Empathische Ratten könnten bei Erforschung von Psychopathie helfen

Bei Menschen und Nagetieren wird empathisches Verhalten durch ähnliche Strukturen im Gehirn gesteuert.

Von Liz Langley
Veröffentlicht am 9. März 2020, 12:27 MEZ
Ratten und Menschen vermeiden es tendenziell, ihren Artgenossen Schaden zuzufügen. Bei beiden wird dieser Impuls im ...
Ratten und Menschen vermeiden es tendenziell, ihren Artgenossen Schaden zuzufügen. Bei beiden wird dieser Impuls im Gehirn durch die Gürtelwindung (Gyrus cinguli) gesteuert.
Foto von Vincent J. Musi, Nat Geo Image Collection

Ratten haben im Allgemeinen noch immer denselben schlechten Ruf wie vor Jahrhunderten. Auch ihre relativ neue Beliebtheit als Haustier konnte daran bisher wenig ändern.

Dabei haben frühere Studien durchaus liebenswürdige Charakterzüge der Nager offenbart: Sie helfen Artgenossen in Not und erinnern sich sogar an spezifische Ratten, die ihnen geholfen haben – und erwidern den Gefallen.

Eine Studie aus dem März 2020, die in „Current Biology“ erschien, setzt diesen thematischen Trend fort: Sie offenbarte, dass Ratten es vermeiden, ihren Artgenossen zu schaden.

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Für das Experiment wurden die Nager darauf trainiert, kleine Hebel zu betätigen, um ein leckeres Zuckerpellet zu erhalten. Wenn der Hebel ihren Käfignachbarn aber einen kleinen elektrischen Schlag versetzte, hörten einige der Ratten auf, ihn zu betätigen, und benutzten stattdessen einen anderen.

Es zu vermeiden, anderen Schaden zuzufügen, ist eine gut erforschte Eigenschaft des Menschen, die im Gehirn vom vorderen Teil der Gyrus cinguli oder Gürtelwindung reguliert wird – ein Teil des limbischen Systems. Weitere Experimente haben gezeigt, dass die Gürtelwindung dieses Verhalten auch bei Ratten steuert. Damit konnten die Forscher zum ersten Mal bei einem nicht-menschlichen Tier nachweisen, dass dieser Teil des Gehirns für die Kontrolle der Schadensvermeidung notwendig ist.

Diese Gemeinsamkeit von Ratten- und Menschenhirnen „ist aus zweierlei Gründen sehr spannend“, sagte der Co-Autor der Studie Christian Keysers vom niederländischen Institut für Neurowissenschaften. Sie deutet zum Beispiel darauf hin, dass die Schadensvermeidung tief in der evolutionären Entwicklungsgeschichte von Säugetieren verwurzelt ist.

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Außerdem könnte der Befund auch Implikationen für Menschen haben, die unter Persönlichkeitsstörungen wie Psychopathie und Soziopathie leiden. Bei ihnen ist die Gürtelwindung von einer Fehlfunktion betroffen.

„Derzeit haben wir keine wirksamen Medikamente, um gewaltsames Verhalten im antisozialen Bevölkerungsteil zu verringern“, sagt Keysers. Wenn man herausfinden könnte, wie man bei solchen Patienten die Aversion gegen die Schädigung anderer Menschen steigern könnte, wäre das ein wertvolles Werkzeug.

Menschen und Ratten: Gar nicht so unähnlich

Für das erste Experiment trainierten Keysers und sein Team 24 männliche und weibliche Ratten dazu, zwei verschiedene Hebel zu betätigen, um eine Nahrungsbelohnung zu erhalten. Das taten sie so lange, bis die Tiere eine Präferenz für einen der Hebel entwickelt hatten. An diesem Punkt veränderten die Wissenschaftler dann den Aufbau des Experiments: wenn eine Ratte ihren bevorzugten Hebel betätigte und ihre Belohnung erhielt, erhielt eine Ratte im Nachbarkäfig einen kleinen elektrischen Schlag.

Neun der Ratten, die ihre Artgenossen aus Protest quieken hörten, wechselten daraufhin zu dem anderen Hebel, der ihnen ebenfalls eine Belohnung verschaffte.

Die Ratten in der Studie reagierten auf unterschiedliche Weise auf das Experiment, was Keysers überraschte. Eine der Ratten rührte beispielsweise nach dem ersten Schock keinen der beiden Hebel mehr an, offenbar erschüttert vom Schicksal ihres Käfignachbarn. Andere Ratten schien das Ganze überhaupt nicht zu kümmern. Solche Unterschiede „sind ebenfalls spannend, weil sie darauf hindeuten, dass es bei Ratten ähnliche individuelle Unterschiede gibt wie bei Menschen.“

Und genau wie bei Menschen hatte auch die Empathie der Ratten ihre Grenzen. Als das Experiment wiederholt wurde – diesmal mit einer Belohnung von drei Pellets –, wirkte sich das auf die Reaktion der Ratten aus. Jene Tiere, die zuvor die Hebel gewechselt hatten, um ihre Nachbarn nicht zu schädigen, taten das nun nicht mehr.

„Das fand ich amüsant, aber es hat auch so etwas Ehrliches und Wahrhaftiges an sich“, sagt Peggy Mason, eine Neurobiologin an der University of Chicago, die an der Studie nicht beteiligt war.

Für den zweiten Teil des Experiments nutzten Keysers und sein Team Anästhetika, um den vorderen Teil der Gürtelwindung temporär zu betäuben. Bei einer Wiederholung des Experiments halfen diese betäubten Ratten ihre Nachbarn nicht mehr.

Egoismus oder Altruismus?

Insgesamt werfen diese Ergebnisse die Frage auf, ob die Ratten egoistisch handeln – ob sie sich also beispielsweise einfach selbst beruhigen wollen – oder ob sie tatsächlich versuchen, ihren Nachbarn zu helfen.

Die Ratten, die die Hebel wechseln, „haben ein für sie unangenehmes Erlebnis durch die Beobachtung [ihrer Käfignachbarn]“, sagt Mason. „Wir sind grundlegend Säugetiere, genauso wie Ratten. Unsere Motivationen unterscheiden sich deshalb wahrscheinlich nicht so sehr voneinander.“

Jeffrey Mogil, ein auf Sozialwissenschaften spezialisierter Neurowissenschaftler der McGill University in Kanada, findet diese Debatte ebenfalls spannend. Handeln die Ratten „wirklich altruistisch, oder versuchen sie nur, ihr eigenes Leid zu mindern, weil sie nervös werden, wenn sie sehen, wie andere Ratten Elektroschocks erhalten? Wenn sie also aufhören, helfen sie dann der anderen Ratte oder helfen sie sich selbst?“

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Eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist, sagt Keysers. Allerdings merkt er an, dass die Gründe, aus denen Menschen Gutes tun, ebenso komplex sind.

Was auch immer die Motivation ist – er findet es faszinierend, dass der Impuls, die Schädigung anderer zu vermeiden, mindestens 93 Millionen Jahre alt ist. Zu diesem Zeitpunkt lebte der letzte gemeinsame Vorfahre von Ratten und Menschen. Tatsächlich ähneln sich Menschen und Ratten noch auf vielerlei andere Weise. Genau wie Menschen können Ratten Drogenabhängigkeiten entwickeln, sind sich ihres eigenen Wissens bewusst (ein Konzept, dass man als Metakognition bezeichnet) und werden gewalttätig, wenn sie auf zu engem Raum mit zu vielen Artgenossen leben müssen.

In einer Welt voller Konflikte „ist es vielleicht beruhigend, dass es in unserer Biologie etwas so Altes gibt“, das zum Erhalt des Friedens beiträgt.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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