten, um die Straftat durch die Versammlung zu unterbinden. „Die Gerichte haben allerdings teilweise schon entschieden, dass es sich gar nicht um strafbare Nötigungen gehandelt hat.“

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    Angst vor Meinungsäußerung: Shitstorms in den sozialen Medien

    Von staatlicher Seite aus sind die Menschen also relativ frei, sich auszuprobieren, zu äußern und zu versammeln. Wie lassen sich die schlechten Umfragewerte dann erklären? Poscher sieht deren Ursache eher im medialen und sozialen Umfeld begründet: „Es geht nicht so sehr darum, was die Leute nicht mehr sagen dürfen, weil sonst der Staat gegen sie vorgeht. Es geht eher um die Angst, im Internet und in den sozialen Medien Opfer aggressivster verbaler Angriffe zu werden, wenn man seine Meinung äußert.“ 

    So kommt es mittlerweile vermehrt zu Hasskommentaren oder gar Shirtstorms unter Videos, Posts oder Tweets – vor allem bei Personen, die in der Öffentlichkeit stehen. Wer allerdings rassistische, sexistische oder queerfeindliche Äußerungen – auch Hate Speech genannt – tätigt, muss mittlerweile mit Gegenwind rechnen. Diese Kritik ist keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern Ausdruck einer diversen Gesellschaft, die sich gegen Diskriminierung wehrt. 

    Laut dem Rechtsexperten müsse man dafür sorgen, dass sich die Diskussionskultur auf Facebook, X und Co. verändert. Menschen sollten für eine Meinungsäußerung nicht mehr beleidigt, beschimpft oder verleumdet werden können. „Man muss Netzwerke dazu bringen, Hasskommentare nicht willkürlich zu verbreiten, sondern diese auch einzuschränken und dagegen vorzugehen“, sagt Poscher. 

    Die Regierung ist dazu bereits aktiv geworden: mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Deutschland und dem nunmehr geltenden Digital Service Act der Europäischen Union. Die Gesetze haben zum Ziel, einen sicheren digitalen Raum zu schaffen, in dem die Grundrechte der Nutzer*innen geschützt werden. Wenn es gelingt, die Standards des DSA in den sozialen Netzwerken auch durchzusetzen, könnten sich User*innen künftig wieder wohler fühlen, ihre Meinung in der medialen Öffentlichkeit zu äußern. 

    Fest steht: Man darf in Deutschland so Einiges sagen – aber muss gleichzeitig aushalten können, dass andere die eigene Meinung möglicherweise nicht gut finden. Das gehört zur Meinungsfreiheit und einem offenen Diskurs dazu. Beleidigen lassen muss sich für seine Meinung aber niemand, dafür sorgt eine Grenze: das Persönlichkeitsrecht. 

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