Tödliches Virus breitet sich unter den Tieren der Arktis aus

Mit Verschlimmerung des Klimawandels steigt auch die Angst vor dem Virus. Früher fand man es nur in europäischen Gewässern, doch jetzt könnte es sich auch an der Westküste der USA ausbreiten.

Von Sarah Gibbens
Veröffentlicht am 11. Nov. 2019, 12:47 MEZ
Diese Stellerschen Seelöwen schwimmen vor der Küste von British Columbia im Meer. Wissenschaftler sind besorgt, dass ...
Diese Stellerschen Seelöwen schwimmen vor der Küste von British Columbia im Meer. Wissenschaftler sind besorgt, dass das tödliche Virus, das unter den Tieren weiter im Norden grassiert, sich durch das Abschmelzen des Eises in südliche Richtung ausbreiten könnte. Damit könnten sich auch die Meeressäuger vor der Küste Kaliforniens infizieren.
Foto von Thomas P. Peschak, Nat Geo Image Collection

Als im Jahr 2004 bei den ersten Seeottern in Alaska das Phocine Distemper Virus (PDV) diagnostiziert wurde, standen die Forscher vor einem Rätsel. Das Pathogen der Morbillivirus-Gattung, zu der auch beispielsweise der Masernerreger gehört, war bislang nur in Europa und der Ostküste von Nordamerika aufgetreten.

„Wir haben nicht verstanden, wie die Seeotter in Kontakt mit einem Virus aus dem Atlantik kommen konnten. Diese Tierart wandert nicht über große Strecken“, sagt Tracey Goldstein, eine Wissenschaftlerin an der University of California Davis, die untersucht hat, wie sich Pathogene in marinen Ökosystemen verbreiten.

Mithilfe von Forschungsdaten aus 15 Jahren von 2001 bis 2016 gelang es Goldstein und ihrem Team, das Auftauchen von PDV mit dem Rückgang des Eises im Nordpolarmeer in Verbindung zu bringen. Dieser neu entstandene Korridor hat es wahrscheinlich infizierten Ottern ermöglicht, in Richtung Westen in neue Gebiete abzuwandern, in denen das Virus bislang nicht aufgetreten war. Die Ergebnisse der Studie wurden am 2. November 2019 im Wissenschaftsmagazin „Scientific Reports“ veröffentlicht und legen dar, wie der Klimawandel unter Umständen der Ausbreitung von Krankheiten den Weg bereitet.

Von Europa nach Nordamerika

PDV wurde zum ersten Mal im Jahr 1988 in Nordeuropa dokumentiert, wo geschätzt 18.000 Robben – insebsondere Seehunde – an ihm starben. Einen ähnlichen Ausbruch gab es 2002. Es ist unklar, woher PDV ursprünglich stammt. Einige Forscher gehen davon aus, dass es aus der Arktis kommt, doch Abwandlungen von PDV gibt es bei Dutzenden von anderen Tierarten. So werden beispielsweise Haushunde regelmäßig gegen die Hundeversion Staupe geimpft.

Wie auch bei Hunden verursacht das Virus bei Robben unter anderem Atembeschwerden, Ausfluss aus Nase und Augen, Fieber, und bei den Meeressäugern desorientiertes Schwimmen.

Es breitet sich über den direkten Kontakt eines Tieres mit einem anderen aus, oder wenn ein Tier mit infizierten Exkrementen in Berührung kommt.

„Das Virus kann sich sehr leicht unter Meeressäugtieren verbreiten“, erklärt Shawn Johnson, der Vizepräsident für Tiermedizin am The Marine Mammal Center in Sausalito, Kalifornien.

Der erste große Ausbruch von PDV entlang der us-amerikanischen Ostküste fand 2006 statt. Während des vorangegangenen Jahres verzeichneten die Wetter- und Ozeanografiebehörde der USA laut eigener Aussage eine abnormal hohe Anzahl toter Robben an den Küsten von Maine bis Virginia. Testergebnisse identifizierten PDV als Hauptursache.

Um zu rekonstruieren, wann und von woher das PDV sich aus Nordeuropa bis in den Pazifik vor Alaska ausgebreitet hat, nutzten Goldstein und ihr Team Studien und Aufzeichnungen von biologischen Proben, die 2.530 lebenden und 165 toten Robben verschiedener Arten entnommen wurden, die zumindest einige Zeit im Jahr auf dem arktischen Eis verbringen. Dann vergleichen sie diese Daten mit denen über das Meereseis der arktischen Eiskappe. In Jahren, in denen das Meereseis stark abschmolz, stiegen die Fälle von PDV in den darauffolgenden Jahren signifikant an.

Die Datenlage der Studie endet im Jahr 2016. In den drei Jahren bis heute ist das Eis im Nordpolarmeer weiter geschrumpft.

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Wegbereitung für Ansteckung

Weniger Meereseis bedeutet neue Wanderrouten für Meerestiere. Sie können dadurch leichter über den Polarkreis vom Atlantik in den Pazifik gelangen. Goldstein erklärt, dass der zusätzliche Stress, den Nahrungsknappheit mit sich bringt, das Immunsystem der Tiere zusätzlich schwächen kann und sie so anfälliger für das Virus macht.

„Sie wandern immer weiter auf der Suche nach Nahrung. Das beeinträchtigt ihren Gesundheitszustand und sie werden anfälliger für Krankheiten“, sagt sie.

Weil so viele marine Tierarten in die Arktis wandern, könnte das ein Herd für die Erkrankung sein, von dem aus sie sich ausbreitet.

„Die Arktis könnte ein perfekter Schmelztiegel für die Übertragung der Krankheit sein“, meint Johnson.

Noch hat das Virus es nicht bis nach Kalifornien geschafft, doch Johnson und einige andere Wissenschaftler bleiben wachsam. Es gibt großes Potenzial für das Virus, sich weiter nach Süden auszubreiten, sagt er. Viele Meerestierarten in Kalifornien ziehen nach Norden, interagieren dort mit Tieren, die aus noch weiter nördlichen Regionen kommen, in denen das Virus bereits dokumentiert wurde.

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Es ist möglich, einige Meeressäugetierarten gegen PDV zu impfen, aber das in großem Stil zu machen, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, ist schwierig, berichten die Forscher. Die Hawaii-Mönchsrobben werden regelmäßig gegen PDV geimpft. Diese Spezies umfasst nur noch etwa 1.400 Tiere und die Erkrankung hat sich zwar noch nicht so weit nach Süden verbreitet, doch ihre potentiellen Auswirkungen bereiten den Naturschützern große Sorge.

Goldstein sagt, dass es noch viel Unklarheit über PDV gibt und wie sich das Virus im Zuge des Klimawandels entwickeln wird, wenn die Eiskappe im Nordpolarmeer weiter schrumpft.

Johnson gibt außerdem an, dass die Wissenschaftler noch weitere Krankheiten außer PDV auf dem Schirm haben, die sich aufgrund des Klimawandels ausbreiten könnten. Leptospirose, ein Bakterium, das von Tiere auf den Menschen übergehen kann, ist auf dem Vormarsch und während der Algenblüte werden Fische mit Toxinen infiziert, die Hirnschäden bei Meeressäugern verursachen. 

„Wir müssen wachsam bleiben und die Augen aufhalten“, meint Johnson. „Die Krankheiten, die sich weltweit ausbreiten, könnten sich auch jederzeit verändern.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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