Wie viel ist ein Wal wert?

Ökonomen treten für den Schutz der großen Walarten ein, denn sie nehmen unter anderem große Mengen Kohlenstoff auf.

Von Madeleine Stone
Veröffentlicht am 5. Nov. 2019, 11:46 MEZ
Dieser junge Buckelwal ist im Verlauf seines Lebens Millionen von Euro wert, allein durch seine Fähigkeit, ...
Dieser junge Buckelwal ist im Verlauf seines Lebens Millionen von Euro wert, allein durch seine Fähigkeit, Kohlenstoff aufzunehmen, der nach seinem Tod mit ihm zum Meeresboden absinkt.
Foto von Greg Lecoeur, Nat Geo Image Collection

Die größten Walarten der Welt sind mehr als ein evolutionäres Wunder. Durch ihre Fähigkeit, Kohlenstoff aus dem Meer zu sequestrieren, können sie die Menschheit im Kampf gegen den Klimawandel unterstützen – eine Dienstleistung am Ökosystem, die pro Wal Millionen von Euros wert sein könnte. Zu diesem Schluss kommt eine neue Analyse von Wirtschaftswissenschaftlern des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Der Schutz von Sympathieträgern wie Walen wird oft als eine Art Wohltätigkeitsarbeit einzelner Menschen und Regierungen zugunsten der Natur betrachtet. Ein Team von Ökonomen unter der Leitung von Ralph Chami, einem stellvertretenden Direktor des Institute for Capacity Development des IWF, wollte nun die Herangehensweise an den Schutz der Wale grundlegend ändern. Dazu bezifferten sie den Mehrwert, den Wale für den Planeten darstellen, auf den Dollar und Cent genau. Ihre Analyse wurde in einem Artikel dargelegt, der kürzlich in der Fachzeitschrift „Finance & Development“ erschien. Diese Form der Auseinandersetzung ist vollkommen neu.

Kameras an Buckelwalen filmen das Leben der großen Meeressäuger

Die Analyse wurde bislang noch nicht in einem durch Experten geprüften Wissenschaftsmagazin aufgegriffen. Weitergehend bestehen noch wichtige, wissenschaftliche Wissenslücken, die es zu schließen gilt. So ist beispielsweise noch nicht bekannt, wie viel Kohlenstoff ein Wal tatsächlich aufnehmen kann. Basierend auf den Forschungsdaten, die aktuell vorliegen, sind sich die Ökonomen jedoch vollkommen sicher, dass der Schutz der Wale einen finanziell messbaren Mehrwert für den Planeten darstellt.

Chami hofft, dass seine Erkenntnisse das Gespräch mit politischen Entscheidungsträgern anstößt: „Wir müssen uns darauf verständigen, dass Wale ein internationales, öffentliches Gut sind“, sagt er.

Ein natürlicher Kohlenstoffsenker

Große Walarten, zu denen auch die Barten- und Pottwale gehören, unterstützen die Sequestrierung von Kohlenstoff auf verschiedene Weisen. Sie lagern ihn in ihren fett- und proteinreichen Körpern ein, als wären sie riesige, schwimmende Bäume. Wenn ein Wal stirbt und seine Karkasse auf den Meeresgrund absinkt, wird dieser eingelagerte Kohlenstoff für Hunderttausende von Jahren aus dem atmosphärischen Kreislauf entnommen. Sie sind wortwörtlich ein Kohlenstoffsenker.

BELIEBT

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    Eine Studie aus dem Jahr 2010 ging davon aus, dass die acht Bartenwalarten – zu denen auch der Blau-, Buckel- und Minkwal zählt – zusammen annähernd 30.000 Tonnen Kohlenstoff jährlich in Form ihrer Karkassen auf den Meeresgrund befördern. Wenn die Populationen der großen Walarten wieder auf den Stand vor Beginn des kommerziellen Walfangs kämen, prognostizieren die Forscher diesen Kohlenstoffabbau auf 160.000 Tonnen pro Jahr.

    Während ihres Lebens könnten die Wale unter Umständen dank der großen Masse ihrer Exkremente noch mehr tun, um Kohlenstoff umzuwandeln. Bartenwale ernähren sich von winzigen Meereslebewesen wie Plankton und Krill in der Tiefsee, bevor sie zum Atmen und zum Absetzen von Kot und Urin wieder an die Oberfläche kommen.

    Letztere Aktivitäten setzen eine enorme Menge an Nährstoffen im Wasser frei, darunter auch Stickstoff, Phosphor und Eisen. Die Kot-Wellen stimulieren das Wachstum von Phytoplankton bzw. Meeresalgen, die mittels Photosynthese Kohlenstoff aus der Luft filtern.

    Wenn Phytoplankton abstirbt, wird der Großteil seines Kohlenstoffs unter der Wasseroberfläche recycelt. Einige tote Algen sinken jedoch unweigerlich zum Grund ab, was noch mehr Kohlenstoff in die Untiefes des Meeres schickt.

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    Eine weitere Studie aus dem Jahr 2010 fand außerdem heraus, dass die 12.000 Pottwale im Südpolarmeer etwa 200.000 Tonnen Kohlenstoff jährlich aus der Atmosphäre ziehen, da ihre eisenreichen Ausscheidungen das Wachstum und Absterben von Phytoplankton anregen.

    Wie viel Wachstum von Phytoplankton tatsächlich durch Wal-Kot stimuliert wird, ist laut Joe Roman nicht bekannt. Er ist als Naturschutzbiologe an der University of Vermont tätig und erforscht das Phänomen seit Jahren. Daher gingen die Wirtschaftswissenschaftler mit einem „wenn-dann“-Szenario an ihre Analyse heran, meint Chami.

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    Sie stellten die Frage, wie viel Kohlenstoff theoretisch aufgenommen werden könnte, wenn die aktuelle Population großer Walarten weltweit das Wachstum des Phytoplanktons um etwa ein Prozent anregen würde. Dann fügten sie noch die gängige Annahme aus der Forschungsliteratur hinzu, wie viel Kohlendioxid ein Wal bei seinem Tod sequestriert: durchschnittlich rund 33 Tonnen pro Karkasse.

    Unter Berücksichtigung des momentanen Marktpreises für Kohlendioxid bezifferten die Ökonomen dann die Summe des finanziellen Werts der Kohlenstoffaufnahme der Meeressäuger und addierten weitere wirtschaftliche Faktoren hinzu, wie beispielsweise den Ökotourismus.

    Alles in allem gehen Chami und seine Kollegen davon aus, dass jeder dieser sanften Riesen im Verlauf seines Lebens etwa 2 Millionen Dollar (1,8 Millionen Euro) wert ist. Die weltweite Walpopulation? - Rund eine Billion Dollar an Vermögen für die Menschheit.

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    Foto von Paul Nicklen, Nat Geo Image Collection

    Keine Lösung, aber eine neue Herangehensweise

    In den Weltmeeren schwimmen aktuell ca. 1,3 Millionen große Wale. Wenn wir ihre Anzahl wieder auf das Niveau vor Beginn des kommerziellen Walfangs anheben könnten – man geht von 4 bis 5 Millionen Tieren aus – würden die Walriesen laut Berechnung der Wirtschaftswissenschaftler gut 1,7 Milliarden Tonnen Kohlenstoff jährlich aufnehmen. Das ist mehr als der jährliche Kohlenstoffausstoß von Brasilien.

    Es ist jedoch nur ein Bruchteil der 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid, die die Menschheit jedes Jahr in die Luft bläst. Und selbst mit den strengsten Schutzmaßnahmen könnte es Jahrzehnte dauern, bis die Populationen der großen Walarten wieder erholen. Eventuell ist dies durch den menschlichen Einfluss auf die Ozeane auch gar nicht mehr möglich.

    „Wir wollen das Konzept nicht als Allheilmittel verkaufen“, erklärt Steven Lutz, Leiter des Blue Carbon Programs bei GRID-Arendal, einer norwegischen Stiftung, die mit dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen zusammenarbeitet. „Wir retten nicht das Klima, indem wir die Wale retten.“

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    Für Lutz sind die blanken Zahlen der Analyse weniger interessant als diese vollkommen neue Herangehensweise an den Schutz von Wildtieren: Man betrachtet die Tiere nun unter am Aspekt des finanziellen Werts, wenn sie am Leben bleiben. Gerne würde er diese Rahmenbedingungen auch auf kohlenstoffreiche Ökosysteme wie Seegraswiesen und andere Gruppen von Meeresorganismen wie Fische übertragen.

    „Wir betrachten den Wal-Kohlenstoff als Spitze des Eisbergs in Sachen Kohlenstoff im Meer“, meint Lutz.

    Vielleicht könnte die Herangehensweise über den finanziellen Mehrwert auch auf Landtiere übertragen werden. So geht beispielsweise eine kürzlich in „Nature Geoscience“ veröffentlichte Studie davon aus, dass Waldelefanten im Kongobecken ihren Regenwaldlebensraum dabei unterstützen, Milliarden von Tonnen an Kohlenstoff zu sequestrieren.

    Fabio Berzaghi, ein Wissenschaftler am Laboratory of Climate and Environment Sciences in Frankreich und leitender Autor dieser Studie, ist der Meinung, dass die Analyse des IWF einen „extrem wichtigen“ Punkt über große Wildtiere anspricht: Das ihr Dienst am Ökosystem „allen zugutekommt.“

    „Für mich ist das ein hervorragender erster Schritt zur Erkenntnis, dass sie Dienstleistungen erbringen und diese Dienstleistungen auch etwas wert sind“, sagt Berzaghi. „Unter Umständen auch eine Menge Geld.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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