Freundschaft unter Haien: Forscher widerlegen den Mythos des einsamen Killers

Bisher nahm man an, der Hai sei ein Einzelgänger. Wissenschaftler haben nun vermehrt Hinweise dafür gefunden, dass die Tiere durchaus die Gesellschaft ihrer Artgenossen suchen. Jetzt stellt sich die Frage: warum?

Zitronenhaie, hier zu sehen in einem Schwarm vor der Insel Grand Bahama, legen ganz unterschiedliche Persönlichkeiten an den Tag.

Foto von Tanya Houppermans
Von Melanie Haiken
Veröffentlicht am 14. Juli 2021, 11:57 MESZ

Geheimnisvolle Einzelgänger, die als einsame Jäger durch die Tiefen der Ozeane gleiten und plötzlich aus dem Nichts angreifen: Das ist das Bild, das die meisten Menschen von Haien haben. Kein Wunder, denn in Filmen und Dokumentationen ist diese Darstellung immer noch der Status quo.

Doch dieses Image hat in den vergangenen Jahren Risse bekommen. Haiforschern auf der ganzen Welt gelang es immer wieder, große Gruppen der Tiere zu beobachten, die untereinander einen durchaus freundschaftlichen Umgang pflegten.

So auch dem Team von Yannis Papastamatiou, National Geographic Explorer und Meeresbiologe an der Florida International University. Er und seine Kollegen statteten 40 Graue Riffhaie am Palmyra-Atoll im Südwesten Hawaiis mit akustischen Sendern aus, und dokumentierten die Interaktionen der Tiere über einen Zeitraum von vier Jahren.

Ein Haufen "schlafender" Haie gefilmt

Ihre Studie, die 2020 in der Zeitschrift „Proceedings of the Royal Society B“ veröffentlicht wurde, kam zu dem Ergebnis, dass Riffhaie Jahr für Jahr in dieselbe Gemeinschaft zurückkehren. Die Tiere zeigen außerdem klare Vorlieben für bestimmte Individuen in ihrer Gruppe und es wurde beobachtet, dass diese „Freundschaften“ teilweise über den gesamten Forschungszeitraum Bestand hatten.

„Wir wissen, dass Haie Beziehungen zu anderen Mitgliedern ihrer Spezies aufbauen können, die über Jahre halten“, erklärt Yannis Papastamatiou. Die Dokumentationsreihe „Haie – vereint in der Jagd?“ begleitet in einer Folge die Forschungen seines Teams, und ist im Rahmen von Hai Life auf National Geographic zu sehen. Die Freundschaften unter den Tieren könnten sogar durchaus noch viel länger anhalten, doch die maximal vierjährige Lebensdauer der Batterien in den Sendern beschränkt den Zeitraum für das Sammeln von Daten.

Sandtigerhaie und Atlantische Spatenfischer schwimmen im klaren Wasser vor der Küste North Carolinas. 

Foto von Tanya Houppermans

Karibische Riffhaie versammeln sich über den Felsen und Korallen vor Grand Bahama. 

 

Foto von Tanya Houppermans

Es ist nicht geklärt, warum Zitronenhaie, hier zu sehen vor der Küste von Grand Bahama, die Gesellschaft ihrer Artgenossen suchen.

Foto von Tanya Houppermans

Mein Freund, der Hai

2016 erschien in der Zeitschrift “Scientific Reports“ eine Studie über die komplexen sozialen Netzwerke der Sandtigerhaie vor der US-amerikanischen Ostküste. Danielle Haulsee von der University of Delaware hat die Studie geleitet. Sie vergleicht den sozialen Umgang, den diese Haie miteinander pflegen, mit der Art von Beziehungsverhalten, das bei hochrangigen Säugetieren wie Schimpansen zu beobachten ist.

Für ihre Untersuchungen statteten Haulsee und ihre Kollegen einzelne Haie mit Aufnahmegeräten aus und dokumentierten auf diese Weise tausende Interaktionen der Tiere mit ihren Artgenossen. Manche von ihnen verbrachten bis zu vier ganze Tage in der Gesellschaft des anderen.

Laut Haulsee handelte es sich dabei nicht um Zufallsbekanntschaften, sondern um echte Freundschaften.

Galerie: Imagewandel für Haie – Liebeserklärung eines Fotografen

Jasmin Graham ist Meeresbiologin am Mote Marine Laboratory in Sarasota, Florida, und Präsidentin und Geschäftsführerin von Minorities in Shark Science, einer Gruppe die Schwarzen Frauen den Weg in dieses Fachgebiet ebnet. Sie meint, dass die derzeitigen Forschungsergebnisse in eine neue Richtung weisen würden – weg von dem Stereotyp der roboterhaften Tötungsmaschine Hai. „Untersuchungen der Persönlichkeit und der sozialen Gefüge der Tiere zeigen, dass sie uns viel ähnlicher sind, als wir denken“, erklärt sie.

Wissenschaftler stellen sich nun der Herausforderung, Gründe für die Geselligkeit von Haien zu finden. Auch die Frage, ob sie bei der Jagd zusammenarbeiten, ist noch unbeantwortet. Es gibt aber Vermutungen, dass Faktoren wie die Nahrungsverfügbarkeit und die durch den Klimawandel steigende Wassertemperaturen Einfluss darauf haben könnten, warum sie die Nähe ihrer Artgenossen suchen.

Zwei Tigerhaie schmiegen sich vor Grand Bahama aneinander. Die Spezies zeichnet sich durch ein komplexes Sozialgefüge aus.

Foto von Tanya Houppermans

Gemeinsam jagen, gemeinsam schlafen

Die Anzahl Weißer Haie vor der Küste Südkaliforniens bricht regelmäßig Rekorde - insbesondere bei Jungtieren. Ihre Population erholt sich stetig, seit die Spezies 1994 von der Regierung unter Schutz gestellt wurde.

Das Team von Chris Lowe, Leiter des Shark Labs an der California State University in Long Beach, beobachtet die Haie mit Drohnen und hat einzelne Tiere mit Funksendern versehen. 53 individuelle Tiere konnten so im Jahr 2020 in der Küstenregion zwischen San Diego und Santa Barbara identifiziert werden.

Weiße Haie halten normalerweise etwa 9 Meter Abstand voneinander und sind laut Chris Lowe nicht unbedingt „Kumpeltypen“. Ihre Vorliebe für bestimmte Aufenthaltsgebiete lässt sie dennoch näher zusammenrücken.

„Es ist ein bisschen wie auf dem Schulhof oder Spielplatz: Einige von ihnen fressen, andere hängen nur rum, manche versuchen, den Spielplatztyrannen aus dem Weg zu gehen“, beschreibt Chris Lowe. „Uns interessiert, warum die Hai-Kids zum Spielplatz kommen. Was zieht sie an?“

Er hat bereits einige Theorien: Unter anderem könnte die Leibspeise der Weißen Haie, der Stachelrochen, ein Faktor sein, der in dieser Gegend in großen Mengen vorkommt. Der Aufenthalt in der Nähe der Küste bietet außerdem Schutz vor Angreifern wie zum Beispiel größeren Haien. Und auch steigende Wassertemperaturen könnten eine Rolle spielen. Durch den Klimawandel wird der Pazifische Ozean zunehmend wärmer, was die Weißen Haie dazu bewegt, Gebiete im Norden für sich einzunehmen.

Laut Matt Smukall, Leiter des Bimini Shark Lab auf den zu den Bahamas gehörenden Bimini Inseln, ist es schwer zu sagen, ob Haie sich auch für die Jagd zusammenschließen. Ihm zufolge gibt es manche Haiarten wie den Bullenhai oder den Kleinen Schwarzspitzenhai, die in Zeiten großen Fischaufkommens, etwa während des Laichens, in Gruppen von einem Dutzend Tiere Beute jagen, indem sie Fischschwärme geradezu einkesseln.

Der Hammerhai-Kindergarten der Galapagosinseln
Bei den Galapagosinseln entdeckten Wissenschaftler aus Ecuador vor Kurzem ein "Kindergarten" für Bogenstirn-Hammerhaie.

Laut Matt Smukall, Leiter des Bimini Shark Lab auf den zu den Bahamas gehörenden Bimini Inseln, ist es schwer zu sagen, ob Haie sich auch für die Jagd zusammenschließen. Ihm zufolge gibt es manche Haiarten wie den Bullenhai oder den Kleinen Schwarzspitzenhai, die in Zeiten großen Fischaufkommens, etwa während des Laichens, in Gruppen von einem Dutzend Tiere Beute jagen, indem sie Fischschwärme geradezu einkesseln.

„Die Frage ist, ob es sich bei diesem Verhalten wirklich um Kooperation handelt, ob die Haie sich also bewusst zur Zusammenarbeit entschließen, um bei der Jagd einen Vorteil zu haben“, erklärt Matt Smukall. „Es könnte nämlich auch sein, dass einfach alle dort auftauchen, wo gerade das meiste Essen zu holen ist.“

Egal welche Motivation hinter dem Verhalten der Haie steckt, erfolgreich ist es in jedem Fall. „Was für den einen Hai gut ist, hilft auch dem anderen. Alle gewinnen.“

Yannis Papastamatiou vermutet außerdem, dass Meeresströmungen ein Grund dafür sein könnten, warum Haie sich an bestimmten Stellen vermehrt aufhalten.

Im Rahmen einer neuen Studie, die im Juli 2021 veröffentlicht wurde, gelang es ihm, ein bisher undokumentiertes Verhalten der Riffhaie in Französisch-Polynesien zu dokumentieren: Sie lassen sich gemeinsam treiben Die Dauerschwimmer schließen sich dazu in Gruppen zusammen, in deren Schutz sie Energie sparen und sogar ein Nickerchen machen können.

„Wir wollten wissen, warum Haie sich bevorzugt in bestimmten Arealen sammeln. Hier haben wir eine Antwort“, sagt Yannis Papastamatiou. „Die Ergebnisse der Studie könnten auch auf andere Küstenregionen anwendbar sein.“

Eine große Gruppe Sandtigerhaie vor der Küste North Carolinas.

Foto von Tanya Houppermans

Haie mit Persönlichkeit

Oft ist nicht ersichtlich, wieso Haie soziale Bindungen zueinander aufbauen. Im Bimini Shark Lab bemerkten Matt Smukall und seine Kollegen, dass junge Zitronenhaie oft die Gesellschaft ihrer Artgenossen suchten – und das, ohne daraus Vorteile bei der Jagd oder in anderer Hinsicht zu ziehen. Die sozialen Bedürfnisse scheinen vielmehr in der Persönlichkeit der einzelnen Tiere zu liegen. Matt Smukall zufolge mehren sich jedenfalls die Beweise dafür, dass individuelle Zitronenhaie ihre ganz eigenen Charakterzüge aufweisen.

Schon Zitronenhai-Babys, die in Gehegen in ihrem natürlichen Lebensraum beobachtet werden, legen unterschiedliche soziale Temperamente an den Tag. Einige sind besonders gesellig und interagierten ständig mit anderen, andere sind eher reserviert und bleiben lieber für sich. 

Diese Unterschiede im sozialen Verhalten können, wie beim Menschen auch, einen Einfluss darauf haben, wie erfolgreich das Individuum ist – und sogar, ob es überlebt. Mark Smukall berichtet, dass Zitronenhaie, die als Baby im Gehege als besonders neugierig auffielen, in freier Wildbahn ebenso risikofreudig waren. Sie schwammen auf Futtersuche weitere Strecken als ihre zurückhaltenden Artgenossen, wurden größer und erlangten schneller die Geschlechtsreife.

Doch die Abenteuerlust hat auch ihren Preis: Diese größeren, schnelleren Haie haben eine geringere Lebenserwartung, weil sie auf ihren Streifzügen häufiger anderen Jägern zum Opfer fallen.

Die Forschung steht erst am Anfang

Es könnte schon viel mehr über das intime Leben der Haie bekannt sein, hätte man mit den Forschungen bereits früher begonnen. Doch aufgrund des Mangels an Fördergeldern und des schlechten Rufs, den Haie haben, kam es nicht dazu. „Wir hatten bisher nur etwa 20 Jahre Zeit, um Haie wirklich zu erforschen“, bedauert Chris Lowe.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Hai-Populationen weltweit weiterhin schrumpfen. Hauptverantwortlich dafür ist die Überfischung der Meere. Seit 1970 sind die Hai- und Rochenvorkommen in den Weltmeeren um 71 Prozent gesunken. Die Situation der Riffhaie ist besonders desaströs.

Doch dank Initiativen wie Minorities in Shark Science ist die Haiforschung laut Jasmin Graham aktuell auf dem Vormarsch - mit einem Wachstum und einer Vielfältigkeit, die bisher undenkbar gewesen ist.

„Ich glaube fest daran, dass wir in den nächsten Jahren noch viel mehr über Haie erfahren werden“, sagt sie. „Es ist aufregend, sich vorzustellen, wie viel besser wir sie noch verstehen werden.“

Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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