Auf einem verwilderten Friedhof in Berlin tobt das Leben

Der Jüdische Friedhof Weißensee blieb jahrzehntelang fast sich selbst überlassen und wurde so inmitten der Hauptstadt zu einem Zufluchtsort für Wildtiere.

Von Joshua Rapp Learn
Veröffentlicht am 30. Okt. 2019, 13:04 MEZ
Friedhof Weißensee
Der Friedhof Weißensee ist der flächenmäßig größte jüdische Friedhof Europas.
Foto von Pierre Adenis, GAFF, Laif

Still durchquerten Forscher das Backsteintor zum Friedhof Berlin-Weißensee, manchmal bereits nach Sonnenuntergang, und liefen vorbei an den Gräbern berühmter Dichter, Maler und Wissenschaftler. Auf den Grabsteinen prangten zahlreiche Namen historischer Persönlichkeiten. Aber das Team war nicht auf den größten jüdischen Friedhof Europas gekommen, um den Toten einen Besuch abzustatten. Sie waren auf der Suche nach Leben.

Ingo Kowarik, ein Professor für Ökosystemkunde und Pflanzenökologie an der Technischen Universität Berlin, führte 2016 eine der ersten multitaxonomischen Studien auf einem städtischen Friedhof durch.

Die Wissenschaftler dokumentierten mehr als 600 Tier- und Pflanzenarten, die man sonst nur in tiefen Wäldern findet. Unter ihnen befanden sich 64 Arten von Spinnen, 39 Laufkäferarten, fünf Fledermausarten und ein paar seltene Farne. Insbesondere Flechten konnten sich auf dem Friedhof ausbreiten: Die Forscher entdeckten auf den zahlreichen Steinoberflächen 72 Arten der langsam wachsenden Organismen.

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Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass städtische Grabstätten für wilde Tiere tatsächlich noch bessere Zufluchtsorte bieten als Parks: Dort gibt es weniger Besucher und bellende Hunde, außerdem sind sie oft von Mauern und Zäunen umgeben und nachts geschlossen.

„Respekt für die Toten bedeutet auch, den Zustand der Natur zu respektieren, die sich dort entwickelt“, sagt Kowarik, dessen Team seine Ergebnisse im Juni 2016 in „Urban Forestry and Urban Greening“ veröffentlichte. „Es ist bemerkenswert, dass mitten in der Stadt eine ganze Reihe an Waldbewohnern überleben kann.“

Lebendiger Verfall

Der Jüdische Friedhof Berlin-Weißensee wurde im Jahr 1880 angelegt. Der Großteil der dort zur Ruhe gebetteten 116.000 Toten wurde vor dem Zweiten Weltkrieg bestattet. Zu den berühmtesten Namen, die die Grabsteine zieren, gehören der politische Autor Stefan Heym und der impressionistische Maler Leo Lesser Ury. Der Friedhof im ehemaligen Ostberlin überlebte sowohl die Herrschaft der Nationalsozialisten, verfiel nach der Teilung Deutschlands aber zusehends.

„Weil es in Berlin nur noch wenige Juden gab, hat sich fast niemand mehr um den Friedhof gekümmert“, erzählt Kowarik.

BELIEBT

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    Seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 gibt es aber wieder Bemühungen zum Erhalt der Anlage – nicht zuletzt aufgrund von Bestrebungen, den Friedhof auf die Liste des UNESCO-Welterbes setzen zu lassen. Da der Friedhof den Großteil des 20. Jahrhunderts über sich selbst überlassen blieb, konnten sich die Bäume und anderen Pflanzen – von denen einige von Angehörigen im Andenken an die Verstorbenen hinterlassen wurden – fast ungehindert ausbreiten.

    Der etwa 42 Hektar große Friedhof ist in mehr als 100 Abschnitte unterteilt, die sich hinsichtlich Alter, Bewuchs und Bewirtschaftung unterscheiden.

    „Als ich ihn in den Achtzigern zum ersten Mal gesehen habe, war ich überwältigt von dieser Verbindung aus Kultur und Natur“, erinnert sich Kowarik. „An manchen Stellen ist er wie ein Dschungel, aber die Kulturschicht ist immer erkennbar.“

    Friedhöfe als Bindeglied

    Stanley Gehrt ist ein Professor an der Ohio State University und erforscht, wie sich Kojoten an das Leben in urbanen Räumen wie Chicago angepasst haben. Ihm zufolge verdeutlicht Kowariks Studie, wie Kultur und Friedhofsmanagement (oder ein Mangel an selbigem) einen Beitrag zum Naturschutz leisten können.

    Die jüdischen Bereiche der Chicagoer Friedhöfe eignen sich ihm zufolge ebenfalls besonders gut für Wildtiere. Der kulturelle Trend geht zu immer dichter platzierten Gräbern. Dadurch können Unkräuter sich schneller in kleinen Nischen und Bereichen ausbreiten, an die Friedhofsgärtner nur schwer herankommen. Die dicht gesetzten Grabsteine bieten Tieren wie Kojoten und Füchsen zudem auch tagsüber genügend Schutz.

    “Auf dem Friedhof können Tiere in einem stark urbanisierten Bereich Fuß fassen.”

    von STANLEY GEHRT
    OHIO STATE UNIVERSITY

    „Am Ende hat man fast sowas wie ein Oberholz“, sagt Gehrt über die Waldecken in den jüdischen Friedhofssektionen. „Auf dem Friedhof können Tiere in einem stark urbanisierten Bereich Fuß fassen.“

    Das bedeutet, dass Friedhöfe als Bindeglied zwischen den wilden Bereichen in urbanen Landschaften fungieren können – insbesondere, wenn sie sich in der Nähe alter Bahnschienen oder anderer Bereiche befinden, in denen Tiere genug Deckung finden, sagt er.

    Im Falle des Friedhofs Weißensee, der von dicht bebauten Wohngebieten umgeben ist, können die alten Bäume und Dickichte ein Sprungbrett für Vögel darstellen, die durch die Landschaft ziehen, sagt Kowarik.

    Die Forscher beobachteten auf dem Friedhof 44 Vogelarten, darunter auch einige seltene oder gefährdete Arten wie den Gelbspötter, den Grauschnäpper und den Grünspecht.

    Kultureller Reichtum

    Als Gehrt die Kojoten mit Hilfe von GPS-Halsbändern überwachte, entdeckte er, dass Friedhöfe für die Tiere auch noch andere Ressourcen bereitstellen: Die Koreaner und Kariben lassen manchmal kleine Gerichte oder ganze Hühnchen als Opfergaben an die Toten da. Die GPS-Daten zeigten, dass mindestens einer der Kojoten – ein Weibchen – davon ausging, dass diese Opfergaben wohl für ihn bestimmt waren.

    „Sie isst mindestens einmal die Woche koreanisch“, sagt Gehrt.

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    Kowarik zufolge dürfte es auf viktorianischen Friedhöfen in London und nicht mehr genutzten protestantischen Friedhöfen im vorwiegend katholischen Polen ebenfalls ungewöhnliche Pflanzen und Tiere geben. Wie gut sich Friedhöfe allerdings als Zufluchtsorte für Wildtiere eignen, hängt letztlich immer von ihrem Management ab.

    Für Kowarik sorgt die spärliche Pflege des Friedhofs Weißensee aber nicht nur für einen faszinierenden Lebensraum, sondern ermöglicht auch einen anderen Blick auf die Geschichte hinter der Anlage.

    „Man hat den Eindruck, als befände man sich in einer anderen Welt“, sagt er. „Man bekommt so ein Gefühl für den Verlauf der Geschichte.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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