Als der Mond die Erde auseinanderzog

Der junge Mond war unserem Planeten deutlich näher als heute. Die enormen Gravitationskräfte zwischen den Körpern sorgten auf der Erde für bizarre Effekte.

Von Robin George Andrews
Veröffentlicht am 12. Okt. 2020, 12:03 MESZ
Der Mond geht hinter der Erde unter, fotografiert von der Internationalen Raumstation.

Der Mond geht hinter der Erde unter, fotografiert von der Internationalen Raumstation.

Foto von Reid Wiseman, NASA

Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren schuf eine katastrophale Kollision den Mond – und zwar aus Bruchstücken einer sehr jungen Erde. Damals war unser Planet nach Annahme vieler Geowissenschaftler ein ziemlich eintöniger Ort. Gelegentlich sickerte Lava über eine globale Kruste, und die Entstehung der komplexeren geologischen Merkmale des Planeten lag noch in weiter Ferne.

Aber einem neuen Modell zufolge flog der junge Mond zu jener Zeit so nah um die Erde herum, dass er eine bizarre Wirkung auf unseren Heimatplaneten hatte.

Heute ist der Mond bis zu 30 Mal weiter vom Planeten entfernt als damals. Neue Berechnungen zeigen, dass diese Nähe das Gleichgewicht zwischen der Erde und der Umlaufbahn des Mondes gestört hat. Letztendlich führte sie dazu, dass sich die Erde so schnell drehte, dass der Planet in eine ovale Form gezogen wurde, die wohl vage an einen Rugbyball erinnerte.

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Diese seltsam geformte Erde war eine Welt, in der sich dramatische Gebirge formten und Vulkanismus die Landschaft prägte. Aus diesem geologischen Hexenkessel konnten potenziell alle möglichen Arten von komplexen Gesteinen und Mineralien hervorgehen – vielleicht sogar erste Vorreiter jener Gesteinsmassen, aus denen die Kontinente der Erde bestehen.

„Für die ersten zehn Millionen Jahre der Erdgeschichte ist das Ganze ein unglaublich dynamischer Ort“, sagt Simon Lock, ein Planetenforscher am California Institute of Technology und einer der Co-Autoren der Studie. „Es ist eine ganz andere Welt, als sich die Menschen bisher vorgestellt haben.“

Obwohl das neue Modell noch nicht von Fachkollegen geprüft wurde, sind mehrere Experten der Meinung, dass es viele Vorzüge hat. Die Vorstellung, dass die Erde kurzzeitig wie eine Kartoffel aussah, mag seltsam erscheinen, sagt Sara Russell, eine Professorin für Planetenwissenschaften am Natural History Museum in London, die an der Arbeit nicht beteiligt war. Aber es sei möglich, dass der junge Mond einer der frühesten geologischen Ingenieure der Erde war.

„Von so etwas habe ich noch nie zuvor gehört, und es ist einfach unglaublich“, sagt sie.

Zirkon als Zeitmesser

Die Geschichte der Erde ist im Gestein verewigt. Aber Wind, Eis und Wasser zerfressen alte Felsen, während Gräben tief unter Wasser die alte Kruste verschlucken. All diese Vorgänge bedeuten, dass ein Großteil der geologischen Geschichte des Planeten mittlerweile ausgelöscht ist. Die Epochen kurz nach der Erdentstehung sind besonders mysteriös, aber Geologen gehen gemeinhin davon aus, dass es hier für einen beträchtlichen Zeitraum eher langweilig war: eine stagnierende, steinige Oberfläche unter einem dunstigen vulkanischen Himmel.

Rätselhaft ist deshalb, dass in Australien eine Reihe nahezu unzerstörbarer Kristalle namens Zirkone gefunden wurde, die Anhand ihres radioaktiven Zerfalls auf ein Alter von 4,4 Milliarden Jahren datiert wurden. Diese Mineralien kommen häufig in chemisch komplexen Gesteinen wie Graniten vor. Wissenschaftler konnten sich bislang nicht darauf einigen, wie eine geologisch eintönige Erde solche komplexen Materialien hergestellt haben könnte.

Lock vermutete deshalb, dass vielleicht der Mond etwas damit zu tun hatte.

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    Unser Mond entstand kurz nachdem sich die Erde gebildet hatte. Ein Objekt von der Größe eines Planeten kollidierte mit der Erde. Die daraus resultierenden Trümmer formten einen Ring aus Mondbausteinen, die sich zu einem grob kugelförmigen natürlichen Satelliten zusammensetzten. Simulationen deuten darauf hin, dass dieser neue Begleiter den Planeten in viel geringerem Abstand umkreiste als heute. Das hätte Auswirkungen auf die Erdrotation gehabt, aber frühere Studien hatten sich nicht mit den weiterreichenden Folgen befasst. Lock erstelle deshalb seine eigenen Simulationen, um herauszufinden, welchen Einfluss der Mond auf die Erdrotation gehabt haben könnte.

    Die Ergebnisse sollten eigentlich auf der 51. Mond- und Planetenwissenschaftskonferenz im März vorgestellt werden. Aber aufgrund der Coronavirus-Pandemie wurde die Zusammenkunft in Texas abgesagt. Die Zusammenfassung der Ergebnisse zeichnet ein bemerkenswertes Bild, das den Satelliten unseres Planeten als einen herausragenden Architekten präsentiert.

    Gravitationstanz von Erde und Mond

    Die Erde und ihr Mond sind in einem Gravitationstanz untrennbar miteinander verbunden. Und die Gesetze der Physik verlangen, dass, wenn das eine Objekt sein Verhalten ändert, das andere Objekt sein eigenes ebenfalls ändern muss, um das Gleichgewicht zu erhalten. Ein solcher Balanceakt, die Drehimpulserhaltung, bedeutet beispielsweise, dass sich die Erde schneller dreht, wenn der Mond nah an ihr vorbeizieht, und langsamer, wenn der Mond weiter weg ist.

    Kurz nachdem der Ozean aus geschmolzenem Gestein auf der Erde eine einfache Kruste gebildet hatte, war der Mond möglicherweise nur um die 13.000 Kilometer entfernt – heute sind es rund 383.000 Kilometer. Die Erde drehte sich so schnell, dass ein Tag nur etwa 2,5 Stunden lang war. Was kugelförmig hätte sein sollen, verformte sich unter dem Wirken dieser Kräfte zu einer Ellipse.

    „Ich hätte nie gedacht, dass die frühe Erde so flach war“, sagt Robert Stern, ein Plattentektonik-Experte an der University of Texas in Dallas, der an der Studie nicht beteiligt war. Es mag verrückt klingen, gibt er zu, aber „es macht Sinn“.

    Heute zieht die Schwerkraft des fernen Mondes unsere Ozeane an und sorgt für die Gezeiten. Damals war seine Anziehungskraft weitaus größer. Nach dem neuen Modell erzeugte er eine gewaltige Ausbuchtung aus festem Gestein, die einmal um die Erde gesamte lief, während sie vom Mond gejagt wurde. Aber diese Verfolgungsjagd bewirkte eine Beschleunigung des Mondes und brachte seinen Tango mit dem Planeten durcheinander. Um das Gleichgewicht wiederherzustellen, begann der Mond, sich von seinem Tanzpartner wegzubewegen.

    Die Erde reagierte darauf, indem sich ihre absurd schnelle Rotation verlangsamte. Dabei drückte sie sich zusammen und glich einem leicht zusammengedrückten Fußball. Die Felsen entlang ihres Äquators trafen wie bei einem Autounfall aufeinander und lösten so die Entstehung dramatischer Gebirge aus, von denen heute längst jede Spur verschwunden ist.

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    In der Nähe der Pole wurde die Kruste auseinandergerissen. Der darunterliegende, überhitzte Mantel quoll in den Spalten empor und sorgte im Laufe der Zeit für eine Menge Nachschub an Magma. Das „entspricht in etwa dem, was heute an den mittelozeanischen Rücken der Erde passiert, allerdings mit Hyperspeed“, sagt Lock. Es bildete sich also viel schneller als heutzutage neue Kruste.

    Während dieses Höllenspektakels wurden möglicherweise einige der riesigen Felsplatten in den Mantel hinabgedrückt. Wenn dem so war, hätte die brodelnde geologische Küche der Erde die Zutaten für die Zubereitung chemisch komplexerer Mineralien erhalten – wie jene 4,4 Milliarden Jahre alten Zirkone, die Geologen gefunden haben. Und wenn diese Zirkone wirklich zu Graniten gehörten, dann waren sie vielleicht der erste Versuch des Planeten, jene Art von Kontinentalgestein herzustellen, das einen Großteil unserer heutigen Landmassen ausmacht.

    Frühe Erde – fremde Welt

    Die fachliche Diskussion über die Frühgeschichte der Erde werde von Geologen dominiert, nicht von Planetenwissenschaftlern, sagt Stern. Aber, so fügt er hinzu, „die wirklich interessanten Dinge passieren, wenn neue Gruppen dazu etwas beitragen“. Dieser neue Ansatz der seltsam geformten, jugendlichen Erde „ist definitiv nicht wieder dasselbe alte Lied wie immer“.

    Es sei absolut plausibel, dass der Mond in den frühen Tagen des Planeten eine Rolle bei der Gestaltung der Erde gespielt hat, sagt Paul Byrne, ein Planetengeologe an der North Carolina State University, der an der Forschung nicht beteiligt war. Aber er sei wahrscheinlich nicht der einzige geologische Architekt gewesen. Das Innere der frühen Erde war dreimal heißer als heute, und diese Hitze hätte mit oder ohne die Hilfe des Mondes alle möglichen Veränderungen an der Oberfläche hervorrufen können.

    Da die Erde ihre frühe geologische Vergangenheit längst begraben hat, wird es schwierig sein, die Geschichte um den großen Einfluss des Mondes auf die Jugend des Planeten zu beweisen. Doch unabhängig davon, ob dieses Modell richtig oder falsch ist, hilft es uns laut Russell dabei, die frühesten Tage unseres Planeten besser zu verstehen – wenn wir uns die junge Erde als eine fremde Welt vorstellen und nicht als die Heimat, die wir heute kennen.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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