Verdrängung aus dem Ökosystem: Orcas vor Südafrika machen Jagd auf Weiße Haie
Der Weiße Hai steht in seinem Ökosystem meist an der Spitze der Nahrungskette. Vor der Küste Südafrikas wird der Jäger nun zum Gejagten. Ein Orca-Paar setzt die Population unter Druck – mit verheerenden Folgen für das ökologische Gleichgewicht.
Vom Jäger zum Gejagten: Die Weiße Haipopulation vor der Küste Südafrikas wird bereits durch verschiedene Faktoren bedroht. In den letzten Jahren ist ihr Leben durch haifressende Orcas noch stärker in Gefahr geraten.
Die Weißen Haie, die im Südatlantik vor der Küste von Gaansbai leben, sind ein Touristenmagnet. Viele Besucher der Gemeinde in der südafrikanischen Provinz Westkap buchen Käfigtauchgänge, um den großen Meeresjägern ganz nahe zu kommen. Doch in den letzten Jahren wurden Sichtungen der Tiere immer seltener. Eine neue Studie, die in der Zeitschrift African Journal for Marine Science erschienen ist, liefert nun eine Erklärung dafür.
Seit vor fünfeinhalb Jahren der erste von seitdem insgesamt acht Kadavern von Weißen Haien – die allesamt deutliche Zeichen von Angriffen aufwiesen – an der Küste angespült wurde, beobachtet ein Forschungsteam unter der Leitung von Alison Towner, Biologin des Dyer Island Conservation Trust und Hauptautorin der Studie, die Geschehnisse in Gaansbai. Ihre Langzeitsichtungen und Markierungsdaten zeigen, dass Weiße Haie bestimmte Regionen des Gebiets, das sie viele Jahre lang dominiert haben, zunehmend meiden.
Die Population am Kap ist bereits durch Schutznetze in der Provinz KwaZulu-Natal stark in Bedrängnis geraten. Auch die Befischung der Tiere, der fischereibedingte Rückgang der potenziellen Beute und die steigende Meeresoberflächentemperatur machen den Weißen Haien direkt oder indirekt zu schaffen. Laut Alison Towner wären all das logische Gründe für das allgemeine Schrumpfen der Weißen Haipopulation in Südafrika, „aber der unmittelbare und abrupte Rückgang der Sichtungen Anfang 2017 und die längeren und zunehmenden Abwesenheitszeiten können damit nicht erklärt werden“.
Appetit auf Innereien
Sie sieht den Grund für das Verschwinden der Tiere in der Anwesenheit von zwei Orcas – in der Studie Port und Starboard genannt – die sich seit dem Jahr 2017 vor der Küste von Gaansbai aufhalten und Jagd auf Weiße Haie machen. Spuren an den angespülten Kadavern zeugen von der Brutalität, mit der das Paar vorgeht: Sieben der getöteten Tiere war die Leber aus dem Rumpf gerissen worden, einigen auch das Herz.
Die Wissenschaftler sind sich sicher, dass die Wunden von dem Orca-Paar zugefügt wurden. Bisher unveröffentlichte Daten deuten Towner zufolge darauf hin, dass die Präsenz von Orcas schon seit einiger Zeit in den Küstenregionen Südafrikas zunimmt. Es ist möglich, dass das Orca-Pärchen einem seltenen haifischfressenden Morphotyp angehört. In Südafrika dienen diesem Typ mindestens drei Haiarten als Hauptnahrungsquelle, was das dessen Auftauchen in dem Gebiet erklären könnte.
Der Studie zufolge haben es die Orcas vor allem auf subadulte Tiere abgesehen. Weil Weiße Haie nur langsam wachsen und erst verhältnismäßig spät geschlechtsreif werden, hat dies besonders negative Auswirkungen auf die ohnehin schon gefährdete Haipopulation in der Region.
„Nach einem Orca-Angriff in Gansbaai tauchten zunächst wochen- oder monatelang keine einzelnen Weißen Haie auf“, sagt Alison Towner. „Wir haben es hier offenbar mit einer großangelegten Vermeidungsstrategie zu tun, die dem Verhalten der Wildhunde in der Serengeti entspricht, mit dem sie auf die verstärkte Präsenz von Löwen reagiert haben.“
Jäger der Meere auf der Flucht
Je häufiger die Orcas die Gebiete aufgesucht hätten, desto länger wären die Weißen Haie ferngeblieben. Dies zeige, dass Weiße Haie ihren Fluchtinstinkt nutzen, um Raubtieren langfristig und in Massen aus dem Weg zu gehen. „Die Forschung ist besonders wichtig, da wir durch die Feststellung, wie große marine Raubtiere auf Risiken reagieren, die Dynamik der Koexistenz mit anderen Raubtiergemeinschaften verstehen können“, erklärt Towner.
Weil Weiße Haie eine wichtige Schlüsselspezies sind, die als Jäger ihren Lebensraum im Gleichgewicht halten, hat ihre Verdrängung für das Ökosystem der Region schwerwiegende Folgen: Unter anderem wurde beobachtet, dass sich der Bronzehai – eine bisher gebietsfremde Art – mehr und mehr verbreitet, seitdem sich sein natürlicher Feind zurückgezogen hat. Dasselbe gilt für den Südafrikanischen Seebären: Ohne die Präsenz des Weißen Hais wächst dessen Population. Das bringt die Afrikanischen Pinguine in Gefahr – eine vom Aussterben bedrohte Art –, die mit den Seebären um pelagische Fische als Nahrungsquelle in Konkurrenz stehen und von diesen außerdem gejagt werden.
Durch sogenannte Citizen Science – also zum Beispiel Beobachtungsberichte von Fischern und Tourismusschiffen –, sowie die Fortsetzung der Tracking-Studien sollen jetzt Informationen darüber gesammelt werden, wie sich die Anwesenheit der Orcas langfristig auf das ökologische Gleichgewicht in diesen komplexen Küstengebieten auswirkt. Denn eines scheint sicher: Sie sind gekommen, um zu bleiben.