Intelligent und sozial: Erstaunliche Gemeinsamkeiten zwischen Orang-Utans und Menschen

Wie eng wir Menschen wirklich mit Orang-Utans verwandt sind und warum wir nicht nur deshalb diese exotischen Tiere schützen müssen, erklärt Primatologin Dr. Isabelle Laumer.

Von Viktoria Schütze
Veröffentlicht am 17. Jan. 2023, 14:22 MEZ
Orang Utan Babys

Orang Utan und Mensch – sind wir wirklich so verschieden?

Foto von BPI für Borneo Orangutan Survival

Orang-Utans sind große, imposante Menschenaffen, die mit ihren orange-leuchtenden Körperhaaren jedem im Gedächtnis bleiben, der sie einmal gesehen hat. Wissenschaftler unterscheiden bei dieser Primatengattung zwischen den Borneo-, den Sumatra- und den Tapanuli-Orang-Utans: Die Sumatra-Orang-Utans leben, wie es der Name schon vermuten lässt, genauso wie die Tapanuli-Orang-Utans in den Baumkronen der indonesischen Insel Sumatra und sind meist etwas zierlicher gebaut als ihre Verwandten von der Nachbarinsel Borneo. In freier Wildbahn wird der Bestand des Orang-Utans (Borneo-, Sumatra- und Tapanuli-Orang-Utan) laut der International Union for Conservation of Nature (IUCN) insgesamt auf ca. 115.000 Tiere geschätzt. Die sogenannten „Menschen des Waldes“, was Orang-Utan aus dem Malaiischen übersetzt bedeutet, werden von der IUCN damit als „vom Aussterben bedroht“ aufgelistet.

Orang-Utans sind für uns Mitteleuropäer sehr exotische Tiere, die in weiter Ferne tief im tropischen Regenwald leben. Wirklich nah kommt man ihnen in unseren Breitengraden nur in Zoos. Doch auch wenn die Menschenaffen geografisch weit von uns getrennt sind, sind sie uns genetisch ganz nah. Nicht nur, aber auch deswegen sollten wir versuchen, diese faszinierenden, intelligenten und stark bedrohten Geschöpfe zu schützen. Dr. Isabelle Laumer hat mit National Geographic gesprochen und zeigt, wie wenig uns Menschen eigentlich von Orang-Utans unterscheidet.

Orang-Utan und Mensch: Genetisch ganz nah

Dr. Isabelle Laumer ist Primatologin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit Orang-Utans und kennt die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und uns ganz genau. „Aus genomischer Sicht ist der Mensch eigentlich auch nichts anderes als eine Art ‚Great Ape‘“, sagt sie.

Zu den Menschenaffen, also den Hominiden, zählen Schimpanse, Bonobo, Gorilla, Orang-Utan und eben auch der Mensch. Das Genmaterial des Orang-Utans ist zu 97 Prozent mit dem unserem identisch. Nur der Schimpanse kommt mit einer Übereinstimmung von 99 Prozent noch näher an uns heran. Dass sich unser Genmaterial so stark gleicht, wird unter anderem durch die Anatomie deutlich.

„Hände und Füße ähneln stark denen von Menschen, die Gelenk- und Sehnenanordnung ist jedoch stark an das Klettern angepasst“, so Dr. Laumer. Sie betont, dass Orang-Utans nicht nur Fingernägel, sondern auch einzigartige Fingerabdrücke wie wir haben. Auch das Gebiss sei sich in vielerlei Hinsicht ähnlich: Wie der Mensch hat der Orang-Utan insgesamt 32 Zähne – darunter Schneide-, Eck- und Backenzähne. „Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit von Menschenaffen und Menschen ist der fehlende Schwanz“, sagt Dr. Isabelle Laumer. Bei allen anderen Affenarten, wie beispielsweise dem Mantelpavian oder dem Kapuzineräffchen, ist eine solche Verlängerung der Wirbelsäule sehr wohl vorhanden.

Orang-Utans haben, laut Laumer, sogar dieselben Blutgruppen wie wir (A, B und 0). „Diese sind vermutlich vor mehr als 20 Millionen Jahren entstanden, sprich bevor sich unsere Linien trennten“, so die Primatologin. „Das A-B-0-System wird von Mensch und Orang-Utan bis heute geteilt. Die gleichen zwei Aminosäureänderungen sind für die A- und B-Spezifität verantwortlich.“ Ebenfalls bemerkenswert: Der Sehsinn des Orang-Utans funktioniert ähnlich wie beim Menschen. Denn seine Zapfen, die Farbrezeptoren in der Netzhaut im Auge, können Rot, Blau und Grün wahrnehmen. Hunde und Katzen sehen beispielsweise nur blaue und gelbe Farbtöne. Was die Farbwahrnehmung betrifft, sehen Orang-Utans die Welt also wie wir.

Dass diese Tiere uns Menschen so ähnlich sind, hat aber nicht nur gute Seiten. Sie seien wegen der engen genetischen Verwandtschaft für Menschenkrankheiten sehr anfällig - insbesondere Atemwegserkrankungen träfen sie schwer. Dr. Isabelle Laumer berichtet, dass Orang-Utans, die aus dem illegalen Handel stammen, nicht nur gewaltsam von der Mutter getrennt würden - die dabei ihr Leben lassen müsse: Die Jungtiere würden in kleinen Käfigen gehalten und steckten sich in Gefangenschaft häufig mit Krankheiten wie Hepatitis an. Das größte Problem dabei sei nicht einmal die Erkrankung selbst: „Orang-Utans, die sich mit der menschlichen Hepatitis-Form angesteckt haben, können nie wieder ausgewildert werden. Die Krankheit darf nämlich unter keinen Umständen in die Wildpopulation eingeschleppt werden“, so Laumer. Die Tierschutzorganisation Borneo Orangutan Survival (BOS) kümmert sich beispielsweise um solche verwaisten Orang-Utan-Kinder, die ihre Mutter auf traumatische Weise verloren haben. Um wieder ausgewildert zu werden, durchlaufen die Orang-Utans ein mehrjähriges Waldschuldprogramm. „Der gesamte Rehabilitationsprozess vom Ankommen in der Station bis zur Auswilderung dauert etwa zehn Jahre“, so Laumer.

In der BOS Waldschule lernen verwaiste Orang-Utans alles, was sie zum eigenständigen Leben im Regenwald benötigen.

Foto von BPI für Borneo Orangutan Survival

Intelligente, hochsoziale Affen – wie wir

Es gibt aber noch viel mehr als nur offensichtliche körperliche Gemeinsamkeiten zwischen Orang-Utan und Mensch. Die Primatologin Dr. Isabelle Laumer spricht den Menschenaffen eine hohe Intelligenz zu. Mithilfe von Tests konnten schon zahlreiche Wissenschaftler, darunter auch Laumer selbst, mit Erstaunen feststellen, zu welchen kognitiven Leistungen Orang-Utans fähig sind.

Diese Menschenaffen gebrauchen beispielsweise Werkzeuge. Dr. Laumer betont, wie besonders diese Fähigkeit ist: „Weniger als ein Prozent aller Tierarten tun das.“ Leckereien, die zwar einfacher zu beschaffen, aber weniger schmackhaft sind, vernachlässigen Orang-Utans, wenn sie mithilfe eines Werkzeugs an bessere Nahrung kommen können, wie die Forscherin herausfand. Doch die Menschenaffen sind nicht nur Meister darin, Werkzeuge flexibel anzuwenden, sie können auch selbst welche erfinden. „Ich habe in einer Studie herausgefunden, dass Orang-Utans bei der Erfindung eines Hakenwerkzeugs auf einem Level mit achtjährigen Kindern sind“, erklärt die Wissenschaftlerin. In einem aufwändigen Test stellte sich heraus, dass die Tiere selbstständig ein solches Hakenwerkzeug aus einem für sie unbekannten Material für ein noch nie zuvor da gewesenes Problem spontan erfanden. „Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass es sehr viele unbelohnte Teilschritte gibt, bis das Ziel erreicht ist“, so Laumer. Die Primatologin berichtet außerdem, dass das Werkzeug-Design der Orang-Utans immer besser wurde, je öfter die Tiere den Versuch machten. Zum Vergleich: Wir Menschen gebrauchen Angelhaken und harpunenartige Objekte erst seit etwa 16.000 bis 60.000 Jahren. „Erst relativ spät in der Evolution war der Mensch hierzu fähig“, so die Expertin.

Dr. Isabelle Laumer ist Primatologin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz.

Foto von Max-Planck-Institut Konstanz

Eine weitere verblüffende Ähnlichkeit zwischen Orang-Utan und Mensch ist die Fähigkeit, für die Zukunft zu planen. Mehrere Studien, wie die der beiden Anthropologen Nicholas J. Mulcahy und Josep Call, weisen bereits darauf hin, dass Orang-Utans das passende Werkzeug anstatt einer sofortigen Belohnung für eine zukünftige Anwendung auswählen: Das heißt, sie wählen ein Werkzeug aus, transportieren es mit sich, um es dann eine Stunde später oder sogar erst am nächsten Tag verwenden zu können, um an hochwertigere Nahrung zu gelangen. Außerdem konnten Wissenschaftler laut Laumer bereits bestätigen, dass der sogenannte Long Call (ein bis zu 1.500 Meter weit hörbarer Ruf des Orang-Utan-Männchens) eine mehr als zufällige Vorhersage über die künftige Reiserichtung bis etwa 22 Stunden nach dem Ruf angibt. Artgenossen, die den Long Call hören, passen ihre Route daran an. Während Weibchen mit Nachwuchs und weniger dominante Männchen ihm aus dem Weg gehen, nähern sich paarungswillige Weibchen der Route des rufenden Orang-Utans.

Enge Bindungen der Orang-Utan-Mütter zu ihren Jungen

Orang-Utans leben semi-solitär, das bedeutet, dass sie größtenteils einzelgängerisch leben. Die Langdistanzrufe helfen so bei der Kommunikation. Wer aber ganz eng und lange zusammenlebt, sind Orang-Utan-Mütter und ihre Jungen: Die enge Bindung zu ihrem Nachwuchs haben die Menschenaffen mit uns gemein. Etwa acht bis neun Monate lang tragen Orang-Utan-Weibchen und bringen (wie wir Menschen) meist ein, in sehr seltenen Fällen zwei Jungen zur Welt, das sehr lange gesäugt wird. Bis ein Weibchen wieder paarungsbereit ist, dauert es sieben bis acht Jahre – das sei laut Laumer das längste Geburtenintervall unter allen Menschenaffen: „Ich würde Orang-Utan-Mütter als eine Art Übermütter bezeichnen.“

Das Muttertier ziehe laut der Forscherin den Nachwuchs ganz alleine groß. Dabei sei auch ein Verhalten zu bemerken, das wir von Menschenkindern nur zu gut kennen: spielerisches Necken. Orang-Utans wurden dabei beobachtet, wie sie ganz wie Menschenkinder einem Artgenossen einen Gegenstand bewusst hinhielten, um ihn dann, sobald dieser danach greifen wollte, wiederholt wegzogen. „Wie auch Menschenkinder blicken die Menschenaffen dabei in das Gesicht des Geneckten, um seine Reaktion zu sehen“, erklärt Laumer. Die Wissenschaftlerin habe diese Beobachtung mit ihrer Forschungsgruppe an der University of California genauer untersucht. Eine ausführliche Studie zu dem Thema erscheint noch dieses Jahr.

Erst mit etwa drei Jahren könne laut der Expertin ein Orang-Utan Junges einigermaßen selbstständig unter der Aufsicht der Mutter durch die Baumkronen klettern. Bis zu zehn Jahre lang teilt es sich das Schlafnest mit ihr. Es muss in seiner langen Kindheit lernen, selbst solche stabilen Nachtlager zu bauen. Diese Konstruktionen sind hochkomplexe, aus mehreren Schichten bestehende Geflechte, die imstande sein müssen, auch ein 90-Kilo schweres Orang-Utan-Männchen zu tragen. Außerdem muss das Junge lernen, welche der etwa 100 bis 300 Pflanzenarten und 150 Fruchtsorten es fressen darf. Dieses Wissen zu behalten und auch weiterzugeben, zeugt ebenfalls von der hohen Intelligenz dieser Tiere. Orang-Utans hätten ein beachtliches Gedächtnis, wie Laumer klarstellt: „Ein Versuch von einer Kollegin bestätigt, dass sich Orang-Utans sowie Schimpansen nach drei Jahren spontan an ein damaliges Werkzeug-Versteck-Ereignis erinnern konnten. Eine solche Erinnerung nach drei Jahren spontan abzurufen, wäre auch für uns Menschen eine lange Zeitspanne.“

Wie auch die britische Verhaltensforscherin Jane Goodall möchte Dr. Isabelle Laumer von „Kultur“ bei Menschenaffen sprechen. Im Gegensatz zur veralteten Meinung, dass Tierverhalten rein instinktiv sei, seien beispielsweise beim Orang-Utan regional abweichende Verhaltensweisen zu erkennen, die weder umweltbedingt noch genetischen Ursprungs zu sein scheinen. Stattdessen könnten die Orang-Utans manches Verhalten von anderen Tieren erlernt haben – diese Verhaltensweisen wären damit kultureller Natur. „Im Sumpfregenwald Sabangau auf Borneo reißen Orang-Utans Blätter vom Drachenbaum ab und zerkauen diese zu Brei. Diesen Brei schmieren sie sich dann 15 bis 45 Minuten lang auf Arme und Beine“, berichtet die Primatologin. Es ist bekannt, dass der Drachenbaum entzündungshemmende Eigenschaften hat und rheumatische Schmerzen lindert. Orang-Utans scheinen also sogar Heilpflanzen zu gebrauchen. „Ob sie sich der Wirkung wirklich bewusst sind, wissen wir natürlich nicht“, räumt Laumer ein. Es werde bis heute noch sehr viel darüber diskutiert, ob solch ein Verhalten kulturell, durch Genetik oder Umweltfaktoren bedingt sei, oder durch individuelle Erfindungen hervorgerufen werde.

Orang-Utan-Junge bleiben sehr lange bei ihrer Mutter.

Foto von BPI für Borneo Orangutan Survival

Wer Orang-Utans schützt, schützt den Regenwald

Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, wie ähnlich wir dem Orang-Utan wirklich sind. Aber nicht nur das macht die roten Menschenaffen schützenswert: Orang-Utans gelten als vom Aussterben bedroht. Dabei übernehmen sie im Ökosystem eine entscheidende Rolle. Dr. Isabelle Laumer bezeichnet die Tiere als „Beschützer und Gärtner des Regenwaldes“. Denn der Schutz von Orang-Utans sei auch gleichzeitig Arten- und Biodiversitätsschutz. Borneo und Sumatra (die Heimat des Orang-Utans) seien laut Laumer wahre Biodiversitäts-Hot-Spots. „Etwa zwei Drittel aller auf der Erde lebenden Tier- und Pflanzenarten kommen in Tropenwäldern vor“, so die Wissenschaftlerin. Wer Orang-Utans schützt, schützt damit automatisch zahlreiche andere Tiere und auch Pflanzen.

Der Regenwald ist die Lunge der Erde, er spielt in dem gesamten Ökosystems unseres Planeten und für das Klima eine entscheidende Rolle, wie auch Dr. Isabelle Laumer hervorhebt. Der Orang-Utan übernimmt dabei eine wichtige Rolle als „Gärtner“, weil er mit seinem Gewicht morsche Äste abbricht. So gelangt Licht auf die Bodenschicht, was jungen Bäumen hilft, schneller zu wachsen. Außerdem fressen Orang-Utans unter anderem Steinfrüchte, deren Samen sie mit ihrer Verdauung verbreiten. So helfen sie auch bei der Wiederaufforstung des Regenwaldes.

Schätzungen zufolge sei die Population des Borneo-Orang-Utans zwischen 1950 und 2010 um mehr als 60 Prozent zurückgegangen. Den starken Populationsrückgang bestätigt auch eine Studie von Maria Voigt von 2018. Mehr als 100.000 Borneo-Orang-Utans seien demnach zwischen 1999 und 2015 verschwunden. Umso wichtiger sei es laut Dr. Isabelle Laumer, Organisationen wie BOS Deutschland (Borneo Orangutan Survival) zu unterstützen und den Regenwald zu Schutzgebieten umzuwandeln. Erst kürzlich konnte diese zum 500. Mal einen Orang-Utan erfolgreich auswildern. Nur wenn man neue Schutzgebiete erschafft und den bestehenden Lebensraum erhält und schützt, kann sich der Bestand dieser imposanten Tiere wieder erholen.

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