Prähistorisches „Aspirin“ in Neandertalerzähnen entdeckt

Schmerzmittel & Antibiotika nutzten anscheinend schon frühe menschliche Verwandte, wie DNA-Proben aus ihrem Zahnstein zeigen.

Von Michelle Z. Donahue
Veröffentlicht am 4. Dez. 2019, 19:16 MEZ
Der Kiefer eines Neandertalers, der in Belgien gefunden wurde, liefert durch den Zahnschmelz genetische Hinweise auf ...
Der Kiefer eines Neandertalers, der in Belgien gefunden wurde, liefert durch den Zahnschmelz genetische Hinweise auf die Ernährungsweise der menschlichen Verwandten.
Foto von Royal Belgian Institute of Nature Sciences

Für die Wissenschaft ist es ein Glück, dass Neandertaler nichts gegen ihren Zahnstein unternehmen konnten.

Was für uns wie unansehnliche Verfärbungen anmutet, stellte sich als wahre Goldgrube für Mikrobiologen heraus, die die menschliche Evolution erforschen. Die harten Auflagerungen stecken voll von genetischem Material aus den Pflanzen und Tieren, die diese prähistorischen Verwandten des Menschen aßen. Außerdem enthalten sie Reste von Mikroben, die überraschend viel darüber verraten, wie die Neandertaler lebten und an welchen Krankheiten sie litten.

Die Forscher extrahierten die alte DNA und Bakterien aus den Kiefern dreier Neandertaler aus Belgien und Spanien und fassten ihre Forschungsergebnisse in einer Studie zusammen, die in „Nature“ erschien.

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Das belgische Individuum ernährte sich größtenteils von Fleisch, wie sich anhand von DNA-Spuren von Wollhaarmammuts und wilden Schafen nachweisen ließ. Die spanischen Neandertaler hingegen schienen sich hauptsächlich pflanzlich zu ernähren, beispielsweise von Moos, Pinienkernen und Pilzen.

Noch spannender waren allerdings die Mikrobenfunde, die das Team der Studienleiterin und Mikrobiologin Laura Weyrich von der University of Adelaide im Zahnstein fanden: Die Forscher stellten DNA aus dem Mikrobiom der prähistorischen Individuen sicher – also der Bakterien- und Pilzgemeinschaft in ihren Körpern.

„Das vermittelt uns ein gutes Bild der vielfältigen Dinge, denen sie in ihrem Alltag ausgesetzt waren, beispielsweise Krankheiten und Heilmittel, mit denen sie diese behandelten“, sagt Weyrich.

Das Individuum aus dem spanischen El Sidrón schien beispielsweise von einem Bakterienstamm befallen zu sein, der ihm Probleme machte. Womöglich behandelte er seine Symptome mit pflanzlichen Mitteln.

Zusätzlich litt er an einem Zahnabszess, der eventuell von einer Unterart des Bakteriums Methanobrevibacter oralis verursacht wurde. Pappeln, deren DNA in derselben Probe gefunden wurde, lieferten wahrscheinlich Salicylsäure zur Schmerzlinderung – der zentrale Wirkstoff im heutigen Aspirin.

Der spanische Neandertaler hatte außerdem mit Durchfall und Erbrechen zu kämpfen, die von dem Krankheitserreger Enterocytozoon bieneusi verursacht wurden. Womöglich versuchte er, sich mit Schimmelpilzen zu behandeln, die Antibiotika produzieren, denn an Pflanzenmaterial in seinen Zähnen fand sich genetisches Material von Penicillium rubens.

Mikrobiomforschung am Neandertaler

Die Idee, in Zahnstein nach Hinweisen auf den Alltag in ferner Vergangenheit zu suchen, ist nicht neu. Der Co-Autor der aktuellen Studie, Keith Dobney, arbeitet schon seit den Achtzigern an dieser Technik.

Aber erst mit der Entwicklung der leistungsstarken Mikroskopie und präziser genetischer Werkzeuge konnten die Forscher die prähistorischen Plaques wirklich genau untersuchen.

Eine Nahaufnahme der Neandertalerzähne zeigt den Zahnstein als Kruste auf dem Zahnschmelz.
Foto von Royal Belgian Institute of Nature Sciences

Tatsächlich wurde der kalzifizierte Zahnbelag bis vor zehn oder fünfzehn Jahren sogar regelmäßig von Exemplaren in Museen und Laboren entfernt, erzählt Weyrich. Damals waren die Forscher mehr an den Wachstums- und Abnutzungsmustern der Zähne interessiert.

Die Theorie, dass Neandertaler sowohl Fleisch als auch Pflanzen aßen und sich selbst mit Pflanzen verarzteten, ist ebenfalls kein Novum: Die aktuelle Studie stützt die Ergebnisse früherer Analysen von Stickstoffisotopen aus Zahnschmelz und Pflanzenresten zwischen Zähnen.

Was Weyrich und ihre Gruppe an den neuen Daten wirklich faszinierte, war der Umstand, dass sich das Mikrobiom der Fleischesser von dem der Vegetarier unterschied. Außerdem wiesen die Neandertaler-Mikrobiome allesamt deutliche Unterschiede zu den Mikrobengemeinschaften auf, die in heutigen Menschen zu finden sind.

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Was die verschiedenen Gruppen gegessen haben, könnte dabei der Schlüssel zu diesen Unterschieden sein. Mit Hilfe dieser prähistorischen Referenzpunkte können Forscher nun besser rekonstruieren, wie sich die Ernährung im Laufe der Zeit auf das Mikrobiom auswirkte und wie diese Auswirkungen die Evolution des Menschen beeinflussten.

„In der modernen Medizin ist es enorm schwierig zu untersuchen, wie veränderte Essgewohnheiten das Mikrobion beeinflussen – man müsste Millionen von Menschen dazu bringen, monatelang das Gleiche zu essen“, sagt Weyrich.

„Aber wenn man Neandertaler als Modell benutzt – also Leute, die quasi an einem Ort festsitzen und auf die Nahrung beschränkt sind, die dieser Ort ihnen bietet –, kann man erforschen, wie ihr Verhalten Veränderungen in ihrem Mikrobiom verursacht haben könnte.“

Dobney, ein Archäologe der University of Aberdeen, hofft, dass ein Vergleich prähistorischer Biome mit den Biomen unser industriellen Gesellschaft Hinweise darauf liefern kann, wie sich moderne Ernährungskrankheiten bekämpfen lassen.

„Mikrobiome haben sich über Jahrmillionen hinweg zusammen mit uns entwickelt. Ohne sie können wir nicht leben“, so Dobney. „Fettleibigkeit, Diabetes – diese Dinge kommen ja nicht von ungefähr. Diese [Forschung] wird uns ein paar wertvolle Einblicke darüber liefern, wie sich Veränderungen in der Ernährung und Migration auf die menschliche Gesellschaft ausgewirkt haben.“

Die Forschungsarbeit könnte sogar neue Hinweise darauf liefern, warum die Neandertaler ausstarben.

„Die [belgischen] Neandertaler, die wir untersucht haben, gehören zu den letzten, die es noch gab. Wenn es also Anzeichen für Veränderungen ihres Mikrobioms gab, die sich auf ihre Gesundheit auswirkten, dann sind das die Individuen, die wir uns ansehen sollten“, so Weyrich.

Hinweise auf romantischen Speicheltausch?

Skelettreste eines belgischen Neandertalers.
Foto von Royal Belgian Institute of Nature Sciences

Weyrichs Gruppe sequenzierte außerdem ein vollständiges Genom des krankheitserregenden Bakteriums Methanobrevibacter. Mit stolzen 48.000 Jahren ist es mit Abstand das älteste bislang sequenzierte Bakteriengenom.

Der Bakterienstamm aus den Neandertalern entstand vor etwa 125.000 Jahren – also in jenem Zeitraum, in dem Neandertaler und Homo sapiens mutmaßlich erstmals gemeinsamen Nachwuchs zeugten. Die moderne Form dieses Bakteriums wird über Speichel übertragen. Der Fund wirft also interessante Fragen darüber auf, wie die intimen Momente zwischen den beiden Hominiden wohl abliefen.

„Es wurde oft davon ausgegangen, dass diese sexuellen Begegnungen eher grob und ungestüm abliefen. Aber das sind orale Mikroorganismen, die über Küsse oder das Teilen von Nahrung übertragen werden“, sagt Weyrich. „Dass wir die in den Mündern dieser Neandertaler finden, verrät uns mehr darüber, wie sie sich potenziell mit den Menschen verstanden haben. Und das ist nur einer der Mikroorganismen im Mund.“

Noch ist viel Arbeit nötig, um herauszufinden, wie genau das Bakterium sich unter den Populationen verbreitete. Das Konzept fasziniert Lawrence Straus, einen Anthropologen von der University of New Mexico, der die europäischen Neandertaler seit 45 Jahren erforscht.

„Es wäre wirklich fantastisch, einen Beleg für die Übertragung spezifischer Bakterien von Neandertalern auf den Homo sapiens zu sehen“, sagt er.

Außerdem freut er sich darüber, dass die fortschrittlichen Zahnanalysemethoden nun auch an den Verwandten der frühen Menschen angewendet werden. „Vielleicht wird ja irgendwer versuchen, Bakterien aus dem Zahnstein unserer Roten Dame von El Mirón zu extrahieren.“ Das berühmte Skelett einer Frau, die vor etwa 18.700 Jahren im Norden Spaniens starb, war mit rotem Pigment überzogen.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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