Viele Länder verfehlen ihre Klimaziele. Den Preis zahlen wir alle

Wissenschaftler warnen vor „unsäglichem menschlichen Leid“, wenn die Länder der Welt nicht zusammenarbeiten, um die globale Erwärmung zu beschränken.

Von Stephen Leahy
Veröffentlicht am 7. Nov. 2019, 12:07 MEZ
Ölsandanlagen wie diese in Kanada produzieren mehr Treibhausgase als die Rohölproduktion. Wenn die Regierungen eine Klimakatastrophe ...
Ölsandanlagen wie diese in Kanada produzieren mehr Treibhausgase als die Rohölproduktion. Wenn die Regierungen eine Klimakatastrophe verhindern wollen, muss Öl bis zur Mitte des Jahrhunderts durch erneuerbare, saubere Energiequellen ersetzt werden, wie es in einem neuen Bericht heißt.
Foto von Aaron Huey, Nat Geo Image Collection

Für das Pariser Klimaabkommen haben 184 Länder zugesagt, ihre Kohlendioxidemissionen bis 2030 zu reduzieren. Die meisten der Zielwerte reichen aber bei Weitem nicht aus, um die globale Erwärmung auf unter 2 °C zu beschränken. Manche Länder werden ihre eigenen Ziele nicht mal erreichen, während einige der größten CO2-Sünder der Welt ihren Ausstoß weiterhin vergrößern werden, resümierte ein Gremium aus weltweit führenden Klimawissenschaftlern.

In ihrem Bericht, zu Deutsch „Die Wahrheit hinter den Zusagen zum Pariser Klimaabkommen“, warnen die Forscher, dass ein Versäumnis bei der Emissionsreduzierung bis 2030 jeden Tag zwei Milliarden Dollar an wirtschaftlichen Verlusten mit sich bringen wird. Größtenteils werden diese Verluste auf Wetterereignisse zurückgehen, die durch den menschengemachten Klimawandel verschlimmert werden. Der Schaden ist aber nicht nur finanzieller Natur: Auch die menschliche Gesundheit, Lebensgrundlagen, Nahrung, Wasser und der Artenreichtum werden darunter leiden.

„Die Länder müssen ihre Zielwerte bis 2030 verdoppeln oder verdreifachen, damit wir das große Ziel des Pariser Klimaabkommens noch erreichen“, sagt Sir Robert Watson, der ehemalige Vorsitzende des Intergovernmental Panel on Climate Change und Co-Autor des Berichts.

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„Wir haben die Technologie und das Wissen, um diese Emissionen einzusparen. Was noch fehlt, sind entsprechend strikte Politiken und Richtlinien, um das auch umzusetzen“, sagte Watson in einem Interview. „Derzeit steuert die Welt auf 3 bis 4 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts zu.“

Damit riskieren wir natürliche Rückkopplungen wie das Tauen des Permafrostbodens im großen Maßstab oder ein gewaltiges Waldsterben, was die unkontrollierte Erwärmung wiederum beschleunigen könnte. Wissenschaftler sprechen in diesem Fall von einem Heißzeit-Szenario: Der Meeresspiegel steigt zwischen 10 und 60 Meter an und weite Teile des Planeten werden unbewohnbar.

Um diese Zukunft abzuwenden, muss die Erwärmung auf unter 2 °C beschränkt werden. Die weltweiten Emissionen müssen bis zum nächsten Jahrzehnt halbiert und bis zur Mitte des Jahrhunderts auf einen Nettowert von Null gebracht werden, sagt der Energieökonom Nebojsa Nakicenovic. Er ist der ehemalige Leiter des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse in Österreich.

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    Die Analyse der 184 individuellen Zielsetzungen für 2030 hat ergeben, dass 75 Prozent davon ungenügend sind. Der größte und der viergrößte Verursacher von Treibhausgasen, China und Indien, werden bis 2030 sogar erhöhte Emissionswerte haben. Die USA sind der zweitgrößte Verursacher. Auch deren Zielwert ist zu gering angesetzt – und ohnehin nicht verlässlich, da die Regierung unter Trump ihre Austrittsabsicht aus dem Abkommen bekanntgegeben hat.

    Russland als fünftgrößter Verursacher hat sich gar nicht erst damit aufgehalten, einen Zielwert festzulegen. Einzig die EU als drittgrößter Verursacher will seine Emissionen bis 2030 um 40 Prozent reduzieren und wird es vermutlich sogar auf eine 60-prozentige Reduktion bringen.

    Das Praktische an diesem Bericht sei, dass man ganz leicht sehen könne, welche Länder bereits führend sind und welche hinterherhinken, erklärt Watson. „Wir erleben schon heute die Auswirkungen des Klimawandels. Wenn wir weiter warten, bis wir handeln, steuern wir unausweichlich noch höheren Temperaturen und noch schlimmeren Auswirkungen entgegen“, sagt er.

    Der Bericht wurde vom Universal Ecological Fund veröffentlicht. Die gemeinnützige Organisation möchte öffentlich zugängliche Informationen zum Klimawandel zur Verfügung stellen, um die Menschen dazu zu motivieren, sich für den Klimaschutz einzusetzen.

    Bill Hare nennt den Bericht ein „weiteres, wissenschaftlich fundiertes Beweisstück“, welches die öffentlichen Forderungen nach mehr Klimaengagement von Regierungen und Unternehmen rechtfertigt. Hare ist ein Klimawissenschaftler des Unternehmens Climate Analytics mit Sitz in Berlin. Er selbst hat an dem Bericht nicht mitgeschrieben, wirkt aber am Climate Action Tracker mit, der die Klimapolitik und die Ziele des Pariser Klimaabkommens wissenschaftlich analysiert.

    Hare weist darauf hin, dass ärmere Länder ihre Emissionen nur geringfügig reduzieren können, wenn sie die versprochene Förderung und technische Unterstützung von reicheren Ländern nicht erhalten. Watson sieht das ähnlich und sagt, dass es größtenteils die wohlhabenden Länder waren, die das Klimaproblem verursacht haben, und deshalb nun auch weniger entwickelte Länder unterstützen müssen. „Wenn wir dieses Problem lösen wollen, müssen alle mit an Bord sein“, sagt er.

    Alle Länder müssen ihre Bemühungen verstärken, akzeptieren, dass die weltweiten Emissionen bis 2050 auf einen Nettowert von Null reduziert werden müssen, und entsprechend große Schritte einleiten, um dieses Ziel zu erreichen, sagt Niklas Höhne vom NewClimate Institute in Berlin.

    Das bedingt große Verbesserungen in der Energieeffizienz. 2.400 Kohlekraftwerke müssen im kommenden Jahrzehnt geschlossen und durch erneuerbare Energiequellen substituiert werden. Das ist nicht nur möglich, es wäre auch noch kosteneffektiv. Stattdessen befinden sich derzeit weltweit 250 neue Kohlekraftwerke im Bau, heißt es im Bericht.

    „Die politischen Führer müssen eine neue Politik auf den Weg bringen, um Kohlekraftwerke zu schließen und saubere, erneuerbare Energiequellen zu fördern“, sagt James McCarthy, ein Professor für Ozeanografie an der Harvard University.

    Die derzeitigen Bemühungen der Regierungen werden den Klimawandel nicht maßgeblich verlangsamen, sagte McCarthy in einem Statement.

    Globaler Klimanotstand

    Das umfassende Versäumnis, angemessen auf die existenzielle Bedrohung zu reagieren, die der Klimawandel darstellt, veranlasste mehr als 11.000 Wissenschaftler aus 153 Ländern dazu, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der sie vor einem weltweiten Klimanotstand warnen. „Wissenschaftler haben die moralische Verpflichtung, die Menschheit deutlich vor katastrophalen Bedrohungen zu warnen“, beginnt die Erklärung, die unabhängig von dem Bericht veröffentlicht wurde.

    Die Erklärung erschien im Fachmagazin „Bioscience“ und listet sechs kritische Schritte auf, mit deren Hilfe die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels abgemildert werden können. Außerdem gibt sie 29 „Lebenszeichen“ an, die den Fortschritt in bestimmten Bereichen verdeutlichen. Diese „Lebenszeichen“ werden in Form von Diagrammen dargestellt, die diverse menschliche Aktivitäten über die letzten 40 Jahre aufzeigen, die zum Klimawandel beigetragen haben: unter anderem Energieverbrauch, Entwaldung und Flugverkehr. Die Diagramme zeigen auch die daraus resultierenden Auswirkungen auf das Klima, beispielsweise die steigende Menge an CO2 und den Verlust des Meereises.

    Um „unsägliches menschliches Leid“ zu vermeiden, sei eine massive Reduzierung der Emissionen nötig, warnen die Wissenschaftler in der Erklärung. Das bedeutet unter anderem eine Reduzierung des Fleischkonsums und der Lebensmittelverschwendung sowie die Steigerung der Energieeffizienz durch erneuerbare Energien. 

    Die Lösungswege für das Klimaproblem in der Erklärung sind keineswegs neu, sagt auch der Hauptautor William Ripple von der Oregon State University. Aber mit der Auflistung der sechs Lösungsschritte und „den einfachen grafischen Darstellungen, die zeigen, wo wir vor 40 Jahren standen und was sich seitdem verändert hat“, hoffen die Autoren, die Situation für jeden einfach verständlich dargestellt zu haben, so Ripple.

    „Die Bürger müssen überall auf der Welt politisch aktiver werden. Und die politischen Entscheidungsträger müssen ihre Klimapläne dramatisch verbessern“, sagt er.

    Schon heute involviert sich die Öffentlichkeit mehr in den Diskurs. Millionen Menschen haben sich im September an den weltweiten Klimastreiks beteiligt. Viele Länder, Bundesstaaten, Provinzen, Städte und Unternehmen reagieren auf die Forderungen nach mehr Klimaschutz, sagt er.

    In den USA wird das Thema derzeit besonders kontrovers diskutiert. Die US-Wahlen 2020 werden sich um den Klimawandel drehen, sagt Ripple. „Das tun sie schon jetzt.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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