Die Rückkehr des Schlenderns: Kann man Spazieren lernen?
Ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie sind die Spazierwege voll wie nie. Doch der Entspannungseffekt bleibt manchmal aus. Was kann man beim Spazieren falsch machen – und welche virtuelle Alternative könnte es für Quarantäne-Phasen geben?
Nicht immer hat ein Spaziergang den gewünschten erholsamen Effekt. Warum eigentlich nicht – und wie macht man es richtig?
Spazierengehen ist wieder beliebt: Was vor einigen Jahren hauptsächlich Senioren, Müttern mit Kinderwägen oder verliebten Pärchen am Wochenende vorbehalten war, ist über ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie fest in den Alltag vieler Menschen integriert. Mit Kollegen beim strammen Walk zwischen Häuserfluchten diskutierend, parallel per Kopfhörer am nächsten Meeting teilnehmend oder eher verstohlen alleine bummelnd versuchen wir Frischluftzufuhr und Bewegung aufzuholen, die uns an langen Schreibtischtagen in Büro oder Home Office verwehrt bleiben. Nicht immer jedoch hat so ein Spaziergang den gewünschten erholsamen Effekt. Warum eigentlich nicht – und wie macht man es richtig?
Die Vorteile des Spazierengehens liegen seit Jahrzehnten auf der Hand: Durch die Bewegung an der frischen Luft werden Sauerstoffversorgung und Kreislauf angekurbelt, Muskelverspannungen lösen sich und Vitamin-D-Reserven werden aufgefüllt. Als sofortige „Belohnung“ für den Spaziergang können eine Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit, der Stimmung und sogar des abendlichen Schlafs locken, wie Wissenschaftler der Oregon State University in einer Studie herausfanden. Und auch die mittelfristigen Effekte auf die Gesundheit sind in der Tiefe erforscht: So können regelmäßige Spaziergänge Wirkung gegen Übergewicht, für bessere Knochen und Gelenke zeigen, sie senken das Sturzrisiko, lindern Diabetes und können sogar gegen Depressionen helfen.
In einem von Forschern des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf im Bundesgesundheitsblatt veröffentlichten Beitrag heißt es: „Auch körperliches Training kann (…) Symptome lindern und das Wohlbefinden steigern.“ Die Spanne zwischen einem Walking-Workout und einem gemütlichen Spaziergang ist dabei sicherlich nicht zu unterschätzen – doch auch geringfügige Bewegung kann das Leben verlängern, wie eine über 12 Jahre laufende Studie der Universität Cambridge zeigte: Demnach wurde bei Personen, die sich täglich in ihrer Freizeit z.B. in Form von Spaziergängen bewegten, im Vergleich zu sportlich nicht aktiven Studienteilnehmern eine um 23 Prozent verringerte Gesamtsterblichkeit verzeichnet.
Wo hört Spazierengehen auf, wo fängt Wandern an? Die Kunst des Schlenderns
Spazierengehen, Wandern, Walking – wo hört das eine auf, wo fängt das andere an? Eine Abgrenzung zwischen den Disziplinen in Form einer Definition zu finden, ist gar nicht so einfach. Aus sportmedizinischer Perspektive könnte die Geschwindigkeit ein Faktor sein – bei 5 bis 6 Stundenkilometern spricht man von strammem Wandern. Ebenso wie beim Wandern kann auch beim Walking Equipment in Form von Stöcken und Co. zum Einsatz kommen, wobei hinter dem (Nordic) Walking zusätzlich ein definiertes Fitnesskonzept mit Bewegungsabfolgen steht. Das Spazieren kommt als reinste Form des Gehens ohne alles aus – und soll das offenbar sogar: Die Ziellosigkeit des Wegs, das Fehlen eines räumlichen Schlusspunkts und das zufällige Entdecken neuer Routen gehören demnach zu den Kriterien eines Spaziergangs.
Wer das festgelegt hat? So genannte Experten der „Promenadologie“, auch „Spaziergangswissenschaft“ genannt - ein vom Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt entwickeltes Vorgehen, mit dem vor kulturwissenschaftlichem und ästhetischem Hintergrund die Bedingungen der Umweltwahrnehmung bewusst gemacht werden sollen. Der englische Terminus für diese Methode, mit der Burckhardt bis Mitte der 1990er Jahre an der Gesamthochschule Kassel im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung arbeitete, lautet übrigens „strollology“ – von „to stroll“, das im Englischen am ehesten mit gemütlichem Schlendern übersetzt werden kann.
Gibt es richtiges Spazieren?
Die WHO empfiehlt, täglich mindestens 8000, noch besser 10000 Schritte zu machen, also zwischen ein und zwei Stunden am Stück gehend zu verbringen. Doch wie macht man das richtig, um den maximalen Effekt für Körper und Geist herauszuholen? Auch ohne Fitnesskonzept macht es Sinn, die Bewegungen beim Spazieren zu variieren, also bergauf und bergab zu gehen und Tempowechsel vorzunehmen: Einer Studie der Ohio State University zufolge, die 2015 im Fachmagazin The Royal Society erschien und die Stoffwechselenergiekosten beim Gehen mit variierendem Tempo erforschte, machen Geschwindigkeitswechsel das Laufen sehr viel effektiver. Die Muskeln werden – von Schienbein und Wade bis Oberschenkel, von Füßen über Bauch und Po bis zur Nacken- und Rückenmuskulatur – ohnehin bei jedem Gang aktiviert und, je regelmäßiger spaziert wird, auch aufgebaut.
Noch wichtiger als der körperliche Akt des Gehens scheint unsere Wahrnehmung zu sein, was wir also beim Spazieren sehen und erleben. Spaziergangsforscher setzen hier auf eine Art Überraschungseffekt: das Entdecken neuer Routen, das Erleben überraschender Elemente, im Soziologischen auch „Resonanz“ genannt, wodurch die Verbindung mit der Natur wieder hergestellt werden kann. Diese erfahren wir intensiver, wenn wir keine Kopfhörer tragen, nebenbei am Business-Meeting teilnehmen oder uns unterhalten – dann bleibt vom Spazieren immerhin der Effekt der körperlichen Bewegung.
Wie wichtig ist, wo wir spazieren?
Apropos Natur: Die Wirkung der Naturwahrnehmung auf die psychische Gesundheit untersuchten unter anderem Forscher der Universität von Essex. Das Ergebnis der Multistudienanalyse, die 2010 im Fachmagazin Environmental Science and Technology erschien: Jegliche Bewegung im Grünen tut Körper und Seele gut. „Jede grüne Umgebung verbesserte sowohl das Selbstwertgefühl als auch die Stimmung“, heißt es in den Studienergebnissen, „das Vorhandensein von Wasser erzeugte größere Auswirkungen.“ Ob auf dem Land oder in der Stadt, ob es sich nur um einen kurzen Spaziergang oder eine ausgedehnte Wanderung handelt: Je mehr Natur wir wahrnehmen können, um so besser. Die Empfehlung der Forscher: Übungen im Freien sollten in Therapien inkludiert werden, Planer und Architekten sollten den Zugang zu Grünflächen verbessern und Kinder sollten zwischendurch auch im Freien lernen können.
Die Notfall-Alternative zum Spazieren
In Zeiten der Pandemie haben die Natur und das Spazieren im Grünen an Wertschätzung gewonnen – doch was, wenn das beispielsweise aufgrund von Quarantäne nicht möglich ist? Forscher der Uni Hamburg haben eine interessante Alternative erarbeitet: die virtuelle Natur-Wahrnehmung mittels VR-Brille. Ein Forschungsteam der Arbeitsgruppe Human-Computer Interaction des Fachbereichs Informatik untersuchte in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, ob immersive Videos (auch 360-Grad- oder VR-Videos genannt) die positiven Auswirkungen der Natur im Vergleich zu Fotos verstärken. Die Idee zum Forschungsprojekt entstand vor dem Hintergrund der Pandemie, sagt Fariba Mostajeran, Erstautorin der Studie, die im Fachmagazin Nature erschien. „Schon vor der Pandemie wussten wir, dass Menschen bis zu 90 Prozent ihrer Zeit in Innenräumen verbringen. COVID-19 verschärft die Isolation der Menschen und ihren regelmäßigen Kontakt mit der Natur.“ Für Kranke oder Pflegebedürftige, ältere und andere Menschen, deren Zugang zur Natur eingeschränkt sei – zum Beispiel Gefängnisinsassen oder auch im Fall einer Quarantäne – könnten, so Mostajeran, „virtuelle Naturdarstellungen eine Alternative darstellen, um von der Illusion einer natürlichen Umgebung zu profitieren.“
Die Resultate der Studie machen Mut, auch während langen Quarantäne-Phasen nicht ganz auf die entspannende Wirkung eines Waldspaziergangs verzichten zu müssen: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Waldumgebung einen positiven Effekt auf die Kognition hatte und die städtische Umgebung unabhängig von der Art der Präsentation die Stimmung störte“, sagt Mostajeran. Und weiter: „Fotos reichten aus, um die Wirkung der Umgebung zu beobachten. Immersive Videos führten jedoch zu einem stärkeren Effekt, sich in der Umgebung präsent zu fühlen.“
Das Motto „Je mehr Natur, desto besser“ gilt dabei auch für die Wahrnehmung durch die VR-Brille: So könnten eine bessere Auflösung der Displays und eine realistischere Darstellung für noch stärkere Effekte sorgen, sagt die Forscherin. Zudem wurde in der Studie wurde lediglich mit visuellen und akustischen Reizen gearbeitet. Interessant könnte die Ausdehnung der virtuellen Naturerfahrung auf weitere Sinne sein – auch auf wissenschaftlicher Ebene: „Ein Besuch in einem virtuellen Wald könnte für die Teilnehmer realistischer sein, wenn sie zusätzlich zum Sehen und Hören des Waldes das Holz riechen – zum Beispiel mit einem Geruchssystem –, den Wind auf ihrer Haut durch einen sanft wehenden Ventilator oder die wärmende Wirkung des Sonnenlichts mittels einer thermischen Anzeige spüren könnten“, sagt Fariba Mostajeran. „Sie könnten eine angemessene haptische Rückmeldung erhalten, wenn sie die Bäume berühren oder auf den Blättern laufen – zum Beispiel mit Hilfe von haptischen Handschuhen und Schuhen.“ Die positive Wirkung einer solchen immersiven virtuellen Natur könnte dann noch stärker sein – und zumindest in Situationen, in denen ein echter Spaziergang nicht möglich ist, eine vielversprechende Alternative.