Die Bucht der Weißen Haie

Der Weiße Hai ist zurück. In den USA hat sich auf einem relativ kleinen, bei Strandurlaubern beliebtem Gebiet die größte Hai-Dichte der Welt eingestellt. Wie viele Tiere leben hier und wie gefährlich sind sie für die Menschen?

Von Melanie Haiken
Veröffentlicht am 7. Juli 2023, 12:37 MESZ
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Ein Weißer Hai nähert sich vor der Küste Cape Cods einer Gruppe Kegelrobben. Deren Population hat sich in der Region in den letzten Jahren merklich erholt, was wiederum zu einer außergewöhnlichen Konzentration von Haien geführt hat, die in dieser Form auf der Welt ihresgleichen sucht.

Foto von Brian J. Skerry, Nat Geo Image Collection

An Weiße Haie haben Surfer und Badegäste an der Küste von Cape Cod – einer Halbinsel im US-Bundesstaat Massachusetts – lange keinen Gedanken verschwendet. Über viele Jahrzehnte waren die Tiere aus der Region verschwunden. Doch inzwischen müssen sich die bei Touristen beliebten Küstenorte an eine neue Realität gewöhnen, denn der Weiße Hai ist zurück.

Während man also versucht, die Strände für die Menschen sicher zu machen, ist die wichtigste Frage, die sich stellt, die nach der tatsächlichen Anzahl der Tiere. Wie groß ist die Population der Weißen Haie vor Cape Cod?

Größte Hai-Dichte der Welt?

Darauf eine Antwort zu finden ist nicht leicht. Die so schwer greifbaren wie umtriebigen Räuber zu zählen, ist eine echte Herausforderung. Doch Forschenden der Non-Profit-Organisation Atlantic White Shark Conservancy (AWSC) ist dieses Kunststück mithilfe einer innovativen Kombination aus Geräuschverfolgung, Fotoidentifikation und statistischen Modellen nun gelungen.

Zwischen den Jahren 2015 und 2018 hielten sich der Studie nach rund 800 – und möglicherweise sogar bis zu 900 – Weiße Haie in dem Gebiet auf. Zum Vergleich: Die Population vor der Kalifornischen Zentralküste umfasst Schätzungen zufolge rund 300 Tiere. Vor der Küste von Dyer Island in Südafrika – eine Gegend, die besonders beliebt zum Käfigtauchen ist und wegen des großen Haivorkommens auch Shark Alley genannt wird – wurden zwischen 800 und tausend Tiere gezählt.

Ein Weißer Hai reißt vor der Küste Cape Cods eine Robbenattrappe, die der Fotograf Brian Skerry mit einer eigenen Kamera ausgestattet hat.

Foto von Brian J. Skerry, Nat Geo Image Collection

Damit hat Cape Cod „potenziell die höchste Hai-Dichte der Welt“, sagt die Fischereiwissenschaftlerin Megan Winton, die die noch nicht veröffentlichte Studie geleitet hat. „Wir wussten, dass es da draußen viele Weiße Haie gibt, aber jetzt haben wir erstmals eine Hausnummer für einen Teil des Verbreitungsgebiets im Nordatlantik – und das ist riesig.“

Die Daten sind nicht nur aufgrund der großen Zahl von Haien bemerkenswert, sondern auch, weil die Population sich auf ein relativ kleines Gebiet konzentriert: einen lediglich knapp 900 Kilometer langen, unter Naturschutz stehenden Küstenstreifen.

Außerdem bemerkenswert: Die Haie, die größtenteils ausgewachsen und zwischen 2,5 und 3,5 Metern lang sind, halten sich die Hälfte der Zeit in Gewässern auf, die maximal 4,5 Meter tief sind.

„Den Leuten ist bewusst, dass es hier Weiße Haie gibt. Die meisten denken aber, sie würden sich vor allem im offenen Meer aufhalten“, sagt Winton. „Wir haben jedoch über vier Meter lange Weiße Haie in Tiefen zwischen einem und anderthalb Metern ausgemacht.“ Es sei erstaunlich, wie gut die Tiere sich tarnen. „Sie können direkt neben einem schwimmen und man sieht sie einfach nicht.“

BELIEBT

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    Nachdem sie fast bis zur Ausrottung bejagt wurde, begann sich die Kegelrobbenpopulation nach der Verabschiedung eines US-Gesetzes zum Schutz der Meeressäuger im Jahr 1972 wieder zu erholen.

    Foto von Brian J. Skerry, Nat Geo Image Collection

    Bevorzugte Beute: Kegelrobben

    Die Weißen Haie sind nicht ohne Grund nach Cape Cod zurückgekehrt. Angelockt wurden sie durch ihre Lieblingsbeute: Kegelrobben. Waren diese zwischenzeitlich durch Bejagung in der Region fast ausgerottet, haben sich die Bestände seit der Verabschiedung des Marine Mammal Protection Act im Jahr 1972 deutlich erholt.

    Heute leben rund 50.000 Kegelrobben in dem Gebiet. Bis die Weißen Haie nachzogen, dauerte es eine Weile. Doch seit auch sie im Jahr 1997 national und im Jahr 2005 in Massachusetts unter Schutz gestellt wurden, nimmt ihre Zahl ebenfalls konstant zu.

    „Es gibt eigentlich keinen anderen Ort, an dem sich die Robbenjagd der Weißen Haie mit menschlicher Aktivität so überschneidet wie hier“, sagt Greg Skomal, leitender Fischereiwissenschaftler der Massachusetts Division of Marine Fisheries und einer der Autoren der Studie.

    Er betont, wie gering das Risiko sei, von einem Weißen Hai angegriffen zu werden. Für Schwimmer stelle Ertrinken die weitaus größere Gefahr dar. Seit dem Jahr 2012 wurden vor Cape Cod dennoch fünf Menschen von Weißen Haien gebissen, einer der Vorfälle im Jahr 2018 endete tödlich.

    Im seichten Küstengebiet vor Cape Cod wartet ein Weißer Hai in einer Rinne zwischen Sandbänken darauf, dass sich Robben auf Futtersuche ins Wasser wagen.

    Foto von Brian J. Skerry, Nat Geo Image Collection

    Neue Modelle berücksichtigen individuelles Verhalten

    Der Wunsch, das Aufeinandertreffen von Weißen Haien und Menschen zu vermeiden, ist groß. Um die Wahrscheinlichkeit so weit wie möglich zu reduzieren, versuchen Forschende nachzuvollziehen, wo sich die Tiere wann aufhalten.

    Zu diesem Zweck wurden für die Studie einzelne Haie getaggt, anhand ihrer Hautfärbung und Finnen identifiziert und die individuellen Bewegungsdaten in einem Logbuch dokumentiert. Dabei halfen dem Studienteam tragbare, hochauflösende Unterwasserkameras, die es ermöglichen, einzelne Tiere leichter und präziser auseinanderzuhalten. Die Zahl neu registrierter Tiere wurde im dreijährigen Beobachtungszeitraum ständig mit der Zahl schon bekannter Haie verglichen. Auf Basis dieser Daten und mithilfe statistischer Modelle konnte schließlich die Größe der Population errechnet werden.

    Die Berücksichtigung individueller Bewegungsdaten unterscheidet die neue Studie von Vorgängern wie denen aus Kalifornien oder Südafrika. Frühere Modelle beruhten auf der Annahme, dass „alle Einzeltiere sich gleich verhalten und das Gebiet auf dieselbe Weise nutzen“, sagt Winton. Das habe jedoch einen großen Einfluss auf die Genauigkeit der finalen Schätzung „Unser Modell bezieht mit ein, dass Haie ein Gebiet auch mal verlassen und wieder zurückkehren, und bildet ab, wo einzelne Haie sich entlang der Küste bevorzugt aufhalten.“

    „Diese Art von Studie ändert hinsichtlich des Weißen Hais und ihm ähnlicher Spezies wirklich alles“, sagt Taylor Chapple, Haiforscher und Assistenzprofessor an der Oregon State University, der an der Studie nicht mitgearbeitet hat. „Mit dieser Methode können wir große Teile einer Population identifizieren und haben so in Bezug auf die Belastbarkeit der Zahlen eine größere Sicherheit.“

    Ungewöhnliche Jagdstrategie

    Ergänzend zu der Studie erstellte das Center for Coastal Studies in Cape Cod mithilfe von Sonar eine Karte der Haibewegungen in dem Gebiet. Dabei zeigte sich, dass die Weißen Haie dort eine einzigartige Jagdstrategie nutzen.

    Normalerweise stellen die Tiere ihrer Beute erst unbemerkt nach, bevor sie einen Luftsprung machen und dabei das ahnungslose Opfer mit sich reißen. Doch die Weißen Haie von Cape Cod jagen im seichten Wasser nahe der Küste. Dabei patrouillieren sie entlang der Sandbänke und warten, bis sich hungrige Kegelrobben auf Futtersuche begeben. Die Erforschung dieses ungewöhnlichen Verhaltens könnte Experten dabei helfen, die Bewegungen der Haie vorherzusagen und so Gebiete zu identifizieren, in denen man besser nicht schwimmen sollte.

    Im Jahr 1997 hat die US-Regierung Weiße Haie unter Schutz gestellt, im Jahr 2005 zog der Bundesstaat Massachusetts nach. Seitdem sind die Populationen an der Ostküste der USA stetig gewachsen.

    Foto von Brian J. Skerry, Nat Geo Image Collection

    Sicherheit für Badegäste

    Systeme zur Hai-Erfassung sollen Wissenschaft und Öffentlichkeit einen besseren Einblick in die Aktivitäten der Meeresräuber erlauben und der Bevölkerung mehr Sicherheit bringen.

    In den vergangenen 14 Jahren haben die Forschenden in Cape Cod insgesamt 303 Einzeltiere mit akustischen Sendern ausgestattet. Fünf Monitore, die an den äußeren Stränden der Halbinsel aufgestellt wurden, empfangen ihre Signale. Wenn getaggte Haie vorbeischwimmen, wird diese Information sofort an Rettungsschwimmer, Strandaufsicht, Forschungsgruppen und über die Sharktivity-App auch an die Bevölkerung weitergegeben.

    Im Jahr 2022 gab es 193.475 dieser Meldungen. Haie, die sich längere Zeit in der Nähe eines Empfängers aufhalten, lösen möglicherweise mehrmals hintereinander ein Signal aus, sodass diese Zahl nicht unbedingt exakt ist.

    Trotzdem verschaffe sie, soWinton, einen guten generellen Eindruck. „Manche Rettungsschwimmer haben uns gesagt, dass das Alarmsystem ihre Sicht auf die Haie grundlegend verändert hat“, sagt sie. Früher hätten sie gedacht, die Tiere kämen nur in Ausnahmefällen vorbei und würden sich die meiste Zeit im offenen Meer aufhalten. „Das System hat ihnen bewusst gemacht, dass die Weißen Haie im Sommer und Herbst praktisch die ganze Zeit über hier sind.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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