Wie aus Deutschlands Bergbauten schillernde Kultur-Hotspots wurden
Von Kunstinstallationen bis zu Europas größter künstlicher Seenlandschaft – ehemalige deutsche Industriegebiete erfinden sich selbst neu.

Als 1994 der Tetraeder gebaut wurde, sahen viele Einwohner der ehemaligen Industriestadt Bottrop darin wenig mehr als eine Verschwendung öffentlicher Gelder. Mittlerweile ist die circa 50 Meter hohe Stahlpyramide, die auf einer alten Industriehalde errichtet wurde, kaum noch wegzudenken. Bei gutem Wetter ermöglichen die Aussichtsplattformen über dem grauen Schotterbett einen weiten Blick auf die umliegenden Landschaften und Städte.

Bottrop liegt im Ruhrgebiet, dessen Kohle- und Stahlindustrie den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands zwischen den 1930er- und 1980er-Jahren speiste. Mittlerweile ist der Bergbau dort großflächig zum Erliegen gekommen, aber schon längst ist das Ruhrgebiet kein bloßes Industriegrab mehr: Die Region verwandelt ihre alten Industriestandorte in kulturelle Attraktionen und erfindet sich auf diese Weise selbst neu.
Aus Alt mach Neu
Bottrop kann nicht mit Berlins langer Geschichte, mit Kölns spektakulärem Dom oder mit Münchens Oktoberfest mithalten. Trotzdem lockt die Stadt jedes Jahr mehr als eine Million Besucher aus dem In- und Ausland an – Liebhaber von Industrie-Flair ebenso wie Neugierige, die sich ansehen wollen, wie sich Deutschlands ehemalige Produktions- und Fertigungsanlagen für das neue Jahrtausend gewandelt haben. Das liegt hauptsächlich daran, dass das Ruhrgebiet der Hotspot der Europäischen Route der Industriekultur ist. Dieses Netzwerk aus Industrieerbestätten erstreckt sich auf 1.768 Standorten in 13 Ländern.
Wer den Tetraeder – eigentlich das Haldenereignis Emscherblick – zum ersten Mal sieht, weiß vielleicht auf Anhieb nicht so recht, was er von dem sonderbar ästhetischen Bauwerk halten soll. Es wirkt ein wenig so, als hätte man ein modernes Kunstwerk aus dem Büro eines Mathematikers geklaut. Je höher man die Treppen zu den Aussichtsplattformen emporsteigt, desto mehr schwankt und ächzt die Konstruktion. Das ist kein Zufall, wenn man Wolfgang Christ glauben darf, dem Architekten des Tetraeders. Dieses Gefühl der Unsicherheit soll Besucher daran erinnern, wie sich die Bergarbeiter fühlten, die tief in die Kohleschächte hinabstiegen. Wenn man die oberste Plattform erreicht hat, weiß man genau, was er damit meint. Aber die Aussicht ist die Mühe wert. Die karge Mondlandschaft des ehemaligen Bergbaus und die Stahl- und Betonbauten des Kohlekraftwerks stehen im starken Kontrast zum grünen Wald, der sich dahinter erstreckt. (Neben Industrie- und Kulturstandorten hat Deutschland auch eine wilde Seite zu bieten.)


Bottrops goldenes Zeitalter fand in den Achtzigern sein Ende. Mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit suchte die Stadt nach einem Wahrzeichen, das die Vergangenheit widerspiegelte, aber auch nach vorn in die Zukunft blickte. „Wir beschlossen, etwas zu bauen, das in dieser wirtschaftlich und kulturell aufgewühlten Zeit eine Art Anker darstellte“, so Christ. Er entwarf den Tetraeder als Wachturm für die Menschen der Stadt, als ein Symbol der Solidarität und Stabilität.


Erinnerungen an damals
Auch die nahegelegene Bergbaustadt Essen beheimatet einen wichtigen Punkt auf der Europäischen Route der Industriekultur: die Zeche Zollverein, ein Industriedenkmal und ein UNESCO-Welterbe. Der 1986 stillgelegte Komplex erstreckt sich auf etwa 100 Hektar und wurde später zu einem Zentrum für Kunst, Konzerte, Festivals und Sportveranstaltungen umgebaut. In den Gebäuden haben sich mittlerweile Museen, Büros, Restaurants, ein Eislaufplatz, ein öffentlicher Swimmingpool und sogar ein Universitätscampus angesiedelt. Rings um die Gebäude grünen Wiesenflächen und Bäume.


Die Zeichen des Wandels ragen dicht an dicht mit Überresten vergangener Tage empor. Gewaltige Maschinen erinnern an die einstige Nutzung des Geländes und tägliche Touren führen Besucher ins Herz der Gebäude aus dem letzten Jahrhundert. Manche besuchen den die Zeche Zollverein, um sich etwas anzusehen, das sie so noch nie gesehen haben. Viele kommen auch, um sich zu erinnern – Gruben, Kokereien, Zugschienen und alte Bergarbeiterwohnungen scheinen die Zeit unverändert überdauert zu haben. „Ehemalige Bergarbeiter können ihren Kindern und Enkeln hier zeigen, wie hart die Arbeit damals war. Wir hören oft, wie unsere Besucher von der Geschichte ihrer Familie erzählen“, sagt Hannah Lohmann, die Verantwortliche für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Zollvereins. „Die Kohle hat die Region zusammengeschweißt.“
Stadt aus Eisen
Ebenfalls auf der Europäischen Route der Industriekultur steht Ferropolis beim sachsen-anhaltinischen Gräfenhainichen. Das Freilichtmuseum ist vor allem aufgrund seiner gewaltigen Bergbaugeräte wie beispielsweise einen Eimerkettenschwenkbagger bekannt, dessen Spitzname „Mad Max“ schon die Atmosphäre erahnen lässt, die diese eisernen Riesen erzeugen. Zu DDR-Zeiten war das Gelände ein Braunkohlebergbau, dessen Maschinen mit der Stilllegung in den Neunzigern dem Schrottplatz entgangen sind. Mittlerweile ist Ferropolis zu einem beliebten Veranstaltungsort geworden, an dem neben bekannten Künstlern wie den Ärzten, Metallica und Alice Cooper auch jährliche Musikfestivals wie das Melt und With Full Force zu Gast sind. Hinter den Bühnen ragen die gewaltigen Bagger wie eiserne Ungetüme in den Himmel.

Viel zu Seen
Die vielleicht erstaunlichste Transformation machte die Lausitz am östlichen Rand Deutschlands durch. Dort wurden zahlreiche Braunkohletagebauten zu Europas größter künstlicher Seenlandschaft umgewandelt. Einst war die Lausitz eher für ihre kahle, von Bergbaugruben durchzogene Landschaft bekannt. In den Siebzigern wurde dann damit begonnen, die Gruben zu fluten und in Seen umzuwandeln. Mittlerweile erstrecken sich auf dem Gebiet 26 Seen inmitten von Wäldern und einem Radwegenetz. Besucher finden dort gut besuchte Cafés, Campingplätze und Strände sowie Möglichkeiten zum Reiten und Quadfahren.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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