Was passiert, wenn der Weiße Hai verschwindet?
Früher war Seal Island in der südafrikanischen False Bay ein Hotspot für die Beobachtung von Weißen Haien. Jetzt haben die Raubfische das Gebiet verlassen – mit schwerwiegenden Folgen.

Einst waren Weiße Haie wie dieser – hier zu sehen auf einem Bild aus dem Jahr 2014 – in den Gewässern rund um Seal Island in der südafrikanischen False Bay keine Seltenheit.
Geformt wie ein Torpedo, ausgestattet mit bis zu 7,5 Zentimeter langen Zähnen: Der größte bekannte Raubfisch der Welt ist ein furchterregender Anblick. So furchterregend, dass mancher denken könnte, dass ein Ozean ohne Weiße Haie (Carcharodon carcharias) eine gute Sache wäre. Doch das ist nicht so. Die Tiere verschwinden – und dieses Verschwinden löst einen Dominoeffekt aus, der ganze Ökosysteme verändert.
Eine neue Studie, die in der Zeitschrift Frontiers in Marine Science erschienen ist, beschreibt diesen Prozess am Beispiel von Seal Island in der False Bay. Die Bucht vor Kapstadt war einmal ein wahrer Hotspot für Weiße Haie – einer der wenigen Orte auf der Welt, an denen man die Raubfische dabei beobachten konnte, wie sie aus dem Wasser springen, um Beute zu reißen.
„Es war sozusagen Der Weiße Hai – aber in der Luft“, sagt Studienautor Neil Hammerschlag, Meeresökologe und Geschäftsführer der Shark Research Foundation Inc. „In der Natur gibt es kaum einen beeindruckenderen Anblick als den eines fast eine Tonne schweren Weißen Hais, der mit einem Seebären im Maul an einem vorbeifliegt.“
Doch irgendwann war das Schauspiel vorbei. Die Weißen Haie waren weg. Hammerschlag und das Studienteam, das seit dem Jahr 2000 – lange vor dem Rückgang der Hai-Population – in der False Bay forscht, haben in der Studie beschrieben, was dann geschah.
Die Haie von Seal Island
Noch vor zwanzig Jahren war Seal Island Hammerschlag zufolge „der beste Ort auf der Welt, um Weiße Haie zu beobachten“. Doch um das Jahr 2010 herum hielten sich in der False Bay immer weniger Tiere auf. Ab 2015 beschleunigte sich diese Entwicklung und im Jahr 2018 waren die Weißen Haie komplett verschwunden.
Was dazu führte, ist bis heute ein Rätsel. „Über die Gründe kann man viel diskutieren“, sagt Greg Skomal, Hai-Experte der Massachusetts Division of Marine Fisheries, der an der Studie nicht mitgearbeitet hat.
Unter anderem wird vermutet, dass die Raubfische vor Orcas geflohen sein könnten, von denen in den letzten Jahren immer mehr vor Südafrika gesichtet wurden. Orcas können einen Weißen Hai innerhalb von Minuten töten. Abgesehen haben sie es vor allem auf die nahrhafte Leber, die sie mit großer Präzision aus dem Leib ihrer Beute reißen.
Doch auch die Menschen tragen Verantwortung. Pro Jahr verenden zwischen 25 und 30 Weiße Haie in Netzen, die in der Umgebung im Einsatz sind. Die Zahl erscheint zunächst nicht hoch, doch laut Hammerschlag gefährden selbst relativ kleine Verluste die Populationen. Das hängt damit zusammen, dass Weiße Haie erst relativ spät im Leben geschlechtsreif werden: Männchen in ihren Zwanzigern, Weibchen in ihren Dreißigern. Im Schnitt umfasst ein Wurf nur 12 Jungtiere.
Ökosystem verliert eine Schlüsselspezies
Es wird angenommen, dass Haie in ihren Ökosystemen Schlüsselspezies sind. Sie halten ihren Lebensraum sauber, gesund und im Gleichgewicht, indem sie schwache oder kranke Tiere aus der Nahrungskette entfernen. Es ist jedoch herausfordernd, nachzuweisen, dass dies tatsächlich ihre Funktion ist. „Dafür brauchen wir Langzeitdaten”, sagt Skomal. „Ohne die ist es schwierig, solche Effekte auf das Ökosystem herauszuarbeiten.“
Durch die Zusammenarbeit mit einem Ökotourismusunternehmen war es Hammerschlag und seinem Team möglich, „200 volle Tage pro Jahr auf dem Wasser“ von False Bay zu verbringen. Über 20 Jahre lang sammelten die Forschenden Daten – aus der Zeit vor, während, und nach dem Verschwinden der Weißen Haie. „Mit dem, was wir dann beobachtet haben, hätten wir niemals gerechnet“, sagt Hammerschlag.
Plötzlich seien Breitnasen-Siebenkiemerhaie (Notorynchus cepedianus) aufgetaucht – manchmal mehr als 15 Tiere pro Tag. Diese Tiere halten sich normalerweise in den Kelpwäldern in einigen Kilometern Entfernung zu Seal Island auf, in denen sie vor Weißen Haien geschützt sind. „Von null schnellten die Sichtungen auf einen Schlag in den zweistelligen Bereich hoch“, sagt Hammerschlag. „Es war unfassbar.”
Auch die Population der Südafrikanischen Seebären (Arctocephalus pusillus pusillus) auf Seal Island wuchs. Weil sie nun nicht mehr Gefahr liefen, von Weißen Haien angegriffen zu werden, ließen sich Gruppen von Seebären entspannt auf den Wellen treiben – man spricht dann von „Rafting“ – oder versuchten, die Köder der Käfigtaucher zu klauen. „Einige Jahre zuvor wäre das Selbstmord gewesen“, so Hammerschlag.
Wenn die Beute zum Jäger wird
Sowohl Seebären als auch Breitnasen-Siebenkiemerhaie werden von Weißen Haien gejagt. Es macht also Sinn, dass ihre Zahlen stiegen, nachdem der Räuber verschwunden war. Hammerschlag und sein Team wollten wissen, ob sich dadurch auch die Populationen der Beutetiere von Seebären und Breitnasen-Siebenkiemerhaien verändert haben.
Zu ihrem Glück hatte die Biologin Lauren De Vos im Jahr 2012 für eine andere Studie in dem Gebiet Kameras installiert und eine Momentaufnahme der Fischpopulationen erstellt. Hammerschlag und sein Forschungsteam kopierten ihre Methode und liehen sich sogar dieselbe Ausrüstung, die De Vos benutzt hatte. Wie zu erwarten zeigte der Vergleich der alten mit den neuen Datensätzen einen Rückgang der typischen Beutetierpopulationen von Seebären und Breitnasen-Siebenkiemerhaien. Es gab weniger Sardellen und Kap-Bastardmakrelen sowie weniger Graue Glatt- und Pyjamahaie.
Das beweist: Mit dem Verschwinden des Weißen Hais nahmen die Populationen seiner Beutetiere zu, was wiederum zu einem Schrumpfen der Populationen von Spezies führte, die diesen Tieren als Beute dienen.
Diese Beobachtung legt nahe, dass diese Veränderungen der Populationsgrößen nicht in Verbindung mit Umweltverschmutzung oder anderen Beeinflussungen des Ökosystems von außen stehen. „Hätten wir hier einen Fall von Zerstörung des Lebensraums, würden alle Populationen kleiner werden“, so Hammerschlag.
Günstig für diese Forschung war der Umstand, dass es sich bei der False Bay um ein kleines Gebiet handelt, das von einer relativ überschaubaren Zahl an Spezies bewohnt wird. „Hammerschlag konnte diesen Zusammenhang herstellen, weil er weiß, wer in False Bay wen frisst“, so Skomal.
Je größer die Artenvielfalt in einem Ökosystem, desto komplizierter sei es, die Nahrungskette zu verstehen und herauszufinden, welche Auswirkungen das Verschwinden einer Spezies auf sie hat. In Lebensräumen wie dem Golf von Maine vor der amerikanischen Ostküste, in dem Hunderte verschiedene Arten leben, sei es sehr viel schwieriger, einen solchen Nachweis zu erbringen.
Eine Zukunft ohne Weiße Haie
Wie geht es nun weiter in der False Bay? Ein mögliches Szenario wäre, dass Seebären und Breitnasen-Siebenkiemerhaie irgendwann keine Nahrung mehr finden. Es sei zu früh, um zu sagen, ob dadurch das Ökosystem zusammenbrechen würde, so Skomal. „Das ist die nächste Frage, die geklärt werden muss: ‚Gibt es zu viele Seebären?‘“, sagt er.
Weiße Haie und ihre beeindruckende Flugshow sind im Gebiet von Seal Island inzwischen jedenfalls nicht mehr als eine Erinnerung. „Heute käme man nicht darauf, dass das hier einmal ein echter Hotspot war“, sagt Hammerschlag.
Dass das Verschwinden der Weißen Haie das Ökosytsem so deutlich verändert hat, zeigt ihm zufolge, wie wichtig der Schutz der Tiere ist – und dass unbedingt Maßnahmen zum Schutz von Strandbesuchern vor Haiangriffen gefunden werden müssen, die die Tiere nicht in Gefahr bringen. „Wir können das Verhalten der Orcas nicht beeinflussen”, so Hammerschlag. „Aber wir können die Netze entfernen – die sind eine rückständige Idee.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
