Tibet: Warum der Schwarzlippige Pfeifhase ein Überlebenskünstler ist
Schwarzlippige Pfeifhasen graben unterirdische Gangsysteme im Hochland von Tibet. Dadurch lockern und durchlüften sie den Boden.
Viele Menschen empfinden den Winter als unangenehm. Im Tierreich ist die richtige Strategie im Umgang mit der kalten Jahreszeit sogar eine Frage des Überlebens. Um den tiefen Temperaturen und dem Nahrungsmangel zu entgehen, entscheiden sich Tiere meist für eine dieser zwei Möglichkeiten: Migration oder Winterschlaf. Pfeifhasen tun keins von beidem.
Die nagetierartigen Säugetiere, die auch Pikas genannt werden und wie eine Mischung aus Meerschweinchen und Kaninchen aussehen, können je nach Spezies eine Körperlänge von 13 bis 30 Zentimetern erreichen. Die rund 30 bekannten Arten sind in Nordamerika und Asien beheimatet. Im Westen der USA und Kanadas lebt der Amerikanische Pfeifhase, der dafür bekannt ist, im Sommer Pflanzen an der Wurzel abzunagen und sie in der Sonne trocknen zu lassen, bevor er sie als Wintervorrat in seinem Bau verstaut. Diese Futterdepots können bis zu sechs Kilogramm Heu umfassen.
Auch sein asiatischer Verwandte, der Schwarzlippige Pfeifhase, legt Vorräte an. Doch in seiner Heimat, der Qinghai-Tibet-Hochebene im Nordwesten Chinas, hat er mit besonders harten Wintern zu kämpfen. In der trockenen, windumtosten Steppe herrschen zu dieser Jahreszeit regelmäßig Temperaturen von um die minus 29 Grad Celsius. Wie die Schwarzlippigen Pfeifhasen durch den rauen Winter kommen, war lange ein Rätsel, denn anders als andere Tiere, die in kalten Regionen zu Hause sind, bauen Pikas keinen Winterspeck auf, legen nicht an Gewicht zu und halten auch keinen Winterschlaf.
Ungewöhnliche Form der Koprophagie
Dreizehn Jahre der Forschung waren nötig, bis Wissenschaftler endlich das Geheimnis um das Überleben der Pfeifhasen auf der Hochebene lüften konnten. Ihre Winterstrategie besteht aus zwei Komponenten: Zum einen verlangsamen sie ihren Stoffwechsel, zum anderen erweitern sie ihren regulären pflanzenbasierten Speiseplan um Yak-Kot, der wertvolle unverdaute Nährstoffe enthält. So erwartbar die Verlangsamung des Stoffwechsels war, weil dadurch weniger Kalorien aufgenommen werden müssen, so sehr überraschte die Forscher der zweite Aspekt.
„Keiner, dem wir davon erzählt haben, wollte uns am Anfang glauben, dass Pikas den Kot von Yaks fressen“, sagt John Speakman, Physiologe an der University of Aberdeen und Leiter einer neuen Studie, die in der Zeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ erschien. „Wir haben aber inzwischen so viele Beweise, dass kein Raum für Zweifel bleibt.“
Das Fressen von Fäkalien wird als Koprophagie bezeichnet. Lebewesen, die dieses Verhalten an den Tag legen, werden in zwei Untergruppen aufgeteilt: Autokoprophagen fressen die Ausscheidungen von Tieren ihrer eigenen Art, Allokoprophagen die anderer Tierarten. Zu letzterer Gruppe zählen beispielsweise Milben, Fadenwürmer und Mistkäfer, bei Wirbeltieren kommt dieses Verhalten nur äußerst selten vor. John Speakman vermutet, dass Pikas den Kot der Yaks fressen, weil dieser in großer Menge verfügbar und ohne große Anstrengung zu finden ist. So sparen sie bei der Futtersuche Energie und reduzieren das Risiko, von Angreifern wie dem Wanderfalken und dem Tibetfuchs bemerkt zu werden.
Mehr als 300 Pikas können nicht irren
Der Auslöser zu seinen Forschungen war ein zur Hälfte aufgefressener Yak-Kotfladen, den John Speakman 2009 im Bau eines Schwarzlippigen Pfeifhasen fand. Seine Neugier war sofort geweckt. „Ich fand das sehr seltsam und konnte mir den Fund nur so erklären, dass die Pikas das Zeug fressen.“ Ein Jahr später verendeten zwei Pfeifhasen ungewollt in einer Falle. Ihr Mageninhalt wurde untersucht und es fanden sich Spuren von Yak-Kot.
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Zur Bestätigung seiner Theorie führten John Speakman und seine Kollegen weitere Untersuchungen durch. Sie analysierten den Mageninhalt von mehr als 300 Schwarzlippigen Pfeifhasen, die im Rahmen einer anderen Studie in den Jahren 2018 und 2019 gesammelt worden waren. In 22 Prozent der Proben konnte Yak-DNA nachgewiesen werden. John Speakman schätzt aber, dass die Zahl eigentlich viel höher sein müsste, da DNA zerfällt, sobald sie mit den Ausscheidungen der Sonne ausgesetzt ist.
In einer weiteren Testreihe konnte belegt werden, dass die Zusammensetzung des Mikrobioms der Pikas sich im Winter dem der Yaks angleicht: Ein Hinweis darauf, dass die Pfeifhasen mit dem Yak-Kot nützliche Bakterien aufnehmen. Zusätzlich gelang es den Wissenschaftlern in den Jahren 2017 und 2018 viermal, die Pikas auf der Hochebene beim Fressen von Yak-Kot zu filmen.
In der Summe beweisen all diese Ergebnisse und Beobachtungen deutlich die Allokoprophagie der Schwarzlippigen Pfeifhasen. Sie könnte außerdem auch der Grund dafür sein, warum die Populationen der Tiere dort, wo Yaks leben, besonders groß sind.
Laut John Speakman sind die Pikas in den Augen der Hirten in diesem Gebiet allerdings Parasiten, die ihrem Vieh das Futter wegfressen. Deswegen vergiften sie sie zu Millionen.
„Doch das ändert sich langsam. Man testet jetzt, ob die Population mit Verhütungsmitteln statt mit Gift unter Kontrolle gebracht werden kann – das ist auch für andere Arten weniger gefährlich“, sagt Speakman.
Sind alle Pfeifhasen Allokoprophagen?
„Ich halte jetzt seit 30 Jahren Vorträge über Pikas. Bei jedem erzähle ich, dass der Amerikanische Pfeifhase auch Murmeltierkot in seinen Heuhaufen sammelt und jedes Mal hoffe ich, dass jemand im Publikum mir erklären kann, wieso er das tut“, sagt Chris Ray, Ökologin an der University of Colorado in Boulder.
Bisher gibt es noch keine Beweise für Parallelen zwischen der Koprophagie der asiatischen Schwarzlippigen Pfeifhasen und dem Verhalten der Amerikanischen Pfeifhasen. Doch Chris Ray hat die Studie neu über die potenzielle Bedeutung des Murmeltierkots für den Amerikanischen Pfeifhasen nachdenken lassen – eine Spezies, deren Population aufgrund der steigenden Temperaturen im Westen Amerikas immer kleiner wird.
„Ich lebe hoch oben in den Rocky Mountains, also weiß ich, wie kalt die Winter hier sind und wo die Pikas ihr Habitat haben. Es war mir immer ein Rätsel, wie sie es schaffen, zu überleben.“
Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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