DNA zahmer Füchse gibt Aufschluss über Hunde und Menschen
Ein Experiment zur Domestizierung von Füchsen lieferte überraschende Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Sozialverhalten und Genetik.
Seit fast 60 Jahren züchten russische Forscher Füchse mit dem Ziel, besonders zahme Tiere zu erhalten – oder besonders aggressive. Ein neuer Blick auf die Genome der zwei Zuchtgruppen offenbarte, dass das Experiment die DNA der Tiere auf überraschende Weise verändert hat. Die Forschungsergebnisse sind nicht nur für das Sozialverhalten diverser Tierarten aufschlussreich, sondern auch für das des Menschen.
Allerdings war dafür langfristige Arbeit nötig. Im Jahr 1959 begann ein Mann namens Dmitri Belyaev mit einem Experiment, um besser zu verstehen, wie Hunde domestiziert wurden. Belyaev und andere Biologen glaubten damals, dass Haushunde vom Wolf abstammten. Allerdings wussten sie noch nicht genau, wie all die Unterschiede in Anatomie, Physiologie und Verhalten zwischen den zwei Tieren entstanden sind.
Aber Belyaev hatte eine Vermutung. Er nahm an, dass die Zahmheit der Hunde eine Schlüsselrolle spielte. Seiner Theorie zufolge waren die biologischen Veränderungen bei Hunden – geflecktes Fell, gebogene Ruten, Schlappohren, kürzere Schnauzen – das Ergebnis eines evolutionären Selektionsprozesses, der keine anatomischen Merkmale, sondern Verhaltensmerkmale bevorzugte.
ANGST UND FREUDE
Belyaev glaubte, wenn er die zutraulichsten Füchse miteinander verpaarte, würde er die Tiere schlussendlich domestizieren. Auf diese Weise wollte er künstlich den jahrtausendelangen Prozess nachahmen, durch den aus Wölfen Hunde wurden. Er kaufte eine Gruppe Silberfüchse von einer kanadischen Pelzfarm und machte sich in einem Labor in der Sowjetunion an die Arbeit.
Am Ende sollte Belyaev recht behalten. Er verpaarte jene Füchse miteinander, die die wenigste Scheu vor Menschen zeigten. Viele Generationen später erhielt er nicht nur Tiere, die gern mit Menschen interagierten, sondern zusätzlich auch die anatomischen Merkmale aufwiesen, die mit der Domestizierung in Verbindung gebracht wurden: die charakteristischen weißen Flecken, gebogene Ruten, Schlappohren und so weiter.
Die gesamte Bandbreite dieser Merkmale entstand einzig durch die Zuchtauswahl von Füchsen, die eine bestimmte Reaktion auf Menschen zeigten. Begegneten sie den Forschern mit Neugier und ließen sie sich anfassen? Oder scheuten sie zurück, fauchten und wimmerten vor Angst?
Belyaev starb 1985, aber sein Experiment wird bis heute weitergeführt. Mittlerweile haben die Forscher mehr als 40 Generationen von freundlichen und aggressiven Füchsen gezüchtet. Zum ersten Mal haben sie nun ein vollständiges Fuchsgenom erstellt, das ihnen dabei helfen wird, die Genetik hinter dem Übergang von wilden zu zahmen Füchsen zu begreifen. Die Forschungsarbeit wurde in einer Studie beschrieben, die in „Nature Ecology and Evolution“ erschien.
Die Forscher sequenzierten die Genome von insgesamt zehn Füchsen aus dem aggressiven und zahmen Bestand. Zusätzlich dazu setzten sie ein komplettes Genom eines Silberfuchses zusammen, einer Farbvariante des Rotfuchses (Vulpes vulpes). Das hat ihnen dabei geholfen (und wird ihnen auch in Zukunft dabei helfen), genetische Unterschiede aufzuspüren, die den verschiedenen Aspekten der Domestizierung zugrunde liegen könnten, erzählt Anna Kukekova. Die Biologin der University of Illinois leitete die besagte Studie.
Bisher mussten sich Forscher mit dem Genom des Haushundes als Referenz begnügen. Obwohl Hunde und Füchse sich evolutionär „erst“ vor zehn Millionen Jahren voreinander trennten, führen sie mittlerweile aber sehr unterschiedliche Leben.
GENETISCHE GEHEIMNISSE
Kukekova und ihre Kollegen konzentrierten sich auf eine der 103 Regionen des Genoms, die sich bei den zahmen und aggressiven Füchsen voneinander unterschied. Die Analyse ergab, dass die zahmsten Füchse eine Variante eines Gens namens SorCS1 hatten, die weder bei den aggressiven noch bei den normal gezüchteten Füchsen auftrat. Derweil war jene Variante von SorCS1, die bei den aggressiven Füchsen am häufigsten auftrat, in andere Zuchtgruppen unglaublich selten.
Zuvor gab es keinen Grund anzunehmen, dass SorCS1 mit Sozialverhalten in Zusammenhang steht. „Man wusste, dass es mit Autismus und Alzheimer [beim Menschen] assoziiert wird“, erklärt Kukekova. Eine relativ neue Studie an Mäusen ergab zudem, dass SorCS1 an der Synapsenbildung und der neuronalen Signalübertragung beteiligt ist.
Die domestizierten Tiere erleben weniger Stress als ihre wilden Artgenossen, wenn sie mit unbekannten Menschen oder Gegenständen in Kontakt kommen. Die Studie verweist auf Gene, die an diesem Verhaltensunterschied beteiligt sein könnten, der mit einer abgeschwächten Reaktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse oder Stressachse zusammenhängt. Diese Strukturen im Körper bilden eine Verbindung zwischen dem Gehirn und den Hormonsystemen des Körpers, die eine Stressreaktion auslösen.
Im Rahmen der Studie fanden die Forscher auch eine Genomregion von Interesse, die sowohl mit der Domestizierung von Hunden als auch mit dem Williams-Beuren-Syndrom bei Menschen assoziiert wird. Betroffene mit dieser genetischen Besonderheit weisen zumeist ein besonders freundliches Verhalten auf. Überraschenderweise taucht diese „Williams-Beuren-Region“ aber bei den aggressiven Füchsen auf statt bei den zahmen.
Kukekova verweist aber darauf, dass das Williams-Beuren-Syndrom auch mit extremen Angstreaktionen in Verbindung gebracht wird, die wiederum zu den besonders ängstlichen Reaktionen der Füchse auf Menschen passt. Die Evolutionsbiologin Bridgett von Holdt von der Princeton University, die an der Studie nicht beteiligt war, merkt an, dass manche Hunde extrem aggressiv sein können, obwohl sie zu ihren Besitzern eine sehr enge und freundliche Bindung haben. Um die ganzen Subtilitäten zu ergründen, sei ihr zufolge noch deutlich mehr Forschung nötig.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.