4.200 Kilometer ohne Zwischenstopp: Schmetterlinge überqueren den Atlantik

Distelfalter sind fast überall auf der Welt heimisch – nicht aber in Südamerika. Trotzdem wurden dort Schwärme gesichtet. Mit modernster Forschungstechnik konnte nun ihre Herkunft bestimmt werden. Über eine Wanderung, die alle Rekorde bricht.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 15. Juli 2024, 10:13 MESZ
Einzelner Distelfalter im Flug

Distelfalter (Vanessa cardui) sind dafür bekannt, extrem weite Strecken zurücklegen zu können. Nun hat eine neue Studie gezeigt, dass sie dabei innerhalb einer Generation sogar Ozeane überqueren.

Foto von K.-U. Häßler / adobe Stock

Dass Distelfalter (Vanessa cardui) beeindruckende Strecken zurücklegen, wusste Gerard Talavera, Entomologe am Institut Botànic de Barcelona (IBB) bereits. 2018 machte er sich, gefördert durch ein Stipendium von National Geographic, auf die Suche nach dem Winterquartier der europäischen Distelfalter und fand es im Sahelgürtel Afrikas. Um dorthin zu gelangen, fliegen die Schmetterlinge bis zu 4.000 Kilometer weit und überqueren dabei Mittelmeer und Sahara innerhalb einer Generation.

Dieser ununterbrochene Wanderflug einer Schmetterlingsart galt bisher als der längste bekannte. Ein Rekord, der nun nachweislich gebrochen wurde – von den Distelfaltern selbst. Denn laut einer Studie, die in der Zeitschrift Nature Communications erschienen ist, kann Vanessa cardui sogar den Atlantischen Ozean überqueren: Mindestens 4.200 Kilometer legen die Schmetterlinge ohne Unterbrechung bis an die südamerikanische Küste zurück.

Genom, Isotopen und Pollen analysiert – Rätsel gelöst

Alles begann mit einer Entdeckung, die Talavera im Oktober 2013 an den Atlantikstränden von Französisch-Guayana machte. Dort beobachtete er Schwärme von Distelfaltern – ungewöhnlich, denn ausgerechnet in Südamerika kommt die ansonsten am weitesten verbreitete Schmetterlingsart der Welt eigentlich nicht vor. Die Distelfalter mussten also an den Ort gewandert sein. Doch woher sie kamen, konnte erst jetzt mithilfe innovativer Forschungsmethoden ermittelt werden.

Im ersten Schritt rekonstruierte das Studienteam unter Talaveras Leitung die Windbedingungen, die in dem Zeitraum vor der Ankunft der Schmetterlinge in Südamerika herrschten. Es ist bekannt, dass Distelfalter sich auf ihren Wanderungen vom Wind tragen lassen und tatsächlich stellte sich heraus, dass dieser vor Oktober 2013 für einen Flug von Westafrika nach Südamerika äußerst günstig stand.

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Als nächstes wurde das Genom der Distelfalter von Französisch-Guyana sequenziert und mit dem von Populationen in anderen Teilen der Welt abgeglichen. Es bestand die Möglichkeit, dass die Schmetterlinge aus Nordamerika nach Französisch-Guyana migriert waren. Die Analyse widerlegte dies aber und zeigte stattdessen eine enge Verwandtschaft zu Artgenossen aus Afrika und Europa.

Von Europa über Afrika nach Südamerika

Diese Herkunft wurde auch durch die genetische Untersuchung von Pollenkörnern untermauert, die sich an den Flügeln der Distelfalter befunden hatten. Laut dieser sogenannten Pollen-Metabarcodierung stammen sie von zwei Pflanzenarten, die ausschließlich im tropischen Afrika wachsen. Von ihren Blüten hatten die Schmetterlinge, bevor sie ihre Reise über den Atlantik antraten, also vermutlich noch genascht.

Einen weiteren Beweis für die Ozeanüberquerung brachte die Isotopenortung – eine Analyse der Wasserstoff- und Strontiumisotope auf den Flügeln der Schmetterlinge. Diese ergab den chemischen „Fingerabdruck“ der Herkunftsregion der Distelfalter und lieferte Informationen über ihren Geburtsort. Dieser lag weit weg vom amerikanischen Kontinent – entweder in Frankreich, Irland, Großbritannien oder Portugal.

„Zum ersten Mal wurde diese Kombination aus molekularen Techniken auf wandernde Insekten angewandt“, sagt Studienautor Clément Bataille, Erd- und Umweltwissenschaftler an der University of Ottawa, Kanada. „Die Ergebnisse sind sehr vielversprechend und lassen sich auf viele andere wandernde Insektenarten übertragen.“ Er geht davon aus, dass diese Forschungsweise das Verständnis der Insektenmigration grundlegend verändern wird.

Verbreitung von Arten durch den Wind

Allein durch Flügelkraft hätten die Distelfalter den Ozean aber nicht überqueren können. Das stellte das Team fest, indem es den Energieaufwand für eine solche Reise bewertete, die bei günstigen Windverhältnissen ohne Zwischenstopps fünf bis acht Tage dauert. Um sie zu bewältigen, müssen die Schmetterlinge regelmäßig vom kräfteraubenden, aktiven Flug zu einem Gleiten mit dem Wind wechseln. „Wir schätzen, dass die Schmetterlinge ohne Wind maximal 780 Kilometer weit fliegen können, bevor sie ihr gesamtes Fett und damit ihre Energie aufgebraucht haben“, erklärt Studienautor Eric Toro-Delgado, Biologe an der University of Ottawa.

Eine große Rolle spielen in diesem Zusammenhang der Studie zufolge die Passatwinde, die Saharastaub vom afrikanischen Kontinent nach Südamerika bringen, der dort den Amazonas-Regenwald düngt. Offenbar transportieren diese Luftströme aber auch lebende Organismen, was nahelegt, dass es natürliche Flugkorridore gibt, die die Kontinente verbinden und die Ausbreitung von Arten in viel größerem Umfang ermöglichen, als bisher gedacht.

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    Aufgrund der globalen Erwärmung und der sich dadurch verändernden Klimamuster ist es den Forschenden zufolge möglich, dass Arten sich in Zukunft häufiger über sehr weite Strecken zurücklegen – mit schwerwiegenden Folgen für die biologische Vielfalt und die weltweiten Ökosysteme. „Es ist wichtig, dass Maßnahmen zur systematischen Überwachung der Ausbreitung von Insekten gefördert werden“, sagt Talavera. „Nur so können Risiken für die Biodiversität infolge des globalen Wandels vorhergesagt und rechtzeitig angegangen werden.“

    Auch unter diesem Aspekt bleibt die lange Reise der Distelfalter ein beeindruckendes Phänomen. „Wir sehen Schmetterlinge normalerweise als Symbole für die Zerbrechlichkeit der Schönheit, aber die Wissenschaft zeigt uns, dass sie unglaubliche Leistungen vollbringen können“, sagt Studienautor Roger Vila, Biologe an der Universitat Pompeu Fabra in Barcelona, Spanien. „Es gibt noch so Vieles, was wir über sie und ihre Fähigkeiten lernen können.“

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