Beluga schwimmt 4.000 Kilometer in die falsche Richtung

Was das gesellige Tier aus der Polarregion ganz allein an der Grenze zu Mexiko trieb, ist Forschern ein Rätsel.

Von Jason G. Goldman
Veröffentlicht am 16. Juli 2020, 14:29 MESZ

Vor der Küste von San Diego wurde ein Beluga mit einer Drohne gefilmt – Tausende Kilometer von seinem eigentlichen Lebensraum entfernt.

Foto von Domenic Biagini

Es war ein milder Freitagmorgen im Juni, als Domenic Biagini, Kapitän für Walbeobachtungstouren und Tierfotograf, sein siebeneinhalb Meter langes Boot mit sechs Kunden an Bord aus der Mission Bay von San Diego steuerte. Der Plan war es, einige Wale zu finden – vielleicht einen Blauwal auf Wanderschaft –, und so funkte er die Tourkapitänin Lisa LaPointe an, um zu fragen, ob sie an diesem Tag schon Wale gesehen hatte.

„Dom, wir haben gerade ein perlweißes, viereinhalb Meter großes Tier gesehen, das keine Rückenflosse hatte“, erinnert er sich an ihren Funkspruch. „Das ist so schneeweiß, wie du’s dir nur vorstellen kannst.“

Es war definitiv kein Blauwal. Auch kein Buckelwal oder Orca oder eine der anderen Arten, die Biagini normalerweise auf einer Walbeobachtungstour sieht. Was sie beschrieb, hörte sich nach einem Beluga an – ein solches Tier sollte aber eigentlich nicht mal in der Nähe kalifornischer Gewässer kommen.

Hunderte Belugas versammeln sich im Lancastersund
Im kanadischen Lancastersund nördlich von Baffin Island versammelten sich bis zu 800 Belugas. Dort bringen sie ihre Kälber zur Welt und reiben ihre abgestorbene Haut an den Steinen ab.

Eine Stunde später funkte LaPointe Biagini erneut an und bestand darauf, dass das gesichtete Tier wirklich ein Beluga war. „Das wird uns niemand glauben, wenn wir keine handfesten Beweise haben“, sagte LaPointe zu Biagini. Sie bat ihn, bei der Dokumentation ihrer Sichtung zu helfen. Also navigierte er zu ihrem Standort, um den Wal mit seiner Drohne zu filmen.

Biagini suchte 45 Minuten lang nach ihm, bevor der Wal nur etwa 180 Meter von seinem Bug entfernt auftauchte. „Ganz ohne Zweifel und unverkennbar tauchte da vor mir ein Belugawal auf“, sagt er. „Das war so bizarr. Dieser Moment war so erstaunlich", dass er sofort in den Wissenschaftsmodus wechselte und mit zittrigen Händen seine Drohne lenkte, um den unerwarteten Besucher zu filmen.

Belugas bleiben für gewöhnlich in den arktischen und subarktischen Gewässern vor den Küsten Kanadas, Grönlands, Russlands, Skandinaviens und Alaskas. Außerdem sind sie sehr gesellige Tiere, die oft in Gruppen schwimmen. Aber der Beluga, den Biagini am 26. Juni filmte, war etwa 4.000 Kilometer von der nächsten bekannten Belugapopulation in Alaska entfernt – und er war ganz allein. Nie zuvor wurde ein Exemplar so weit südlich dokumentiert. Woher es kam und warum, darüber können Forscher nur rätseln.

Schneeweiße Abenteurer

Es ist zwar ungewöhnlich, dass Belugas sich aus ihrem polaren Lebensraum herauswagen, aber gelegentlich kommt es dennoch vor. Im Frühjahr 1940 wurde ein Beluga vor der Küste des Bundesstaates Washington gesichtet. Im Atlantik hat man sie bis hinunter nach Massachusetts und New Jersey beobachtet, während Belugas aus russischen Populationen schon bis nach Japan geschwommen sind. Und 2018 fand sich ein Beluga mit dem Spitznamen Benny in der Themse wieder, wo er Richtung London schwamm.

Dennoch ist es überraschend, dass ein Beluga in Südkalifornien gesichtet wird. In den letzten Jahren wurden in diesen Gewässern zunehmend mehr unerwartete Arten beobachtet, die jedoch in der Regel aus den wärmeren Tropen zu Besuch kommen. Dazu gehören zum Beispiel Plättchenseeschlangen und Hammerhaie, die durch eine Kombination aus Klimawandel und dem Klimaphänomen El Niño nordwärts gedrängt werden.

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BELIEBT

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    Es ist nicht bekannt, was den Wal zu einer so unerwarteten Reise inspiriert hat. Vielleicht „hatte er Lust auf einen Ausflug und ist besonders neugierig, oder er könnte krank und desorientiert sein“, sagt Alisa Schulman-Janiger, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin am Naturhistorischen Museum von Los Angeles.

    Aus Biaginis Drohnenaufnahmen schließen sie und andere Experten jedoch, dass das Tier sich in guter körperlicher Verfassung zu befinden scheint. Als nicht gerade wählerisches Raubtier hätte der Wal kein Problem damit, genügend Nahrung zu finden, auch wenn der kalifornische Speiseplan etwas anders aussieht als zu Hause. „Ich würde gerne glauben, dass er sich auf einem großen Abenteuer befindet“, sagt sie.

    Einsamer Wal auf langer Reise

    Ohne genetische Information oder ein Foto, das sich mit bestehenden Katalogen von Belugas aus Russland oder Alaska abgleichen lässt, „kann man nur vermuten, woher dieser Wal stammt. Da kommen verschiedene Orte infrage“, sagt Kristin Laidre, eine leitende Wissenschaftlerin am Polar Science Center der University of Washington.

    Die nächstgelegene Belugapopulation lebt das ganze Jahr über im Golf von Alaska – weniger als 300 Tiere im Cook Inlet und weitere 20 in der Yakutat-Bucht im Osten. Weltweit gelten Belugas nicht als gefährdete Art, aber die Population im Golf von Alaska wird nach dem US-Gesetz als gefährdet eingestuft. Jährlich schrumpft sie im Schnitt um etwa 2,3 Prozent.

    Ungewöhnlich ist auch, dass dieser Beluga allein unterwegs war. „Belugas sind gesellig, sie sind für gewöhnlich in Gruppen zusammen. Dass ein Exemplar sich so weit vom zentralen Verbreitungsgebiet der Art entfernt – da könnte ich nicht mal raten, warum es nach Kalifornien geschwommen ist“, sagt Laidre.

    Einige Tage, nachdem LaPointe und Biagini den Wal gesehen hatten, tauchte er laut unbestätigten Berichten weiter nördlich wieder auf, in der Nähe der kalifornischen Kanalinseln vor der Küste von Los Angeles. Falls es sich wirklich um denselben Beluga handelt, würde dies darauf hinweisen, dass er umgedreht ist und vielleicht langsam wieder nach Hause zurückkehrt.

    Schulman-Janiger organisiert jährliche Grauwalzählungen in der Region und nimmt an Aktionen teil, bei denen Wale von herrenloser Fischereiausrüstung befreit werden. Sie verfügt über ein „informelles Sichtungsnetzwerk“ entlang der Pazifikküste. Sie hat all ihre Kontakte gebeten, die Augen nach dem einsamen weißen Wal offen zu halten. Zuletzt wurde das Tier womöglich am 30. Juni in der Nähe der Kanalinseln gesichtet. Falls der Wal weiterhin unentdeckt bleibt, werden wir wahrscheinlich nie erfahren, woher er kam – oder warum.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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