Ernährung Berlins: Versorgung aus der Region möglich?

Der Großteil der Lebensmittel für Berlin wird hunderte bis tausende Kilometer entfernt produziert. Dabei könnte die Grundversorgung aus der Region kommen.

Von Marius Rautenberg
Veröffentlicht am 15. Aug. 2022, 10:56 MESZ
Lebensmittel Gemüse

Der Großteil der Lebensmittel für Berlin wird hunderte bis tausende Kilometer entfernt produziert. Dabei könnte die Grundversorgung aus der Region kommen.

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Die 60 Milchkühe auf dem Hof von Landwirt Hans-Günther Hartmann in Lobetal in der Nähe von Bernau haben die freie Wahl: Sie können auf der Weide grasen oder im Stall einen Mix aus Gräsern, Mais, Lupinen und Getreide zu sich nehmen, „ein hochschmackhaftes und energiereiches Futter, das für die Tiere sehr bekömmlich ist“, wie Hartmann in einem Video erklärt. Zu sehen ist es auf der Website des Projektes „Wo kommt dein Essen her?“ Die von der Stadt Berlin ins Leben gerufene Initiative will vor allem Kindern ein Bewusstsein vermitteln für die Herkunft und Erzeugung von Lebensmitteln. Von dem Lobetaler Hof geht die Milch an eine Molkerei in Biesenthal, dann weiter an eine Catering-Firma im Süden Berlins, die wiederum die Schulen der Stadt beliefert.

​Regionale Landwirtschaft: Weniger anfällig für Klimawandel

Bei manchen Produkten wie Milch oder Gemüse sind solche regionalen Versorgungswege nicht unüblich. Doch den Großteil seiner Lebensmittel bezieht Berlin von den globalen Nahrungsmärkten. Laut Doktor José Luis Vicente Vicente vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF e.V.) wird nur ein Bruchteil der landwirtschaftlich genutzten Flächen für die Ernährung vor Ort verwendet. Brandenburg hat 1,3 Millionen Hektar an Äckern und Weideland, der Großteil dient zur Produktion von Futtermitteln und Getreide weitgehend für den Export. Gemüse hingegen kommt nur auf eine Anbaufläche von 6000 bis 7000 Hektar.

Dabei ist das globalisierte Ernährungssystem besonders anfällig für Störungen, wie Beatrice Walthall vom ZALF berichtet: „Der Großteil der Produktion geschieht für große Konzerne, die in globale Lieferketten eingebunden sind. Die Lieferung funktioniert mit Just-in-Time-Logistik. Ständig müssen die Produkte in allen Ebenen nachgeliefert werden. Geschieht dies nicht, tun sich nach sieben Tagen Engpässe auf. Es gibt eine niedrige Resilienz bei unterbrochenen Lieferketten. Das wurde durch die Corona-Pandemie und den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine offengelegt.“ Besonders in Brandenburg finden sich große landwirtschaftliche Betriebe, eine Folge der Zentralisierung in der ehemaligen DDR. Der industrielle Anbau von Futtermitteln, Massentierhaltung und Monokulturen trägt auch zunehmend zu ökologischen Problemen bei, wie die zunehmenden Dürren zeigen.

Monokulturen wie dieses Rapsfeld in Brandenburg sind einfach zu bestellen, aber tragen zu ökologischen Problemen bei.

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Der Landschaftsökologe Timo Kaphengst ist mit diesem Problem vertraut. 2018 sei bereits ein extremes Dürrejahr gewesen, das Jahr 2022 erneut. „Ab einem gewissen Punkt muss man fragen, welche Formen des Anbaus überhaupt noch möglich sind. Bestimmte Produkte können im Hochintensivanbau ohne Wasserzufuhr in Zukunft gar nicht mehr angebaut werden. Und man muss genau berechnen, inwieweit die Beregnung die Grundwasserreserven aufbraucht.“ Mit dem Klimawandel sei es dringend notwendig, die Biodiversität zu erhöhen. Hier könne die regionale Landwirtschaft einen Beitrag leisten. Großbetriebe müssten ihre Aussaat diversifizieren, „nicht nur Futtermittel für die Schweinezucht anbauen, sondern auch gezielt für den Absatzmarkt Berlin produzieren.“

Tätig ist Kaphengst für die Regionalwert AG Berlin-Brandenburg, einem Unternehmen, das sich als Bürgeraktiengesellschaft versteht. Jeder kann hier Aktien zeichnen, die Gelder investiert die Regionalwert AG in nachhaltig wirtschaftende Betriebe. Ziel ist es, Kooperationen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu entwickeln: So können etwa Obstgärten direkt ihre Äpfel an Mostereien in der Region liefern, der dort gepresste Apfelsaft geht in kooperierende Lebensmittelmärkte. Für Landwirte und weiterverarbeitende Betriebe sei es wichtig, mit sicheren Liefermengen und Absatzmärkten kalkulieren zu können.

Das Problem der Großbetriebe mit ihren Monokulturen sei nicht unbedingt, dass die Landwirte die Notwendigkeit für Veränderungen nicht sehen würden. Doch fehlen oft die Strukturen um große Ernteerträge regional verarbeiten zu können. Kaphengst sieht die Politik in der Verantwortung, Anreize für Investitionen in regionale Strukturen zu schaffen und Ziele vorzugeben.

​Besserer Geschmack mit regionaler Küche

Ob eine regionale Produktion von den Konsumenten angenommen wird, hänge auch vom Angebot ab, so Vicente vom ZALF: „Wir können in der Region mehr als 70 Feldfrüchte anbauen, darunter Kohl, Obst für Säfte, saisonal auch Tomaten und Paprika. Aber wir haben die traditionelle Küche verloren. Überall auf der Welt nutzen wir die selben Zutaten.“ Walthall meint, dass es wichtig sei, die Vorzüge der heimischen Küche zu zeigen: „Man kann die Menschen nicht überreden, aber sie werden regionales Essen annehmen, wenn es besser schmeckt, besser riecht, wenn es mit der regionalen Kultur und Identität verbunden ist. Schon Kinder sollten in Schulgärten- und Küchen mit ihren Händen, Zungen und Sinnesorganen einen Bezug zu ihrem Essen bekommen.“ In Stadtgärten könnten Kinder und Erwachsen Wissen über den Anbau von Gemüse sammeln. In Berlin gibt es laut Walthall bereits über 200 Garten-Projekte mit steigender Tendenz. Diese können nicht nur das Nahrungsangebot ergänzen, sondern auch dem Mikroklima helfen, indem sie Regen aufnehmen und die Lebensqualität verbessern.

Wie vielfältig die regionale Küche sein kann, zeigt sich an den Partnern der Regionalwert AG Berlin-Brandenburg. Sie arbeitet zusammen mit Betrieben, die Leinsaaten und Sonnenblumen anbauen, Käse herstellen, vegane Suppen, verschiedenste Bio-Gemüse, Haferdrinks, Kartoffeln, Säfte und seit neuestem sogar einen Hof, der Safran anbaut – ein Gewürz, das normalerweise in Marokko hergestellt wird.

BELIEBT

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    Das Konzept der Permakultur begreift den Anbau von Lebensmitteln als Teil eines geschlossenen Ökosystems. Die Anbaupflanzen integrieren sich in die natürlichen Prozesse des Nährstoffkreislaufs. Das Konzept der Agrarökologie nimmt die Ideen der Permakultur mit auf, kombiniert mit Nachhaltigkeit in weiteren Bereichen wie Ernährung, Wirtschaft und Verteilung.

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    ​Umstellung des Ernährungssystems: nötig aber aufwändig

    Eine regionale Produktion bedeutet allerdings auch mehr Aufwand und damit höhere Kosten, wie José Luis Vicente ausführt: „Unsere Systeme sind auf Monokulturen aufgebaut, weil sie sehr einfach zu managen sind. Man kann Düngemittel und Pestizide nutzen und mit einer Person 300 Hektar bewirtschaften. Aber für acht Hektar Gemüseanbau sind fünf Arbeitskräfte notwendig, weil die Systeme sehr komplex sind und viele Dinge per Hand erledigt werden müssen.“ An anderer Stelle könne man hingegen beim Transport und im Zwischenhandel sparen. Damit Lebensmittel für die Verbraucher auch bei einem größeren Anteil an regionalem und ökologischen Landbau erschwinglich bleiben, kann sich Walthall vorstellen, dass es günstigere Preise für Personen mit niedrigem Einkommen gibt, wie es bereits in Modellen der solidarischen Landwirtschaft umgesetzt wird. Eine weitere Möglichkeit ist die Versorgung von Kantinen mit bio- und regionalen Lebensmitteln, was die Stadt Berlin bereits angeht.

    Für Kaphengst und das ZALF ist es möglich, die Grundversorgung Berlins und Brandenburgs regional zu organisieren. Allerdings sind die landwirtschaftlichen Maschinen auf eine diversere Produktion nicht eingestellt und die Vertriebswege existieren nicht in ausreichendem Maße, wie Kaphengst meint. Eine vollständige Umstellung werde noch lange dauern, wenngleich laut Walthall bereits eine schnellere Entwicklung zu beobachten sei: Durch die globalen Lieferengpässe müssten sich die Betriebe nach regionalen Alternativen umsehen.

    Ein Konzept für die Zukunft sehen Walthall und Vicente in der Agrarökologie. Dabei arbeitet die Landwirtschaft nicht gegen die Natur, sondern im Einklang mit ihr. Sie will den natürlichen Stoffwechsel der Ökosysteme in den Anbau mit einbeziehen. Doch geht das Konzept darüber hinaus und beinhaltet eine Umstellung unserer Ernährungsweise, der Wirtschaft und Verteilung, hin zu einem sozial gerechten und ökologischen System.

    Kaphengst und die Experten vom ZALF betonen aber, dass man regionale und globale Produktion sowie Bio und konventionelle Landwirtschaft nicht gegeneinander ausspielen solle. Zwar sei es notwendig, das Ernährungssystem umzustellen, aber die verschiedenen Teilbereiche müssten sich sinnvoll ergänzen. Für Berlin könnte es dann sowohl saisonales Obst, als auch regionale Spezialitäten und Gemüse vom Dachgarten geben. Eine leckere und nachhaltige Aussicht.

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