Propriozeption: Was wir über unseren „6. Sinn“ wissen sollten

Ohne sie wäre keine körperliche Bewegung möglich - und doch ist die Propriozeption, auch Tiefensensibilität genannt, kaum bekannt. Was den „6. Sinn“ stören kann und warum nicht nur Spitzensportler ihre propriozeptiven Fähigkeiten trainieren sollten.

Von Barbara Buenaventura
Veröffentlicht am 8. Okt. 2020, 19:38 MESZ, Aktualisiert am 22. Jan. 2021, 19:54 MEZ
Propriozeption, der 6. Sinn

Die Propriozeption wird oft auch "sechster Sinn" genannt. Die Tiefensensibilität ist eine Eigenwahrnehmung und noch wenig erforscht.

Foto von Benn McGuinness - unsplash.com

Das Glas Wasser, das auch mit geschlossenen Augen sicher zum Mund geführt wird, der Stift, der beim Schreiben unter dem Druck des Fingers nicht zerbricht, ebenso aber das Bewusstsein, wo im Bett man sich befindet, um im Schlaf nicht herauszufallen: Für all diese so selbstverständlich wirkenden Prozesse und Phänomene ist die Propriozeption verantwortlich – die Wahrnehmung des eigenen Körpers nach dessen Lage im Raum.

Ob wir gehen, stehen oder aber uns einfach nur unsere Bewegungen im Raum vorstellen: Der so genannte „6. Sinn“ wird für jede körperliche Aktivität benötigt, interagiert permanent mit allen anderen Sinnen und passt jede Bewegung den erforderlichen Bedürfnissen an. Zudem ermöglicht er, dass auch die schwierigste Übung eines Spitzensportlers mühelos aussieht und selbst der Ungeübte neben dem Laufen, Tanzen oder Gehen gleichzeitig weitere Tätigkeiten ausführen kann: Musik hören zum Beispiel oder ein Gespräch führen. Wie kann es sein, dass wir über eine so wichtige und ständig aktive Wahrnehmung so wenig wissen?

Wie funktioniert die Propriozeption?

Unsere Körperwahrnehmung basiert auf zahlreichen Sinnesrezeptoren in Muskeln, Gelenken und Sehnen, die durch Bewegung angeregt werden. Werden diese Rezeptoren, die sich über den gesamten Körper verteilen, aktiviert, gelangen Informationen über die Nerven bis zum Gehirn. Die Rezeptoren informieren uns über die Position der Gliedmaßen, die die Bewegungen ausführen – und zwar ununterbrochen: Die Propriozeptoren leisten pausenlos detaillierte Informationsdienste, damit wir jederzeit sicher stehen, gehen oder ruhen können. Propriozeption ist wie ein Navigationssystem für unseren eigenen Körper.

Doch was, wenn die Propriozeption gestört ist? Die von Arte co-produzierte Dokumentation „Unser geheimer 6. Sinn“ ist Hintergründen und möglichen Fehlleistungen der Propriozeption nachgegangen: Deren Recherchen nach leben weltweit nur 5 Menschen ohne jegliche propriozeptive Fähigkeit. Die Folge: Die Vorstellung vom Körper im Raum ist so stark beeinträchtigt, dass der Patient die Schwerkraft nicht spürt und ohne hinzusehen nicht einmal sagen kann, wo sich Arme und Beine befinden.

Riechen durch die Haut statt durch die Nase?
Unsere Nase ist nicht das einzige Organ, das Gerüche wahrnehmen kann. Unsere Haut kann das auch.

Eine Bewegung kann entsprechend nur dann ausgeführt werden, wenn die konkreten Gliedmaßen dabei beobachtet werden können. Verletzungen sind vorprogrammiert. Ohne Propriozeption ist quasi keine körperliche Aktivität möglich - und dabei geht es nicht nur um Rennen oder Springen: Auch das Schreiben mit geschlossenen Augen ist unausführbar, fehlt dem Patienten ja jegliche Vorstellung davon, wo sich die Hand befindet.

„Der propriozeptive Sinn ist wenig bekannt, weil die Krankheiten, die damit zusammenhängen, kaum bekannt sind“, erklärt Dr. Fabrice Sarlegna vom Institut für Bewegungswissenschaften in Marseille in der Dokumentation, die auf Arte zu sehen war. „Ein Beispiel: Wir alle haben schon von Menschen gehört, die schlecht oder gar nicht sehen. Und wir können uns vielleicht in sie hineinversetzen, indem wir unsere Augen verbinden oder sie schließen. So verstehen wir, wie sich diese Menschen verhalten und worin ihr Defizit besteht. Bei der Propriozeption geht es um innere Empfindungen, die schwer nachzustellen und zu verstehen sind.“

Propriozeptionstraining und Körperschema: So wird es im Sport genutzt

Auch das Körperschema als das Bewusstsein der Gesamtheit unseres Körpers basiert auf propriozeptiven Informationen. Es entwickelt sich ab dem Kleinkindalter, wenn sich visuelle und propriozeptive Informationen zu verbinden beginnen, baut sich in Kindheit und Jugend weiter auf, indem die Infos weiter strukturiert werden. Im Alter um Mitte 20 herum verfügt ein Erwachsener schließlich über eine vollständig ausgebildete Vorstellung von den Möglichkeiten seines Körpers, während im Alter die Propriozeption wieder unzuverlässiger wird.

BELIEBT

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    Jede Handlung, bei der die Propriozeption zum Einsatz kommt, beeinflusst und erweitert das Körperschema – eine Tatsache, die sich auch Sportler zunutze machen. Im Leistungssport werden im Propriozeptionstraining Reaktionsmechanismen erarbeitet und abgespeichert, damit sie im Ernstfall schnellstens abgerufen werden können. Das kann je nach Sportart unterschiedlich aussehen: Während der Kunstflieger seine akrobatischen Figuren kurz vor dem Flug am Boden in einer Visualisierungsübung durchgeht und Reflexbewegungen trainiert, kann der Fußballer im Propriozeptionstraining Automatismen fürs Umknicken erlernen, um Verletzungen zu vermeiden. Das Ziel jeder Übung ist die Verbesserung der Bewegungskoordination.

    Propriozeptionstraining ist nicht neu

    Robert Heiduk ist Trainingswissenschaftler und CEO der Eisenklinik, einem Unternehmen für Innovationsmanagement in Gesundheit, Sport und Rehabilitation. Er ist von der Wichtigkeit propriozeptiver Trainingseinheiten überzeugt: „Im sportlichen Training und der Rehabilitation zielen wir auf die Schärfung der sensorischen Informationen aus den Körperteilen ab, denn je besser wir unseren Körper oder einzelne Körperteile wahrnehmen, desto besser ist das Bewegungsresultat. So lassen sich beispielsweise auch die überlegenen koordinativen Leistungen von Spitzensportlern erklären, denn ihr überdurchschnittlich ausgeprägter Bewegungssinn ermöglicht eine gezieltere Ansteuerung ihrer Arbeitsmuskulatur.“

    Das Ergebnis sind ein besonders effizienter Umgang mit den energetischen Ressourcen des Körpers – und Bewegungsabläufe, die sich im wahrsten Sinne des Wortes sehen lassen können: „Die besten Athleten lassen selbst unter Höchstbelastungen alles mühelos aussehen, weil ihre Bewegungsabläufe hocheffizient sind, wohingegen bei Freizeitkriegern Bewegungsabläufe oft schwerfällig und verkrampft aussehen“, so Heiduk.

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    Die entsprechenden Übungen benötigen dabei nicht zwingend professionelles Equipment: Eine der einfachsten und effektivsten Methoden zur Schulung der Propriozeption ist Robert Heiduk zufolge, die entsprechenden Bewegungen mit verbundenen Augen durchzuführen. Der Sportler muss sich dann verstärkt auf seine kinästhetische Wahrnehmung verlassen. Neu ist das nicht, sagt Robert Heiduk: „So hat man schon in den 1980er-Jahren sowjetische Spitzen-Gewichtheber und Turner zeitweise in abgedunkelten Räumen trainieren lassen. Das Prinzip ist einfach: Wenn wir einen Sinn ausschalten, werden verstärkt andere Sinne benutzt.“ Auch Übungen auf instabilen Untergründen gehören zum klassischen Trainingsspektrum.

    Propriozeption lässt sich auch im Alltag trainieren

    Die Schulung der eigenen Propriozeption nützt nicht nur Leistungssportlern. Mit der Technologisierung und der Zunahme sitzender Tätigkeiten ist der Bewegungssinn zurückgegangen, Heiduk spricht sogar von einer „Entkörperlichung“, die nicht erst bei Erwachsenen zu bemerken ist: „Bereits Kinder sind häufig unbeweglich, grobmotorisch und können sich schon bei normalen Bewegungen verletzen. Später reichen im Alltag einfache, aber ungewohnte Bewegungen aus, um Muskelzerrungen oder Stauchungen zu erleiden. Durch den dauerhaften Stress haben wir zudem vergessen, wie wir unsere Muskeln gezielt ansteuern und loslassen.“

    Der Experte: Robert Heiduk bildet als Trainingswissenschaftler seit über 20 Jahren eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis. Der internationale Fachbuchautor ist Wegbereiter für innovative Methoden und Technologien in den Bereichen Training, Gesundheit und Rehabilitation.

    Foto von Joschkophoto

    Auch chronische Rückenschmerzen können Heiduk zufolge mit einem Mangel an lokaler Propriozeption zusammenhängen: „Dabei kommt es zu Fehlregulierungen der Wahrnehmungsleistung zwischen dem Gehirn und dem erwarteten Feedback aus der betreffenden Rückenpartie. Hier wäre es besonders wichtig zu spüren, wenn man gerade einen Rundrücken oder ein starkes Hohlkreuz hat.“

    Körpererfahrungen mit propriozeptivem Nutzen

    Um das Bewegungserleben zu stärken, wird propriozeptive Stimulation eingesetzt, bei der die Aufmerksamkeit gezielt auf die Körper- und Bewegungsempfindung gelenkt wird. „Dies kann auf verschiedene Weise geschehen: Berührungen mit unterschiedlichen Gegenständen, wie die Verwendung von Bürsten auf der Haut, das Balancieren auf instabilen Untergründen, Atemübungen, kreative Bewegungsvariationen, oder Kaltwasseranwendungen. Das Barfußgehen auf Naturböden oder das Wälzen im Grass, Sand oder Rindenmulch sind herrliche Körpererfahrungen mit propriozeptivem Nutzen“, sagt Robert Heiduk.

    Propriozeptionstraining nutze jedem und habe definitiv mehr Beachtung verdient, davon ist der Trainingswissenschaftler überzeugt. Doch gibt es Heiduk zufolge einen Faktor, der die Schulung propriozeptiver Fähigkeiten auch in Zukunft nicht an die erste Stelle des Trainingsplans schieben dürfte: „In unserer Kultur geht es um Leistung, um das in Zahlen Quantifizierbare: Wie weit bin ich heute mit dem Fahrrad gefahren, wie viel Gewichte habe ich gestemmt? Alles lässt sich in Zahlen messen. Propriozeption kann man aber nicht quantifizieren. Dafür müsste man qualitative Fähigkeiten wie Leichtigkeit, Anmut oder Mühelosigkeit definieren. Unsere westliche Kultur, in der man alles tracken kann, ist sicherlich mit dafür verantwortlich, dass die Propriozeption so wenig im Fokus steht.“

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