Ist dieses Nano-Chamäleon das kleinste Reptil der Welt?

Die neu beschriebene Art B. nana ist nur so groß wie ein Sonnenblumenkern. Sein Lebensraum in Madagaskar schwindet bereits rapide.

Von Jason Bittel
Veröffentlicht am 3. Feb. 2021, 13:35 MEZ
Brookesia nana

Ein weibliches Chamäleon der Art Brookesia nana in Madagaskar. B. nana ist wahrscheinlich das kleinste Reptil der Erde.

Foto von Frank Glaw, Zoologische Staatssammlung München

Wissenschaftler haben in einem Regenwaldbereich im Norden Madagaskars eine winzige neue Chamäleonart entdeckt. Dieses sogenannte Nano-Chamäleon ist etwa so groß wie ein Sonnenblumenkern und passt auf eine Fingerspitze. Damit ist es möglicherweise das kleinste Reptil der Erde.

Offiziell heißt die neue Art Brookesia nana, kurz B. nana. Sie ist so winzig, dass sie sich vermutlich von Milben und Springschwänzen ernährt, die sie in der Laubstreu jagt.

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„Wir haben auf den ersten Blick erkannt, dass es sich um eine wichtige Entdeckung handelt“, sagt Andolalao Rakotoarison, ein madagassischer Herpetologe und Mitautor der neuen Studie, die in „Nature“ veröffentlicht wurde.

Der Fund eines so kleinen Reptils wirft interessante Fragen über die Minimalgrenzen der Körpergröße bei Wirbeltieren auf. Er verdeutlicht aber auch die erstaunliche – und stark gefährdete – Artenvielfalt Madagaskars. Wissenschaftler vermuten, dass das Chamäleon bald als vom Aussterben bedroht eingestuft wird.

Schutz im hohen Gras

Wie andere Chamäleons besitzt auch dieses winzige Reptil eine Schleuderzunge, mit der es Beute schnappt. Die Tiere haben in ihrem heimischen Lebensraum eine erfolgreiche Nische gefunden, jagen tagsüber auf dem Regenwaldboden und ziehen sich nachts auf die Grashalme zurück.

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    Ein männliches Chamäleon der Art Brookesia nana auf der Fingerspitze eines Forschers. Die Tiere sind etwa so groß wie ein Sonnenblumenkern.

    Foto von Frank Glaw, Zoologische Staatssammlung München

    Wenn sich ein größeres Raubtier in der Dunkelheit anpirscht, warnen die Bewegungen der Grashalme das Chamäleon vor der Gefahr. Dann lässt es sich einfach ins Unterholz fallen, sagt Mark Scherz, ein Evolutionsbiologe an der Universität Potsdam in Deutschland und Mitautor der Studie.

    Bislang haben Wissenschaftler nur zwei Individuen der Art beobachtet: ein Männchen und ein Weibchen, die beide 2012 bei einer Expedition in die kühlen, verregneten Berge des Sorata-Massivs gefangen wurden.

    Forscher vermuten, dass B. nana das kleinste Reptil der Welt sein könnte. Sein nächster Konkurrent ist ein Tierchen namens Brookesia micra. Die winzige Chamäleonart gab 2012 ihr Debüt – fotografiert auf dem Kopf eines Streichholzes.

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    „Es fühlt sich ein wenig albern an, zu sagen: Oh, das hier ist ein paar Millimeter kleiner als das andere“, sagt Scherz. „Aber wenn diese Millimeter zwei oder drei Prozent der Körpergröße ausmachen, dann ist das eine großer Unterschied.“

    „Das meiste in der Wissenschaft geschieht in diesen kleinen Schritten“, fügt Scherz hinzu.

    Die Tatsache, dass bislang nur zwei Individuen gefunden wurden, macht es schwierig, die Ergebnisse zu verallgemeinern. Es ist möglich, dass andere Chamäleons dieser Art größer oder kleiner sind, so wie Menschen unterschiedlich groß sein können. Tatsächlich wissen Forscher bereits, dass Chamäleons in dieser Familie dazu neigen, größere Weibchen und kleinere Männchen zu haben, was als sexueller Dimorphismus bezeichnet wird.

    Es ist auch schwierig zu bestimmen, wann ein so kleines Tier wirklich erwachsen ist, sagt Scherz. Glücklicherweise fand er bei einem Micro-CT-Scan des Weibchens Hinweise auf Eier in den Eierstöcken. „Ich rannte nach oben und sagte: Schaut mal, da haben wir den Beweis“, erinnert er sich.

    Die Altersbestimmung von männlichen Chamäleons ist etwas schwieriger und erfordert eine genaue Untersuchung der Genitalien der Tiere. Als Jungtiere sehen die Genitalien der Männchen – bekannt als Hemipenes – ein wenig wie glatte Ballons aus, aber mit dem Alter wird ihre Form komplexer. Da dieses Männchen keinen „glatten Ballon“ hatte, ist es wahrscheinlich kein Jungtier, sagt Scherz. Die kleinsten Chamäleons haben relativ große Genitalien im Vergleich zu verwandten Arten mit größeren Körpern, fügt er hinzu.

    „Das Weibchen ist mit Sicherheit erwachsen“, sagt Tony Gamble, ein Evolutionsbiologe, der an der Marquette University über Zwerggeckos forscht, aber nicht an der Studie beteiligt war. „Und es scheint so, als sei das Männchen wahrscheinlich ebenfalls adult.“

    Wie klein können Tiere werden?

    Abgesehen von seiner Niedlichkeit wirft die Entdeckung einer weiteren winzigen Chamäleonart laut Wissenschaftlern alle möglichen Fragen über die Größengrenzen bei Wirbeltieren auf.

    B. nana sei zum Beispiel viel kleiner als die kleinsten Vögel oder Säugetiere, sagt Scherz – aber es gebe Frösche, die noch kleiner seien.

    Irgendwann ist jedoch die Grenze der Kleinheit erreicht. Ein Teil des Problems sei die Oberfläche, sagt Gamble. Es mag kontraintuitiv erscheinen, aber kleinere Lebewesen haben tatsächlich oft ein größeres Verhältnis von Oberfläche zu Volumen als große Lebewesen. Und je größer dieses Verhältnis ist, desto anfälliger ist ein Tier für Wasserverlust.

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    „Es scheint auch eine Grenze dafür zu geben, wo man all das Zeug unterbringen kann, das man hat“, sagt Gamble. Viele kleine Lebewesen haben reduzierte Schädelgrößen oder überlappende Knochen, und einige verlieren im Laufe der Evolution ganze Strukturen.

    „Das ist so, als würde man von einem großen Haus in eine kleine Wohnung umziehen, ohne etwas auszusortieren. Das ganze Zeug muss irgendwo hin“, sagt Gamble.

    Düstere Aussichten für B. nana

    Leider sieht die Zukunft des winzigen Chamäleons düster aus. Der Bergwald, in dem die Reptilien vorkommen, ist bereits stark geschädigt, sagt Rakotoarison.

    Viele Menschen in dieser Region können es sich nicht leisten, Reis oder Fleisch zu kaufen, sagt Scherz. Armut und Bevölkerungswachstum haben dazu geführt, dass Regenwälder gerodet werden, um Platz für Landwirtschaft und Viehzucht zu schaffen. Die Abholzung betrifft laut NASA rund 94 Prozent der ehemals bewaldeten Flächen Madagaskars.

    Mit ihrem kleinen Verbreitungsgebiet und der Bedrohung ihres Lebensraums ist die neue Chamäleonart ein Kandidat für den Status „vom Aussterben bedroht“, der von der Weltnaturschutzunion vergeben wird. Die gute Nachricht ist, dass das Sorata-Massiv kürzlich in ein neues Schutzgebiet in Madagaskar aufgenommen wurde.

    „Es ist schön und gut, zu sagen: Ich hoffe wirklich, dass die Menschen aufhören, diesen Wald abzuholzen“, sagt Scherz. „Aber solange sich die wirtschaftliche Zukunft Madagaskars nicht ändert, gibt es keine Hoffnung für die Tierwelt, denn die Menschen müssen essen.“

    In der Zwischenzeit erinnert jede neue Spezies sowohl die Wissenschaftler als auch die Öffentlichkeit daran, dass Madagaskar eine enorm artenreiche Insel ist, so Gamble.

    „Jedes Mal, wenn so etwas entdeckt wird, heißt es: Wow, ich schätze, [Lebewesen] können noch ein bisschen kleiner werden“, sagt er. „Ich glaube, das ist es, was Geschichten wie diese in unserer Vorstellungskraft ganz weit vorne hält.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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