Fortpflanzung ohne Männchen: Parthenogenese beim Kalifornischen Kondor

In einer Zuchtstation in Kalifornien wurden zwei der bedrohten Tiere ohne Paarung gezeugt. Eine solche Jungferngeburt ist bei Wirbeltieren extrem selten. Könnte sie ein Versuch der Natur sein, die Spezies zu retten?

Von Jason Bittel
Veröffentlicht am 3. Nov. 2021, 09:46 MEZ, Aktualisiert am 3. Nov. 2021, 11:08 MEZ
Seit der Kalifornische Kondor in den Achtzigerjahren in freier Wildbahn als ausgestorben galt, hat sich sein ...

Seit der Kalifornische Kondor in den Achtzigerjahren in freier Wildbahn als ausgestorben galt, hat sich sein Bestand langsam wieder erholt.

Foto von ZSSD, Minden Pictures

„Mit diesen Kondor-Daten stimmt etwas nicht.“

Das waren nicht die Worte, die Oliver Ryder, Leiter für Naturschutzgenetik bei der San Diego Zoo Wildlife Alliance, am Ende eines langen Arbeitstages gerne hörte. Seine Aufgabe ist der Erhalt und die Erforschung des Kalifornischen Kondors – einer der am stärksten bedrohten Tierarten unseres Planeten. Nachdem ihn seine Kollegin Leona Chemnick allerdings im Detail über die Unregelmäßigkeiten im Datensatz aufgeklärt hatte, war sein anfängliches Entsetzen einem Gefühl der Faszination gewichen.

Seit Jahrzehnten bemühen sich Wissenschaftler darum, den Kalifornischen Kondor vor dem Aussterben zu bewahren. Im Jahr 1982 waren nur noch 22 Tiere übrig, in der freien Wildbahn galt die Art als ausgestorben. Mithilfe der Zucht in Gefangenschaft und späterer Freilassung in die Natur wuchs die Population bis 2019 auf insgesamt über 500 Individuen in Gefangenschaft und Freiheit an.

Insbesondere in Hinblick auf die Entscheidung, welche Männchen und Weibchen für die Paarung ausgewählt werden, unterliegt der Zuchtprozess strengen Kontrollen. Diese sind jedoch nötig, damit aus dem Programm möglichst viele gesunde Jungtiere hervorgehen. Umso größer war die Verwirrung, als die Daten der Genanalyse zweier Männchen mit den Zuchtbuchnummern SB260 und SB517 keinerlei genetische Ähnlichkeit mit den Vögeln aufwiesen, die eigentlich als ihre Väter ausgewählt worden waren.

Ein Kalifornischer Kondor in einer Zuchteinrichtung der San Diego Zoo Wildlife Alliance.

Foto von Ken Bohn, San Diego Zoo Wildlife Alliance

Wie es dazu kommen konnte, erklärt eine Studie, die im Oktober 2021 in der Zeitschrift Journal of Heredity erschien.

Der Studie zufolge ist es bei den Kalifonischen Kondoren zu einer fakultativen Parthenogenese gekommen, die auch Jungfernzeugung genannt wird. Dabei übernehmen bestimmte Zellen in dem unbefruchteten Ei des weiblichen Tieres die Funktion von Spermien und verschmelzen mit der Eizelle: Neues Leben entsteht – und das völlig ohne Paarung.

Das Adjektiv fakultativ weist darauf hin, dass die Spezies, bei der diese Form der eingeschlechtlichen Fortpflanzung aufgetreten ist, normalerweise oder ebenso zur sexuellen Fortpflanzung fähig ist. Bei der gegenteiligen obligatorischen Parthenogenese pflanzt sich eine Spezies ausschließlich durch Jungfernzeugung und -geburt fort.

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    Bei Wirbeltieren tritt die Parthenogenese nur äußerst selten auf: Unter anderem kann sie bei Haien, Rochen und Echsen beobachtet werden. Auch bei einigen in Gefangenschaft lebenden Vogelarten, bei denen die Weibchen getrennt von den Männchen gehalten werden – zum Beispiel Truthähne, Hühner und Zwergwachteln –, stellten Wissenschaftler das Phänomen schon häufiger fest. Dass auch die Weibchen des Kalifornischen Kondors zur Parthenogenese fähig sind, ist allerdings eine neue Erkenntnis.

    Für Oliver Ryder ist der merkwürdigste Aspekt an diesem speziellen Fall, dass die Vögel mit den Nummern SB260 und SB517 von verschiedenen Müttern stammen, die nicht nur beide in einem Verbund mit Männchen gelebt, sondern sich sogar schon erfolgreich gepaart haben – sowohl vor als auch nach der Jungferngeburt.

    „Was da passiert ist? Wir wissen es nicht“, sagt Oliver Ryder. „Wir wissen nur, dass es mehrmals und bei verschiedenen Weibchen vorgekommen ist – und ich glaube, es wird wieder geschehen.“

    Jungferngeburt: Rettung vor dem Aussterben?

    Etwas mehr als dreihundert Kalifornische Kondore gleiten derzeit in Freiheit über Kalifornien, Arizona und Utah durch die Lüfte. Laut Reshma Ramachandran, Fortpflanzungsphysiologin und Mikrobiologin an der Mississippi State University in Starkville, könnte die geringe Populationsgröße die Parthenogenese bei der Spezies angestoßen haben - sozusagen als Überlebenshilfe. Ramachandran war an der Studie nicht beteiligt.

    Auch bei anderen Tierarten, deren Populationen in Bedrängnis geraten, wurde die fakultative Parthenogenese bereits beobachtet. So pflanzen sich zum Beispiel die Weibchen des vom Aussterben bedrohten Schmalzahn-Sägerochens aufgrund des wachsenden Mangels an Geschlechtspartnern inzwischen auch ohne Männchen fort.

    Ob diese Theorie Eins-zu-eins auf die Situation des Kalifornischen Kondors übertragen werden kann, ist strittig. Dagegen spricht, dass den Weibchen, bei denen die Jungfernzeugung auftrat, Männchen und damit Paarungsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Außerdem gelang es keinem der beiden Männchen, die aus der Parthenogenese hervorgingen, lange genug zu überleben, um sich selbst fortzupflanzen. SB260 starb im Alter von zwei Jahren, SB517 kurz vor der Geschlechtsreife, die es mit acht Jahren erreicht hätte. Kalifornische Kondore können bis zu 45 Jahre alt werden.

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    Oliver Ryder zufolge achten die Wissenschaftler bei der Zucht der Vögel zwar aufmerksam auf Anzeichen potenzieller Gendefekte, trotzdem sei es möglich, dass die sich selbst befruchtenden Weibchen Genmutationen an die Küken weitergegeben und so deren vorzeitigen Tod herbeigeführt haben.

    Obwohl die Idee interessant sei, „ist noch nicht sicher, ob die Parthenogenese bei der Evolution oder dem Überleben einer Tierart eine wichtige Rolle spielt“, sagt Jaqueline Robinson, Evolutionsgenetikerin an der University of California in San Francisco. „Das Phänomen taucht einfach zu selten auf. Es fehlt eine ausreichende Menge an Beispielen.“

    Anfang des Jahres 2021 haben Jaqueline Robinson, Oliver Ryder und ihre Kollegen eine Studie veröffentlicht, in der das gesamte Genom des Kalifornischen Kondors im Detail beschrieben ist. Sie hoffen, dass anhand dieser wertvollen Daten in Zukunft nachvollzogen werden kann, wie und warum es bei den Tieren zur Parthenogenese kommt.

    Seltenes Phänomen oder unbemerkte Normalität?

    Der Fall ist für die Wissenschaft besonders interessant, weil er nahelegt, dass die Jungfernzeugung in der Tierwelt weiterverbreitet sein könnte, als bisher angenommen.

    Reshma Ramachandran sagt, dass man, obwohl diese Art der Fortpflanzung hauptsächlich bei Tieren in Gefangenschaft beobachtet wird, ihr Auftreten in freier Wildbahn nicht ausschließen dürfe.

    „Tatsächlich gehe ich davon aus, dass die Berichte über Parthenogenese bei Wildtieren in Zukunft zunehmen werden“, sagt sie.

    Oliver Ryder stimmt ihr zu. „Wir sind auf die Jungferngeburt bei den Kondoren nur deshalb aufmerksam geworden, weil uns all diese detaillierten genetischen Informationen zur Verfügung stehen“, sagt er. „Insofern ist es durchaus möglich, dass sich zum Beispiel auch Gartenvögel ab und zu eingeschlechtlich fortpflanzen. Wir wissen es nur nicht, weil sich niemand eingehend genug mit der Frage beschäftigt.“

    Wie auch immer die Antwort darauf ausfallen mag: „Dieser Fall zeigt einmal mehr, dass man die Natur nie ganz verstehen kann. Immer, wenn man das denkt, kommt sie mit einer neuen Überraschung um die Ecke“, sagt Oliver Ryder.

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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