30 Jahre Ötzi-Fund: „Der am besten erforschte menschliche Körper der Welt“

Ein Mann wird in der Jungsteinzeit in den Alpen ermordet. 5.000 Jahre später ist er die berühmteste Mumie Europas. Was seine Tattoos, Verletzungen und DNA über ihn verraten – und warum die Forschung an ihm auch für die Zukunft so wichtig ist.

Von Jennifer Pinkowski
Veröffentlicht am 20. Sept. 2021, 11:33 MESZ

Am 19. September 1991 finden deutsche Bergwanderer den mumifizierten Leichnam eines Mannes, umschlossen von Eis. Er liegt mit dem Gesicht nach unten auf 3.208 Metern Höhe am Tisenjoch, einer Senke des Schnalskamms in den Ötztaler Alpen zwischen Österreich und Italien. Ihrem Fundort verdankt die heute berühmteste Mumie Europas ihren Namen: Ötzi. Im September 2021 feiert seine Entdeckung ihr 30-jähriges Jubiläum.

5.000 Jahre hatte das Eis Ötzis Überreste konserviert. Nach seiner Freilegung in den frühen 90er Jahren errang er schnell weltweite Bekanntheit: Er war Hauptfigur unzähliger Bücher und Dokumentationen und sogar eines Spielfilms, der von seinem Leben in der Kupfersteinzeit und seinen gewaltsamen Tod handelt.

Heute wird der verschrumpelte Körper des Mannes aus dem Eis bei konstanten -6,5 Grad in einer Kältekammer im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen, Italien, verwahrt. Vier- bis fünfmal im Jahr besprüht man ihn mit sterilem Wasser, das ein schützendes Exoskelett aus Eis bildet. So soll verhindert werden, dass die Feuchtmumie austrocknet. Für den Fall, dass die erste Kühlkammer einmal ausfällt, steht eine zweite bereit.

Galerie: Ötzi – Die Autopsie

Jährlich reisen etwa 300.000 Besucher nach Bozen, um die spätneolithische Mumie durch das dicke Glas zu bestaunen, das einen Blick in seine Eiskammer erlaubt. Doch auch das Interesse der Wissenschaft an ihm ist nach wie vor groß, denn er bietet die seltene Gelegenheit, die konservierten Überreste eines Mannes zu untersuchen, der lange vor dem Bau der ältesten europäischen Städte und sogar vor der Errichtung der ersten ägyptischen Pyramiden gelebt hat.

„Ötzi ist meiner Meinung nach der am besten erforschte menschliche Körper der Welt“, sagt Oliver Peschel, forensischer Pathologe aus München, der für die Erhaltung der Mumie verantwortlich ist.

In 30 Jahren Forschung konnten Wissenschaftler viele interessante und erstaunliche Erkenntnisse über den Eismann gewinnen. Wir fassen die wichtigsten Fakten zusammen und geben einen Ausblick darauf, welche Geheimnisse der einzigartigen Mumie die Wissenschaft in den kommenden Jahren noch lüften könnte.

Wer war Ötzi?

Ötzi war ein drahtiger Mann mit einer Körpergröße von schätzungsweise 1,60 Meter. Als er starb, war er ungefähr 46 Jahre alt. Er war Linkshänder und würde heute vermutlich Schuhgröße 40 tragen. Von seinen Augen, die noch gut erhalten in den Augenhöhlen vorgefunden wurden, dachte man lange, dass sie blau gewesen wären. Eine Analyse seines Genoms hat inzwischen aber andere Ergebnisse gebracht. „Wir konnten beweisen, dass er braune Augen und Haare hatte. Seine Hautfarbe war typisch für den mediterranen Raum“, sagt Albert Zink, Leiter des EURAC Instituts für Mumienforschung in Bozen, das den größten Teil der Untersuchungen an Ötzi durchgeführt hat.

Der Eismann hatte Blutgruppe 0 und war laktoseintolerant. Sein zwölftes Rippenpaar hatte sich aufgrund einer seltenen genetischen Anomalie nie ausgebildet. Er litt an Karies, Darmparasiten, Borreliose und hatte Schmerzen in Knien, Hüfte, Schultern und Rücken. Die 61 Tätowierungen an seinem Körper waren an Stellen in die Haut gestochen, an denen Gelenke und Knochen besonders beansprucht werden, sowie an Akkupunkturpunkten, sodass vermutet wird, dass sie einen therapeutischen Nutzen hatten. Ötzi hatte sich im Laufe seines Lebens mehrere Rippen und die Nase gebrochen. Waagerechte Einkerbungen auf seinen Fingernägeln deuten darauf hin, dass er vor seinem Tod wiederholt unter körperlichem Stress gestanden hatte, der vermutlich durch Mangelernährung ausgelöst worden war. Er hatte eine genetische Prädisposition für Arterienverkalkung: Mithilfe eines CT-Scans konnte bewiesen werden, dass der Mann aus dem Eis der weltweit erste belegbare Fall einer Herzerkrankung ist.

Basierend auf der Analyse von Daten, die mithilfe der Radiokarbonmethode erhoben wurden, wird geschätzt, dass Ötzi vor etwa 5.200 Jahren, zwischen 3350 bis 3110 v. Chr., gelebt hat.

Galerie: Forscher rekonstruieren Ötzis fieberhaften letzten Aufstieg

BELIEBT

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    Woher kam er?

    Eine DNA-Untersuchung hat gezeigt, dass Ötzi in Verbindung mit einer Wanderungsbewegung neolithischer Bauern stand, die vor 8.000 bis 6.000 Jahren über Anatolien – die heutige Türkei – nach Europa kamen. Dort nahmen sie den Platz der altsteinzeitlichen Jäger und Sammler ein. Die Erbgutabschnitte der mütterlichen Linie sind aus der modernen Bevölkerung verschwunden, doch die Gene der väterlichen Linie können heute noch bei Menschen gefunden werden, die auf den Mittelmeerinseln, insbesondere auf Sardinien, leben.

    Welche Kleidung trug der Mann aus dem Eis?

    Ötzi trug nur einen einzelnen Schuh, doch die meisten seiner Besitztümer konnten nach und nach rund um die Fundstelle geborgen werden. Die Beinlinge und die Jacke, die er trug, waren Patchworkarbeiten, die aus der Haut verschiedener Schafe und Ziegen aus der Region zusammengenäht worden waren. Sein Schuh war zur Polsterung und Isolierung mit Süßgras ausgekleidet, der Schaft war aus Rindsleder, die Sohle aus Bärenfell. Seine Kopfbedeckung war ebenfalls aus dem Fell eines Braunbären gemacht.

    Welche Gegenstände hatte Ötzi bei sich?

    Die Ausrüstung, die Ötzi auf seine Wanderung durch die Alpen mitgenommen hatte, bestand unter anderem aus einer Rückentrage mit einem Rahmen aus Haselholz und einem Köcher aus Wildleder. In diesem befanden sich vierzehn Pfeilschäfte, nur zwei von ihnen verfügten über eine Pfeilspitze. Er hatte außerdem einen Dolch bei sich, dessen Klinge aus Feuerstein und Griff aus Ebenholz gefertigt waren. Um diesen zu schärfen, benutze er einen Retuscheur, der aus Lindenholz und dem feuergehärteten Span eines Hirschgeweihs bestand. Die Innenwand einer zylindrischen Dose aus Birkenholz, die bei ihm gefunden wurde, war verkohlt: Es wird vermutet, dass es sich bei dem Gegenstand um einen Glutbehälter gehandelt hat, in dem glühende, in Spitzahornblätter gewickelte Kohle transportiert wurde. Diese ermöglichte es, schneller ein Feuer zu entzünden. Ähnliche Transportbehälter werden in dieser Region in den Alpen noch heute hergestellt. 

    Ein für die heutige Wissenschaft besonders wichtigstes Objekt in Ötzis Inventar ist das wertvolle Kupferbeil. Die Beilklinge besteht aus zu 99,7 Prozent reinem Kupfer und ist mit Rindsleder und Birkenpech an einem Schaft aus Eibe befestigt. Es handelt sich bei der Waffe um einen für die damalige Zeit unermesslich kostbarer Gegenstand, der auch für die moderne Forschung einen enormen Wert hat: Seine Entdeckung hat dazu geführt, dass der geschätzte Beginn der Kupfersteinzeit in Europa um tausende Jahre in die Vergangenheit verschoben wurde.

    Woraus bestand seine letzte Mahlzeit?

    In den Stunden unmittelbar vor seinem Tod nahm Ötzi ein gehaltvolles Mahl aus Einkorn, Rotwild und Steinbock zu sich. Da sich sein Magen unter die Rippen auf Höhe der Lungen geschoben hatte, dauerte es achtzehn Jahre bis die Forscher das Organ im Jahr 2009 endlich mithilfe eines CT-Scans lokalisieren konnten.

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    Wie starb Ötzi?

    Eine Schnittwunde zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand lässt darauf schließen, dass Ötzi einige Tage vor seinem Tod in einen Nahkampf verwickelt war. Bei der Wunde handelt es sich um eine aktive Abwehrverletzung, das heißt, er versuchte vermutlich die Waffe des Angreifers zu fassen zu bekommen. Noch bevor diese Verletzung verheilen konnte, wurde er einige Tage später von einem Pfeil getroffen, der das linke Schulterblatt durchschlug und die Hauptschlagader verletzte. Diese arterielle Verletzung hatte einen rapiden Blutverlust zur Folge, sodass er wenige Minuten nach dem tödlichen Treffer starb.

    Wissenschaftler stellten außerdem ein schweres Schädeltrauma bei Ötzi fest, über dessen mögliche Ursache die Experten sich jedoch nicht einigen können. Eine Erklärung könnte sein, dass sein Angreifer mit einem Schlag auf seinen Kopf sicherstellen wollte, dass Ötzi wirklich tot war. Möglicherweise hatte er sich die Verletzung aber auch beim Fall zugezogen, in dessen Folge er mit dem Kopf gegen einen Stein geschlagen war. Laut Oliver Peschel fehlen für beide Szenarien aber die nötigen Beweise.

    Wie kam es zu der natürlichen Mumifizierung?

    Basierend auf der Analyse von Pollen und den Ahornblättern, die er bei sich trug, gehen die Forscher davon aus, dass Ötzi im Frühsommer gestorben ist. Dieser Umstand ist Grundlage für die Theorie, dass warme Sommerwinde den Leichnam austrockneten und so seine Mumifizierung herbeigeführt haben. Oliver Peschel zufolge waren es jedoch die frostigen Temperaturen des Hochgebirges, die den Eismann so gut konserviert haben. Durch die Kälte sei sein Gehirn, das sich ansonsten, wie alle anderen Organe, schon wenige Tage nach seinem Tod verflüssigt hätte, gefriergetrocknet.

    Was weiß man über Ötzis Verdauung? 

    Obwohl es schon hunderte Untersuchungen rund um den Mann aus dem Eis gibt, ist er bei weitem noch nicht vollständig erforscht. Nachdem es dem Institut für Mumienforschung zuletzt gelang, Ötzis Genom zu sequenzieren, arbeiten die Wissenschaftler nun daran, seine Darmflora zu analysieren. „Wir wollen herausfinden, welche Bakterien seinen Verdauungstrakt bevölkert haben“, erklärt Albert Zink.

    Die Wissenschaftler hoffen, anhand der Darmflora Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand Ötzis ziehen zu können, da eine große Vielfalt von guten Darmbakterien ein Zeichen guter Gesundheit ist. In einer ersten Studie der Staatlichen Universität in Trient, Italien, wurden die Bakterien im Verdauungstrakt des Eismannes mit denen von 6.500 moderner Menschen verglichen. Im Darm von Ötzi fanden sich drei der vier Stämme des Bakteriums Prevotella copri. Auch bei Angehörigen indigener Völker können verschiedene Stämme des Bakteriums im Darm festgestellt werden, die nebeneinander existieren. Die Darmflora der Menschen in der modernen westlichen Welt weist meist nur einen Stamm auf, der irgendwann die Oberhand gewonnen hat. Dadurch wird die Bakterienvielfalt der Darmflora merklich reduziert.

    Eine weitere Entdeckung, die die Forscher im Verdauungstrakt von Ötzi machten, ist das Bakterium Helicobacter pylori. Etwa die Hälfte der heutigen Weltbevölkerung ist chronisch damit infiziert, etwa zehn Prozent dieser Träger zeigen deutliche Krankheitssymptome oder sterben sogar daran. Bei dem heute in Europa vorherrschende Stamm von H. pylori handelt es sich um eine Kreuzung aus dem afrikanischen und dem asiatischen Stamm. Der Stamm, der in der Darmflora von Ötzi gefunden wurde, ist fast zu hundert Prozent asiatisch. Das legt nahe, dass der afrikanische Stamm Europa erst nach seinem Tod erreicht hat. Diese Erkenntnis könnte für die Frage, ob H. pylori ein natürliches Bakterium der Darmflora ist, oder ob es sofort nach seiner Entdeckung mit Antibiotika behandelt werden muss, von großer Bedeutung sein.

    Bei weiteren Untersuchungen wurde außerdem ein Ahnenstamm des Krankheitserregers Clostridium perfringens festgestellt, der heutzutage vor allem als häufige Ursache für Lebensmittelvergiftungen bekannt ist.

    Ötzi wird grün

    Die Stadt Bozen plant für die nächsten Jahre den Bau eines neuen archäologischen Museums, in dem sowohl Ötzi als auch eine noch umfassendere Sammlung von Artefakten aus Tirol ausgestellt werden sollen. Dies wird auch Anlass für die Modernisierung der 22 Jahre alten Kühlkammer sein, die dringend energieeffizienter gestaltet werden soll.

    Nachahmung der Natur

    Noch immer bemühen sich die Wissenschaftler des Instituts für Mumienforscher, die natürlichen Prozesse – insbesondere den Einfluss von Witterung und Mikroben –, die Ötzi über fünf Jahrtausende konserviert haben, besser zu verstehen. Für mehr Aufklärung soll die Analyse der mumifizierten Überreste einer Gämse sorgen, die im Sommer 2020 in derselben Region gefunden wurde wie der Eismann. Obwohl sie nur einige hundert Jahre alt ist, ist ihr Erhaltungszustand doch mit dem von Ötzi vergleichbar. Die Forscher wollen durch die Lagerung der Überreste der Gämse bei unterschiedlichen Temperaturen und verschieden hoher Luftfeuchtigkeit ermitteln, wie sich eine Veränderung dieser Faktoren auf den Erhaltungsgrad niederschlägt. Außerdem untersuchen sie die mikrobiellen Gemeinschaften, die sowohl auf als auch in dem Tier leben. „Wir wissen, dass es Bakterien und Pilze gibt, die niedrigen Temperaturen gegenüber resistent sind. Wenn man in dieser Hinsicht also Änderungen vornimmt, könnte dies eventuell ihr Wachstum anregen“, so Albert Zink.

    Wie sieht Ötzis Zukunft aus?

    Bei der Frage, welche Geheimnisse Ötzi in Zukunft noch entlockt werden können, spielt der technische Fortschritt eine entscheidende Rolle. Das Genom der Mumie wurde im Jahr 2012 entschlüsselt: Damals wurde die Methode des Next-Generation Sequencing (NGS) gerade leichter verfügbar und kostengünstiger. Trotzdem hätte laut Albert Zink zu dieser Zeit niemand damit gerechnet, dass es irgendwann möglich sein würde, auch noch das Mikrobiom des Eismanns zu rekonstruieren. „Nur dank der schnellen Entwicklung dieser Technologien war es möglich, so viele Daten zu erheben,“ sagt er.

    Im Fokus zukünftiger Forschungen könnten Ötzis Körperfunktionen stehen. Die Proteine, Lipide und Enzyme, die in seinem Gewebe gefunden wurden, könnten Aufschluss über sein Immunsystem geben. Derzeit ist die Proteinanalyse fossiler Proben jedoch noch ein äußerst komplexer Prozess.

    Nicht nur der Stand der Technik setzt Grenzen: Auch wenn ein großer Forschungsbedarf besteht, muss sichergestellt bleiben, dass die Untersuchungen nicht zu invasiv ausfallen oder zu häufig durchgeführt werden. Jährlich erreichen das Museum etwa zehn bis fünfzehn Forschungsanfragen, die von einem Komitee aus Experten verschiedener Universitäten und aus dem Museumsumfeld evaluiert werden. Etwa einmal jährlich werden Proben von der Oberfläche der Mumie zur mikrobiologischen Untersuchung genommen. Ötzi wird nur selten aufgetaut – das letzte Mal im Jahr 2019.

    „Wir können uns heute noch gar nicht vorstellen, welche wissenschaftlichen Methoden uns im Jahr 2050 zur Verfügung stehen werden“, so Oliver Peschel. „Darum müssen wir uns darum bemühen, Ötzi so gut wie möglich zu erhalten. Nur dann kann sein Körper der Wissenschaft auch noch in 20 oder 30 Jahren zur Verfügung stehen.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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