Ecuador: Erdöl oder Regenwald?

Die kostbare Lebensvielfalt im Yasuní-Nationalpark in Ecuador ist in Gefahr. Tief unter der Erde lagern Hunderte Millionen Barrel Erdöl. Ecuador fordert: Gebt uns drei Milliarden, und wir schützen dieses Paradies.

Von Scott Wallace
Foto von Steve Winter

Von allen Blättern tropft kaltes Wasser auf uns herab, in der Nacht hat es geregnet. Andrés Link schnallt sich seinen kleinen Rucksack auf den Rücken und macht sich auf den Weg. Es ist kurz nach Tagesanbruch, und der Wald ist schon lebendig – überall Gekreisch und Geschnatter, das kehlige Geschrei eines Brüllaffen, das Tock-tock-tock eines Spechts, das Quieken von Totenkopfäffchen. Ein singendes Heulen fängt in der Ferne an, ebbt ab, hebt wieder an.

«Horch!», sagt Link und fasst mich am Arm. «Springaffen. Es sind zwei, sie singen im Duett.» Er imitiert den schrillen rhythmischen Schrei des einen Affen, dann den des anderen. Jetzt kann auch ich die beiden unterschiedlichen Motive erkennen.

Dieser ohrenbetäubende Krach ist für Link die tägliche Hintergrundmusik auf seinem Weg zur Arbeit. Link ist Primatologe, Affenforscher an der Universität Huancayo in Peru. Derzeit sind Weißstirnklammeraffen sein Thema. Jetzt ist er unterwegs zu einer Salzlecke, eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt. Er geht dabei durch das Gebiet mit der vermutlich größten Artenvielfalt auf der Erde.

Beeindruckende Artenvielfalt

Mächtige Kapok- und Feigenbäume mit ausladenden Brettwurzeln ragen wie römische Säulen in das Kronendach hinauf, ihre Äste sind von Orchideen und Bromelien bewachsen. Die wiederum sind der Lebensraum von Insekten, Amphibien, Vögeln und Säugetieren.

Sogar in einer Pfütze, die sich im Hufabdruck eines Tiers gebildet hat, tummeln sich winzige Killifische, eine Art von Zahnkarpfen.

Wir steigen einen Abhang hinunter in einen Wald voller bizarrer Socratea-Bäume. Man nennt sie auch Stelzen- oder Wanderpalmen, da sie auf ihren meterhohen stelzenartigen Wurzeln auf der Suche nach Licht und Nährstoffen tatsächlich ihren Standort wechseln können. Langsam zwar, aber unbeirrbar. Dies ist eine der unzähligen evolutionären Anpassungen, die Forscher rund um die Biodiversitätsstation Tiputini beobachten können. Sie steht auf einer Parzelle unberührten Urwalds am Rand des Nationalparks Yasuní im Osten Ecuadors.

«Man könnte sein ganzes Leben hier verbringen und jeden Tag überrascht sein», sagt Link. Im Urwald um die Station gibt es zehn Affenarten sowie eine größere Anzahl von Vogelarten, Fledermäusen und Fröschen als irgendwo sonst in Südamerika. Hier finden sich auf einem Hektar so viele Insektenarten, wie in ganz Nordame­rika zusammen bekannt sind.

Ursache für diesen Reichtum ist die Lage des Parks am Schnittpunkt von Anden, Äquator und Amazonasregion. Es regnet hier fast jeden Tag, die Jahreszeiten sind kaum unterscheidbar. Son­nenlicht, Wärme und Feuchtigkeit speisen einen brodelnden Brutkessel voller Pilze, Pflanzen, Insekten Amphibien und Säugetiere.

Gefahr Erdöl

Dieser Teil des Amazonasgebiets ist auch die Heimat zweier indigener Völker, der Kichwa und der Huaorani. Sie leben in verstreuten Siedlun­gen entlang der Straßen und Flüsse. Der erste nicht kriegerische Kontakt zwischen den Huaorani und protestantischen Missionaren ist kaum 60 Jahre her. Heute haben die meisten Huaorani und ihre ehemaligen Stammesfeinde, die Kichwa, über Handel und neuerdings auch Tourismus Kontakt mit der Außenwelt. Aber zwei Gruppen der Huaorani verweigern sich dem. Sie ziehen es vor, den Hochlandwald in der zona intangible – der „unantastbaren Zone“ – zu durchstreifen, die zu ihrem Schutz eingerichtet wurde. Das Gebiet überschneidet sich mit dem südlichen Teil des Nationalparks Yasuní, es um­fasst allerdings nicht ihr gesamtes traditionelles Territorium. Die nomadischen Krieger haben Siedler und Holzfäller sowohl innerhalb als auch außerhalb dieses Gebiets angegriffen, zuletzt, soweit bekannt, im Jahr 2009.

Eine grosse Gefahr für die kostbare Lebens­vielfalt des Yasuní geht von einem Schatz tief unter der Erde aus: Dort lagern Hunderte Mil­lionen Barrel Erdöl. Inzwischen wurden viele Förderbereiche in dem Territorium abgesteckt, In dem auch der Park liegt. Ökonomische Inter­essen haben sich gegen den Naturschutz durch­gesetzt. Für ein armes Land wie Ecuador ist die Verlockung, durch Erdöl reich zu werden, na­hezu unwiderstehlich. Die Hälfte der Export­einnahmen des Landes stammen bereits aus Quellen, die in seinen Ostprovinzen im Amazonasgebiet liegen. Doch mittlerweile wird auch an mindestens fünf Stellen im Norden des Nationalparks aktiv gebohrt.

Umweltschutz für drei Milliarden Euro

Das Land könnte künftig aber auch Geld damit verdienen, sein Öl nicht zu fördern. Im Jahr 2007 hatte Präsident Rafael Correa erstmals vor der Uno angeboten, geschätzte 850 Millionen Barrel Öl in der nordöstlichen Ecke des Yasuní «auf immer» unangetastet zu lassen.

Sie lagern unter dem sogenannten ITT-Areal (nach den drei Ölfeldern Ishpingo, Tambococha und Tiputini benannt). Die Weltgemeinschaft soll dafür umgerechnet etwa drei Milliarden Euro zahlen. Als Gegenleistung werde die Natur geschützt, und der Atmosphäre blieben rund 410 Millionen Tonnen des Treibhausgases Kohlendioxid erspart, rechnete Correa vor. Ecuador wolle das Geld zur Förderung erneuerbarer Energien und zur Umsetzung von Erziehungs- und Gesundheitsprogrammen verwenden.

Im Land selbst ist die Yasuní-ITT-Initiative äußerst populär, Umfragen belegen ein wachsendes Bewusstsein für den ökologischen Wert des Nationalparks. Die internationale Reaktion dagegen ist zurückhaltend. Bis Mitte 2012 wurden nur etwa 155 Millionen Euro als Kompensationszahlungen zugesagt. Correa versuchte deswegen durch eine Serie geharnischter Ultimaten, seinem Angebot Nachdruck zu verleihen. Kritiker veranlasste das, seinen Vorschlag als Erpressung zu bezeichnen. Derzeit ist die Initiative erlahmt, die Erschließung der Ölfelder schreitet im Osten Ecuadors voran, auch innerhalb der Nationalparkgrenzen.

Vorrückende Ölfront

Eine halbe Stunde nachdem Andrés Link das Labor der Biodiversitätsstation Tiputini verlassen hat, erreicht er die Öffnung einer niedrigen Höhle am Fuß einer tiefen Schlucht. Hier ist die Salzlecke, zu der er wollte. Doch an diesem Morgen sind keine Affen hier. «Sie haben Angst vor Jaguaren und Adlern», sagt er und schaut durch das Kronendach in den milchig weißen Himmel. «Wenn es so bedeckt ist, kommen die Affen nicht gern herunter.» Die Tiere reagieren damit auf eine aktuelle Gefahr. Link jedoch beschäftigt mehr eine langfristige, potenziell endgültige Bedrohung: die vorrückende Ölfront. «Ich fürchte, es fängt ganz klein an, und dann ...»

Am Abend sind wir wieder in der Station. Ich sitze mit Gründungsdirektor Kelly Swing auf der Dachterrasse, wir sprechen über die Veränderungen, die er wahrnimmt, während die Maschinen der Ölgesellschaften näher rücken. «Wir spüren den Druck bereits», sagt Swing. «Sie sind nah genug, um uns nervös zu machen.»

Die nächstgelegenen Produktionsanlagen liegen nur 13 Kilometer nordöstlich. Dort bohrt die staatliche Ölgesellschaft Petroamazonas. Die Biologen erzählen, sie würden im Wald oft das Brummen von Generatoren hören. Niedrig fliegende Hubschrauber ließen die Tiere, die sie beobachten wollten, oft in Panik auseinanderstieben. Früher hatte man vom Aussichtsturm der Station – 36 Meter über dem Boden, in den Ästen eines majestätischen Kapokbaums – eine atemraubende Sicht auf den Nachthimmel. Heute ist sie verdorben durch das Leuchten abgefackelter Gase an der Bohrstelle.

Ob Präsident Correas Yasuní-ITT-Initiative letztlich Erfolg habe oder nicht, sagt Swing, werde auf dieses Stückchen Wald um uns herum vermutlich keinen direkten Einfluss haben. Ein Scheitern würde aber den Naturschutz in der Region insgesamt schwer treffen. Er fürchte eine Welle neuer Projekte zur Erschließung von Ölfeldern. Sie könnten weit in die südliche Hälfte des Nationalparks hineinreichen, vielleicht sogar bis in die zona intangible.

«Jede neu erteilte Konzession ist so etwas wie ein weiterer Trittstein in bislang unberührtes Gelände», sagt er. «Ein Gebiet nach dem anderen wird erschlossen, und mit jedem steigt der Druck auf die bislang verschonten Areale, die weiter im Osten und im Süden liegen.»

Unvorhersehbare ökologische Konsequenzen

Die zuständigen Regierungsabteilungen in Ecuador wiegeln ab. Offiziell heißt es, selbst in empfindlichen Habitaten könne verantwortungsvoll Öl gefördert werden. Die aktuellen Verfahren seien viel umweltschonender als die Methoden der siebziger und achtziger Jahre. Der amerikanische Ölgigant Texaco soll damals er­ heblich verseuchtes Terrain hinterlassen haben. Chevron, Texacos Mutterkonzern, hatte deswegen einen Rechtsstreit mit indigenen Gruppen. Anfang 2012 wurde Chevron zur Zahlung von 18 Milliarden Dollar Schadenersatz verurteilt, das Unternehmen kündigte jedoch an, die Entscheidung anzufechten.

Dabei habe die Erschließung artenreicher Tropenwälder wie im Nationalpark Yasuní unabsehbare ökologische Konsequenzen, sagt Swing. Angefangen bei der Tatsache, dass Nacht für Nacht zahllose der Wissenschaft bislang noch unbekannte Insektenarten in den Gas­fackeln verbrennen würden. In Wäldern, in de­nen Öl gefördert wird, würden 90 Prozent aller Arten ausgerottet. «Wir müssen uns ernsthaft die Frage stellen: Ist das hinnehmbar?»

Einige Tage später schließe ich mich einem Team von Biologen der Wildlife Conservation Society (WCS) an. Es nieselt, als wir in ein Boot steigen, das uns auf dem Tiputini flussab Rich­tung Osten trägt. Weißrindige Ameisenbäume säumen den Flusslauf an der Nordgrenze des Nationalparks. Von den Ästen gewaltiger Kapokbäume über uns hängen die Beutelnester von Stirnvögeln herab.

Eine Weile ist das Knattern des Außenbord­motors das einzige Zeichen für die Anwesenheit von Menschen. Doch nach einer Flussbiegung sehen wir am Ufer einen motorisierten Lastkahn. Hier wimmelt es von Arbeitern mit Schutzhelm und Schaftstiefeln. Der Boden ist aufgerissen und zernarbt von Planierraupen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses setzt sich der Einschnitt – klaffend und blutrot – fort, als wäre die Straße wie durch Zauberkraft hinüber­ gesprungen und aus eigenem Antrieb in den Nationalpark eingedrungen.

Ich hebe meine Kamera, woraufhin zwei Soldaten auf dem Kahn sofort rufen: «Fotografieren verboten!»

Der "Block 31"

Behelmte Männer in blauem Overall schauen schmallippig zu, als wir durch den schmatzenden Schlamm stiefeln und auf den Lastkahn klettern. Nur ein großer Kerl mit mächtigem Bauch streckt mir seine fleischige Pranke zum Gruß entgegen. «Ich bin einer von den bösen Buben», sagt er und lacht. Er stellt sich als Robin Draper vor und scheint von unserem Auftau­chen ebenso überrascht zu sein wie wir erstaunt sind, ihn und seine Leute zu treffen. «Wir sind schon seit Wochen hier», sagt er. «Euer Boot ist das erste, das den Fluss herunterkommt.»

Draper, 56, stammt aus Kalifornien. Früher hat er auf einem Ölfeld in Alaska gearbeitet, jetzt ist er Eigner und Betreiber des Frachtkahns „Alicia“ und steht bei Petroamazonas unter Ver­trag. Die Ölgesellschaft operiert weitgehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit und schiebt sich volle Kraft voraus in den Dschungel, in ein Areal, das offiziell als „Block 31“ registriert ist. Vor einigen Jahren feierten Umweltschützer, den Bau eben dieser Straße verhindert zu haben. Damals war der Konzern Petrobras hier aktiv. Inzwischen sei die Konzession aber wieder an Petroamazonas zurückgefallen, sagt Draper, und die 15 Kilometer lange Straße südlich des Napo bis zum Tiputini sei nun fertig. Mehr noch, Bull­dozer würden auch auf der anderen Seite des Tiputini bereits Wald roden.

Streit wegen dieses neuerlichen Einfalls in den Nationalpark ist programmiert. Kritiker sagen, die bekannten Ölreserven von 45 Millio­nen Barrel in Block 31 seien zu gering, um das massive Vorgehen zu rechtfertigen. Der wahre Grund, behaupten sie, sei die Vorbereitung der Infrastruktur für einen späteren Vorstoß in den benachbarten ITT­Block. Dieser Teil des Natio­nalparks ist für die Ölgesellschaften bislang noch tabu. Das würde nicht nur die dort vorkom­mende sensible Pflanzen­ und Tierwelt gefähr­den, sondern auch die isoliert lebenden indigenen Stämme in den Hochlandwäldern. Erst kürzlich erschienen wieder Berichte über ver­einzelte Gruppen in dieser Gegend, zu deren Schutz die Regierung gesetzlich verpflichtet ist.

Draper verteidigt jedoch zunächst die Öl­gesellschaft, für die er hier arbeitet. Sie tue ihr Bestes, um möglichst wenig Schaden anzurich­ten. Das beginne schon bei der Nutzung sei­nes Lastkahns. «Wir werden hier keine Brücke bauen», erzählt er uns bei einer Tasse Kaffee im Ruderhaus der „Alicia“.

«Wir sollten überhaupt nicht hier sein»

Auf der anderen Seite des Flusses werde die Straße in einem «völlig neuen Verfahren» gebaut. Die Arbeiter würden dort ein synthetisches Material durch Sumpf und Wald verlegen, das am Ende wieder aufgerollt und entfernt werden könne. Es handele sich um einen sendero ecoló- gico – einen „ökologischen Pfad“. «Eines Tages will man dann die Straße der Natur zurückgeben.» Wirklich überzeugt ist Draper aber nicht: «Wer sich das ausgedacht hat, meint es gut», sagt er. «Aber wenn Sie mich fragen: Wir sollten überhaupt nicht hier sein.»

Auf dem Rückweg frage ich Galo Zapato, einen der Biologen auf unserem Boot, was diese neue Straße wohl nach sich ziehen werde. «Ich bin sicher», sagt er, «die Ölgesellschaft wird alles tun, um die Einheimischen fernzuhalten. Sie wird trotzdem nicht verhindern können, dass sich Kichwa und Huaorani hier niederlassen.»

Etwas Ähnliches ist schon einmal geschehen. Als Ölgesellschaften in den neunziger Jahren die Maxus-Straße in den Yasuní bauten, hatten sie ebenfalls versucht, den im Park lebenden Indianern den Zugang zu verwehren. Die verlegten dennoch ihre Dörfer an die Straße, jagten die großen Tiere und verkauften das Fleisch an die Ölarbeiter. «Je mehr Menschen hierherziehen, umso größer wird die Nachfrage nach Buschfleisch. Das ist schlecht für Vögel und Wild. Das ist schlecht für das soziale Leben. Die Geschichte wird sich wiederholen.»

Auf unserem Weg flussabwärts schwindet allmählich der Wald. Schließlich gleicht die Landschaft einem endlosen flachen Sumpfgebiet, gespickt mit Kohlpalmen. Ihre Früchte (Acai-Beeren) und die Palmherzen sind eines der Hauptnahrungsmittel dort. Unser Satellitenortungssystem zeigt an, dass wir nun im ITT- Block sind, dem Zentrum des Konflikts zwi- schen Öl und Ökologie. Am Ufer weist ein handgemaltes Plakat auf die Kichwa-Siedlung Yana Yaku hin. Wir gehen an Land.

850 Millionen Barrel Öl

Unter dem tiefen Strohdach seines Hauses tritt César Alvarado hervor, der Dorfälteste. Nach einer kurzen Begrüßung erzählt er uns von der Zeit, als er ein kleiner Junge war. Als die Ölgesellschaften kamen. Die ersten Männer seien mit Hubschraubern eingeflogen worden. Dann brachten Lastkähne Wohncontainer und Traktoren, die den Wald rodeten und große Bohranlagen schleppten. «Sie bauten eine ganze Stadt für die Arbeiter», erinnert er sich. «Sie waren nett. Sie haben ihr Essen mit mir geteilt.»

Alvarado ist jetzt 49, barfuß und mager, bekleidet mit einem ausgebeulten Trainingsanzug. Er führt uns einen schlammigen Pfad hinunter, vorbei an Yana Yaku mit seinen Hütten aus grob behauenem Holz. Er möchte uns zeigen, was die vielen Arbeiter hier taten und welches Monument sie zurückließen.

Auf einer schattigen Lichtung erblicken wir etwas ganz Erstaunliches, eine Art Skulptur, ein abstraktes Kruzifix, zusammengefügt aus Rohren, Ventilen und Eckstücken, fast viereinhalb Meter hoch, fleckig und moosbedeckt. Es ist ein Symbol des heftig umstrittenen Erschließungsprojekts, ein mächtiges Ventil, das ein Probebohrloch für das Tiputini-Ölfeld abdichtet. Seit dieser und anderen Bohrungen wissen die Behörden, dass der ITT-Block mehr als 20 Prozent aller Ölreserven Ecuadors birgt, etwa 850 Millionen Barrel. Diese Stahlskulptur steht für den erhofften künftigen Reichtum des Landes.

«Was wird geschehen, wenn die Arbeiter zurückkommen?», frage ich. Ist Alvarado dafür, dass sie das Öl unter seinem Dorf abpumpen? «Wir wollen Gesundheit und Ausbildung für unsere Leute», sagt er. «Wenn sie Rücksicht auf die Umwelt nehmen, sind wir Kichwa dafür.»

Die meisten Huaorani erwarten weniger Gutes von der Zukunft. An einem schwülen Morgen fahre ich mit einheimischen Führern in einem Lastwagen auf der Auca-Straße in Richtung Süden. Die Trasse wurde von Texaco in den siebziger Jahren gebaut, um Bohrvorrichtungen zu transportieren und Pipelines zu verlegen. Sie durchschneidet das ehemalige Territorium der Huaorani genau in der Mitte. Unser Ziel ist die zona intangible, in der mindestens zwei Huaorani-Gruppen, die Taromenane und die Tagaeri, in selbstgewählter Isolation leben.

Ehe wir dort ankommen, verlassen wir die Hauptstraße noch einmal. Bald kurven wir in einem Labyrinth von Nebenwegen herum, die die Ölbohranlagen und Pumpstationen versorgen. Hinter einer Haarnadelkurve endet die Straße abrupt vor der hoch aufragenden Dschungelwand. Rechter Hand erhebt sich hinter einem Maschendrahtzaun ein neuer Bohrturm. Links im Wald stehen strohgedeckte Hütten: das Huaorani-Dorf Yawepare.

Als wir vom Lastwagen klettern, umringen uns kläffende Hunde. Ein muskulöser Mann in Shorts und eng anliegendem T-Shirt möchte wissen, was ich will. Beruhigt, dass ich nicht von der Ölgesellschaft bin, schlägt er vor, dass wir zur Gemeinschaftshütte gehen und dort reden. Er heiße Nenquimo Nihua, sagt er in fließendem Spanisch. Er sei derzeit für zwei Jahre das Gemeindeoberhaupt.

Zunehmende soziale Spannungen

«Die Gegend ist gefährlich», warnt Nihua. Die Spannungen hätten sich verschärft, seit vor einigen Monaten Ölarbeiter eingetroffen seien. Die Dorfbewohner seien besorgt, dass der Lärm der Fahrzeuge und Maschinen die isoliert im Urwald lebenden Indianer provozieren könnte. Diese Stämme sehen ihr Territorium zusehends schrumpfen. «Sie fühlen sich bedrängt», sagt Nihua.«Wir aus dem Dorf wollen aber, dass sie sich tranquilos fühlen.» Ungestört also.

Nihua selber ist mit einigen der nomadischen Stammesangehörigen verwandt. «Meine Schwiegermutter hat einen Bruder bei den Waldindianern», sagt er. Zwei Dutzend Leute aus dieser Gruppe hätten vor drei Wochen genau da gestanden, wo ich nun stehe – nackte Krieger, Männer mit Speeren und Blasrohren. Sie seien in die Gemeinschaftshütte gegangen. «Wohl, um sich auszuruhen», sagt Nihua. Am nächsten Morgen waren die Krieger verschwunden.

Trotz der Familienbande fürchten viele sesshafte Huaorani Angriffe der Taromenane und Tagaeri. Doch diese Stämme sind auch eine Bastion des Stolzes, ein Symbol für den Widerstand gegen die vordringende Zivilisation und eine Erinnerung an ihre Traditionen. Deswegen lassen die Dorfbewohner Äxte und Macheten für ihre Verwandten im Wald zurück. Sie legen Gärten an, um ihnen Nahrung zu verschaffen, und schicken Männer auf Patrouille, um Eindringlinge fernzuhalten. «Wir haben uns entschieden», sagt Nihua. «Keine Erschließung neuer Ölfelder. Keine weiteren Kolonisatoren auf unserem Land. Keine Holzfäller mehr.»

Wir kehren auf die Auca-Strasse zurück und fahren weiter nach Süden. Kurz vor ihrem Ende erreichen wir eine wackelige Brücke und laden unsere Ausrüstung in ein Ruderboot um. Es geht den Shiripuno flussabwärts zum Cononaco und dann in die zona intangible. Fremde dürfen das Gebiet nur auf Einladung der Huaorani betreten. Deswegen habe ich Otobo Baihua, einen Huaorani-Führer, bei mir.

Baihua ist 36, klein, kräftig, hat breite Schultern und ein offenes Lächeln. Er habe früher selber für die Ölgesellschaften gearbeitet, sagt er, den Job dann aber aufgegeben. «Viel Umweltverschmutzung», sagt er in gebrochenem Spanisch. «Ich habe viele Tiere sterben sehen. Das hat mich krank gemacht.» Jetzt führt er Abenteuerurlauber zu seinen Verwandten tief im Inneren des Sperrgebiets.

Ein spektakuläres Panorama tut sich vor uns auf: Affen schwingen sich durch die Baumkronen, Tukane kreischen in den Wipfeln, ein Wasserschwein gleitet träge ins Wasser. Baihua zeigt uns Stellen, an denen Huaorani Ölarbeiter überfallen und wo vor nicht allzu langer Zeit die Tagaeri und Taromenane illegale Holzfäller mit Speeren getötet haben. Abends am Lagerfeuer erzählen die Huaorani vom Paradies, das sie an das Öl verloren haben, aber auch von all dem Schönen, das sie noch immer mit ihren zurückgezogen lebenden Verwandten teilen.

Zwei Tage später erreichen wir unser letztes Etappenziel, das Dorf Bameno. Aus Betonsteinen gefügte Häuser und Holzhütten flankieren eine grasbewachsene Landepiste. Dort treffen wir Penti Baihua, den Gemeindevorsteher, einen Cousin Otobos. Er steckt gerade in einer heftigen Diskussion mit Dorfbewohnern, reißt sich aber los, um uns zu begrüßen.

Ich spreche auch ihn auf die Initiative des Präsidenten an, gegen einen finanziellen Ausgleich durch die Weltgemeinschaft auf die Erschließung der Ölfelder im ITT-Block zu verzichten. «Und wenn schon», antwortet Baihua. «Der ITT ist nur ein kleiner Teil des Nationalparks Yasuní.» Er macht sich Sorgen, weil die Huaorani keine amtlich beglaubigten Eigentumsrechte auf das Land innerhalb der zona intangible haben. «Wenn wir dieses Dokument nicht vorweisen können, werden sie das Land für sich beanspruchen, eine Ölquelle nach der anderen», sagt er. Ob er mit „sie“ die Regierung oder die Ölgesellschaften meint, bleibt unklar.

Dann möchte Baihua, dass ich seinen Onkel Kemperi kennenlerne, einen der letzten Jaguar-Schamanen der Huaorani, weithin verehrt für seine Fähigkeit, mit den Waldgeistern zu kommunizieren. Er trägt Shorts und ein blaues T-Shirt, hat lange graue Zöpfe und ein breites Lächeln mit strahlend weißen Zähnen. Er wisse nicht, wie alt er sei, sagt er, aber er sei bereits erwachsen gewesen, als er sich vor mehr als 60 Jahren einer kriegerischen Gruppe anschloss, die Arbeiter des Shell-Konzerns aus dem Hinterhalt überfiel und tötete.

Der Vorfall ist aktenkundig: Zwölf Arbeiter starben damals durch die Hand indigener Krieger, Shell brach die Arbeiten im Osten Ecuadors ab. Erst nachdem katholische Missionare die „Wilden“ gebändigt hatten, wurde die Erdölerschließung hier wiederaufgenommen.

Als ich nun frage, wieviele Menschen Kemperi und seine Kameraden an jenem Tag getötet haben, zählt er an den Fingern ab: fünf, vielleicht sechs? Es ist ja so lange her. Und was wäre, wenn erneut Männer mit Schutzhelm und Uniform hierherkämen? «Dann werden wir auch sie töten», sagt er geradeheraus.

Ecuador im Dilemma zwischen Armut und Naturschutz

Am Ende meiner Reise mit Lastwagen, Boot und Buschflugzeug durch den Yasuní komme ich in die Hauptstadt Quito, hoch oben in den Anden. Ich erhalte die Gelegenheit, direkt mit Präsident Rafael Correa über seine Yasuní-ITT- Initiative zu sprechen. Wachmänner nehmen Haltung an, als ich den Säulengang des kolonialzeitlichen Palastes passiere und einen mit goldverziertem Mobiliar verschwenderisch ausgestatteten Raum betrete.

Correa, 49, charismatisch, redegewandt und intelligent, kommt ohne Umschweife auf den Punkt. Sein Angebot, sagt er, sei noch auf dem Tisch. «Aber wir haben immer gesagt: Wenn wir nicht innerhalb eines annehmbaren Zeitraums die notwendige Unterstützung für die Initiative erhalten, werden wir das Öl erschließen müssen», sagt er. «Selbstverständlich mit größtmöglicher Rücksicht auf Umwelt und Gesellschaft.»

Er bittet uns darum, die Sache aus seiner Perspektive und Verantwortung zu sehen: «Ecuador ist ein armes Land. Bei uns gibt es noch immer Kinder ohne Schulbildung. Wir brauchen eine bessere Gesundheitsfürsorge, anständige Wohnungen. Uns fehlt es an vielem. Das Geld aus der Ölförderung würde helfen, viele Probleme unseres Landes zu lösen. Wir verstehen aber auch, dass wir unserer Verantwortung im Kampf gegen die globale Erwärmung gerecht werden müssen. Für die ist das Verbrennen fossiler Brennstoffe die Hauptursache. Das ist tatsächlich ein großes Dilemma.»

Am Ende des Interviews klingt Correa dann allerdings wie ein Mann, der seinen Entschluss gefasst hat. «Ich bestehe darauf, dass wir unsere natürlichen Bodenschätze erschließen dürfen, wie es alle anderen Länder der Welt auch tun», sagt er. «Wir können doch keine Bettler sein, die auf einem Sack Gold sitzen.» Er sei aber bereit, darüber nachzudenken, das Volk darüber entscheiden zu lassen, ob Ecuador das Öl im ITT- Block aus der Erde holen soll.

Draussen auf den Stufen vor dem Präsidentenpalast erinnere ich mich an die Straße in Block 31 und daran, wieviel unersetzbare Natur bereits durch ihren Bau zerstört wird. Egal wie es mit der ITT-Initiative ausgeht: Große Bereiche des Nationalparks Yasuní werden im Griff der Ölindustrie bleiben.

«Wenn die Initiative scheitert, müssen wir überlegen, wie wir wenigstens einen Teil retten können», hatte der Naturschützer Kelly Swing gesagt, als wir im Dschungel auf der Dachterrasse der Forschungsstation saßen. «Aber jeder Kompromiss bedeutet auch: weniger Natur.»

Irgendwo kreischte ein Ara. «Dürfen wir alles tun, was technisch möglich ist?», sinnierte Swing laut. «Dürfen wir sämtliche Rohstoffe der Erde für uns in Anspruch nehmen, ohne Rücksicht auf die ökologischen Zusammenhänge, und es bis zum Punkt kommen lassen, an dem das System kippt? Und werden wir überhaupt erkennen, wann dieser Punkt erreicht ist?»

(NG, Heft 1 / 2013, Seite(n) 126 bis 159)

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