Leeres Meer? Das bedeuten die neuen Fangquoten für die Ostsee

Am 17. Oktober beschloss die EU die Fangquoten 2023 für die Ostsee. Was das für die Fische der Ostsee heißt und wie es den Fischbeständen in der Ostsee geht, weiß Meeresbiologe Dr. Rainer Froese.

Von Julia Kainz
Veröffentlicht am 20. Okt. 2022, 19:04 MESZ
Dorsch

Die Dorsch-Bestände der Ostsee sind in einem schlechten Zustand.

Foto von dirk-stock.adobe.com

Lange galt das Meer als unerschöpflich. Doch heute steht fest: Das ist es nicht. Wird von einer Fischart mehr herausgenommen als nachwachsen kann, spricht man von Überfischung. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) galten 2019 weltweit 35,4 Prozent der kommerziell genutzten Fischbestände als überfischt. Weitere 57,3 Prozent gelten als „maximal nachhaltig genutzt“. Rund sieben Prozent gelten als unterfischt. In manchen Meeren ist die Überfischung noch höher: Im Mittelmeer gelten zum Beispiel mehr als 63 Prozent der Bestände als überfischt.

Wie geht es der Ostsee?

Auch die heimischen Meere bleiben von den weltweiten Entwicklungen nicht verschont. „Die Ostsee ist in einem katastrophalen Zustand, der sich seit Jahren verschlechtert“, sagt Dr. Rainer Froese, leitender Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (GEOMAR). Wie der Fischerei- und Meeresbiologe erklärt, lägen die Anteile an überfischten Beständen in der Ostsee bei etwa 40 bis 50 Prozent. Besonders schlecht gehe es dem westlichen Hering und den zwei Dorschbeständen, die „beide zusammengebrochen“ sind, so Froese. Auch der Lachs ist überfischt. Die Sprotte gilt offiziell nicht als überfischt, doch auch hier ist der Fischereidruck laut Froese zu hoch. Sie könne die starke Befischung nur aushalten, weil ihr natürlicher Fressfeind Dorsch und ihr Nahrungskonkurrent Hering größtenteils wegfallen.

Fischerei in der Ostsee: Fangquoten und ihre Entwicklungen

Betreibe man nachhaltige Fischerei, so könne man im Normalfall rund 20 Prozent eines Bestands pro Jahr entnehmen, erklärt Froese. Dann könnten sich die Tiere reproduzieren und im darauffolgenden Jahr könne man wieder 20 Prozent fischen. So erhalte man außerdem die höchsten Fänge und könne Kosten senken. Denn wenn es viele Fische gibt, sinkt der Aufwand, sie zu fangen. „Was machen wir stattdessen? Wir nehmen 30 Prozent raus, 40 Prozent oder sogar 60 Prozent“, sagt Froese. „Und natürlich schrumpfen dann die Bestände, Fänge, Einnahmen und Anzahl der Fischer.“ Immer weniger Fischer können von ihrem Beruf leben, denn für die wichtigsten Ostsee-Fische Dorsch und Hering gibt es mittlerweile kaum noch Fangquoten. Die Branche befindet sich in einer Krise, viele Fischer stehen vor dem Aus. Gut 400 deutsche Berufsfischer gibt es an der Ostsee noch. In den Neunzigern waren es noch 1.300.

Wie viele Fische aus der Ostsee entnommen werden dürfen, entscheidet die EU jährlich auf Basis von wissenschaftlichen Empfehlungen des „International Council for the Exploration of the Sea“ (ICES). Darauf basierend hat die EU-Kommission im August 2022 ihre Vorschläge für die Fangquoten 2023 abgegeben, im Oktober haben die Agrar- und Fischereiminister der EU endgültig darüber entschieden. Immer wieder werden Fangquoten allerdings über die wissenschaftlich empfohlenen Grenzen gesetzt. Ein Beispiel dafür ist der Dorsch in der östlichen Ostsee. Im Jahr 2004 empfahl der ICES zum Beispiel, maximal 13.000 Tonnen davon zu entnehmen. Die Fangquote wurde auf mehr als 45.000 Tonnen festgelegt. Gefischt wurden am Ende offiziell rund 70.000 Tonnen. Im Jahr darauf wurde empfohlen, gar keinen östlichen Dorsch zu fischen. Die Fangquote wurde auf 42.800 Tonnen festgelegt. Diese Quoten waren keine Einzelfälle, für Froese handelt es sich dabei „um völlig verfehlte Politik.“

Seit 2020 empfiehlt der ICES, die Befischung des östlichen Dorschs vollständig einzustellen. Die Landwirtschaftsminister der EU senkten die Fangquote daraufhin um 92 Prozent, was laut Froese immer noch deutlich höher war „als das, was die Fischer überhaupt noch fangen konnten“. 2022 darf die EU noch 595 Tonnen östlichen Dorsch anlanden – 54 davon Deutschland – die als Beifang bei der Schollen-Fischerei laut EU-Kommission „unvermeidbar“ sind. Auch im Jahr 2023 werden diese Quoten gelten. Dem Dorsch in der westlichen Ostsee geht es ähnlich: Seine Biomasse ist 2021 „auf einen historischen Tiefstand gesunken“, heißt es von der EU-Kommission. Aktuell sind noch 489 Tonnen als Beifang erlaubt, 104 davon für deutsche Fischer. Auch diese Quoten werden 2023 beibehalten. Da die Sprotte wichtige Nahrung für den bedrohten Dorsch darstellt, wurde ihre Quote für 2023 um elf Prozent auf 224.114 Tonnen herabgesetzt.

BELIEBT

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    Beim westlichen Hering empfiehlt der ICES im fünften Jahr in Folge, die Befischung einzustellen. 2019 wurden in der westlichen Ostsee noch gut 9.800 Tonnen Hering gefischt, 2020 knapp 4.000. Seit 2022 ist es nur noch der kleinen Küstenfischerei mit Booten unter zwölf Meter erlaubt, den westlichen Hering gezielt zu befischen. Der Einsatz von Schleppnetzen ist dabei verboten. Ansonsten darf Hering in der westlichen Ostsee nur noch als Beifang angelandet werden. Die Quote liegt aktuell bei 788 Tonnen, 435 davon für Deutschland. Auch 2023 werden diese Quoten gelten. Problemtisch ist, dass der westliche Hering zeitweise in Gebiete der Nordsee wandert und dort gefischt wird. Die Fangmengen müssten in allen Gebieten ausreichend reduziert werden, denn anders ist eine „Erholung kaum möglich“, berichtet das Thünen-Institut für Ostseefischerei. Im Gebiet Skagerrak/Kattegat wurden die Quoten für 2022 deshalb erstmals reduziert.

    Im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten sind die aktuellen Fangquoten zwar sehr gering, doch der Einschätzung von Meeresbiologe Dr. Froese kommen sie zu spät und sind für den aktuellen Zustand von Dorsch und Hering immer noch zu hoch. Selbst die geringen Quoten seien aktuell Überfischung. Man müsse die Befischung dieser Bestände vollständig einstellen und auch Beifang vermeiden, findet er. Das funktioniere zum Beispiel durch die artspezifische Anpassung der Fangmethoden.

    Auch die Freizeitfischerei bekommt die Veränderungen in der Ostsee zu spüren. Angler haben ein sogenanntes „Bag-Limit“ auferlegt bekommen: Seit 2022 darf außerhalb der Schonzeit pro Angler nur noch ein Dorsch und ein Lachs pro Tag geangelt werden. Doch dadurch würden immer noch zu viele Dorsche geangelt werden, findet Froese: „Wir brauchen jeden einzelnen Dorsch, der noch da ist“, sagt der Meeresbiologe.  Außerdem könnte man ein absolutes Verbot besser kontrollieren – das sei jetzt kaum der Fall.

    Der Fischerei- und Meeresbiologe Dr. Rainer Froese ist leitender Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (GEOMAR) und Mitgründer von Fishbase, einem Informationssystem über alle Fische der Welt. Im Oktober 2022 erschien sein neuster wissenschaftlicher Artikel, in dem er gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern ein Ökosystemmodell der westlichen Ostsee entwickelte.

    Foto von Rainer Froese

    Diverse Ursachen für den Zustand der Ostsee

    Für den schlechten Zustand vieler Fischbestände der Ostsee gibt es neben der Überfischung noch weitere Ursachen. Das Ökosystem wird auf verschiedenen Ebenen vor Herausforderungen gestellt, die es zusammengenommen umso stärker gefährden:

    Eine große Gefahr für die Ostsee sei die Überdüngung, erklärt Dr. Rainer Froese. Durch die Landwirtschaft an der Ostsee gelangen zu viele Düngemittel ins Meer, was auf der ersten Ebene, dem Phytoplankton, zu einer massenhaften Vermehrung von Algen führt. Diese sterben ab und werden von Bakterien zersetzt, wobei Sauerstoff verbraucht wird. Die Folge: Der Sauerstoffgehalt im Wasser sinkt. Sauerstoffarme Zonen in den tieferen Becken der Ostsee gab es schon immer, berichtet das Thünen-Institut für Ostseefischerei. Allerdings nehmen diese – für Wirbeltiere nicht bewohnbaren – Areale zu. Der Klimawandel verstärkt dieses Problem: Seit 1982 hat sich die westliche Ostsee laut Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur um 0,6 Grad pro Jahrzehnt erwärmt. So berichtet das Thünen-Institut zum Beispiel, dass Sauerstoffarmut in Bodennähe für die Reproduktion der Dorsche „besonders nachteilig“ sei, da sie dafür salz- und sauerstoffreiches Wasser benötigten. Das heißt: Der Dorsch wird überfischt, hat zusätzlich eine hohe natürliche Sterblichkeit und kann sich nur schwer fortpflanzen – eine fatale Kombination für die Erholung der Bestände. Beim Hering führt die steigende Wassertemperatur dazu, dass Larven früher schlüpfen. Der Zyklus ihrer Beute – kleine Krebse – verschiebt sich allerdings nicht, weshalb die Heringslarven ihre Nahrung oft verpassen und verhungern, berichtet das Thünen-Institut.

    Die zweite Herausforderung für die Ostsee ist Mikroplastik. Die winzigen Plastikpartikel werden durch die zweite Ebene in der Nahrungskette, dem Zooplankton, aufgenommen. Diese kleinen Krebse werden von der dritten Stufe, den kleinen Fischen Sprotte und Hering, gefressen. Diese bilden wiederum eine wichtige Nahrungsquelle für Dorsch, Seevögel, Seehunde und Schweinswale. So gelangen Plastikpartikel in die gesamte Nahrungskette. Hier knüpft das nächste Problem an: Durch zu starke Befischung und veränderte Umweltbedingungen fehlen die kleinen Fische als Nahrungsgrundlage für viele andere Tiere. Zu guter Letzt stabilisiert der Dorsch als größter Räuber auf der vierten und höchsten Ebene der Ostsee-Nahrungskette Missstände im Ökosystem. Doch da sein Bestand zusammengebrochen ist, kann er diese Funktion nicht mehr gut erfüllen.

    „Wir haben alle vier Ebenen des Systems massiv beschädigt“, fasst Froese zusammen. Die Folgen seien nicht absehbar. Es könnte zum Beispiel zu invasiven Arten kommen oder zu einer Ausbreitung von Blaualgen – man könne es einfach nicht vorhersagen, da das System „angeschlagen und außer Kontrolle“ ist.

    Wie kann man die Ostsee retten?

    Wie man den Zustand der Ostsee verbessern kann, ist für Dr. Rainer Froese klar: Man müsse aufhören mit der Überfischung, mit der Überdünung und damit, Plastik ins Meer einzuspülen. Doch auf die Politik will er nicht mehr warten: „Das mache ich seit 30 Jahren, da passiert gar nichts“ sagt er. Sein Lösungsansatz: Alle Gruppen, die Interesse daran haben, dass die Ostsee sich erholt – das sind Fischer, aber auch Angler, Fischhändler, Ketten, Restaurantbesitzer und die Tourismusbranche – müssten sich zusammensetzen und über Maßnahmen nachdenken. „Und da gibt es einige“, sagt Froese.

    Zum Beispiel müsse man die Fangmethoden von Plattfischen optimieren, um Dorsch als Beifang zu vermeiden, erklärt der Meeresbiologe. Eine Möglichkeit wäre, die Höhe der Netze zu reduzieren, sodass nur die Plattfische am Boden gefangen würden. Die Angler müssten auch mitmachen und vorerst keine Dorsche mehr angeln, findet Froese. Und auch die Tourismus- und Restaurantbranche kann einiges tun: Durch Aufklärung und indem sie nur noch nicht-überfischte Arten auf die Speisekarte setzen. Aktuell sind das zum Beispiel Plattfische, erklärt der Meeresbiologe. Die Fangquote der Scholle wurde für 2023 zum Beispiel um 25 Prozent erhöht.

    Auch die Art der Fischerei spielt eine Rolle für die Nachhaltigkeit: Grundschleppnetze zum Beispiel haben einen hohen Beifang-Anteil und zerstören den Meeresgrund. Die beste Fangmethode wären Fallen, sagt Froese. Hierbei könnte man genau regulieren, welcher Fisch gefangen wird und würde auch Beifang verhindern. Aquakulturen stellen Froese zufolge keine Lösung dar, sobald zugefüttert werden müsse. Denn dann seien dafür wieder Ressourcen aus der Natur notwendig. Sprotte wird aktuell zum Beispiel zum Großteil gefischt, um sie als Fischmehl an andere Fische, zum Beispiel Lachse in Aquakulturen, zu verfüttern.

    In der Nordsee ist die Situation übrigens ähnlich. Zwar ist sie nicht so stark von Überdüngung betroffen, aber auch hier spielt die Erwärmung eine Rolle: Von 1969 bis 2017 hat sie sich um durchschnittlich 1,3 Grad erhitzt. Außerdem wurde auch in der Nordsee der Kabeljau – so wird Dorsch außerhalb der Ostsee bezeichnet – in den vergangenen Jahren regelmäßig viel zu stark befischt und ist von schwacher Nachwuchsproduktion betroffen. Allgemein ist also ein nachhaltigerer und bewussterer Umgang mit dem Meer und seinen Ressourcen notwendig – damit auf lange Sicht jeder vom Artenreichtum der Ozeane profitiert: Die Meeresbewohner selbst, aber auch Wirtschaft, Fischer und Konsumenten. Denn immerhin sind 20 Prozent eines großen, gesunden Fischbestandes mehr als 80 Prozent eines überfischten.

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