Analyse von Genomen gewährt Einblicke in das Familienleben der Neandertaler
Das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat mithilfe von Erbgut erstmals mehrere Familienmitglieder innerhalb einer Neandertalergruppe ausfindig gemacht – und so neue Erkenntnisse über unsere ausgestorbenen Verwandten gewonnen.
Ein internationales Forschungsteam hat die Genome von verwandten Neandertalern sequenziert.
Es ist über 160 Jahre her, dass östlich von Düsseldorf erstmals ein Individuum einer ausgestorbenen Menschengattung identifiziert wurde, die wir heute als Neandertaler kennen. Der Fund war eine Sensation, und sein Fundort – das Neandertal – gab unseren Verwandten ihren Namen.
Rund 500 Kilometer weiter östlich, in Leipzig, kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu spektakulären Forschungsergebnissen rund um die Neandertaler. Erst vor wenigen Wochen wurde Svante Pääbo, Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, für die Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Nun haben Forschende desselben Instituts gemeinsam mit einem internationalen Team einen weiteren Schritt in der Erforschung der Evolution gemacht: Erstmals gelang es, die Genome mehrerer Mitglieder einer Neandertalergruppe zu sequenzieren – und so eine Familie ausfindig zu machen.
Die untersuchte DNA stammt aus Höhlen im sibirischen Altai-Gebirge, genauer aus den Chagyrskaya- und der Okladnikov-Höhlen. Beide Höhlen waren vor circa 54.000 Jahren von der untersuchten Neandertaler-Sippe bewohnt worden und sind voll von Spuren und Überresten alter Werkzeuge. Es gelang, Erbgut aus 17 verschiedenen Neandertaler-Überresten zu entnehmen und zu sequenzieren – nach Angaben der Autoren „so viele wie noch nie zuvor im Rahmen einer einzigen Studie“. In den Höhlen hatte man mehr als 80 Knochen- und Zahnfragmente von Neandertalern gefunden.
In der Chagyrskaya Höhle lebte vor 54.000 Jahren eine Gruppe Neandertaler. Wie genau sich die Gemeinschaft zusammensetzte, und wie sie mit anderen Neandertalern verwandt waren, haben Wissenschaftler auf Basis ihrer Genome erforscht.
Konkretes Bild der damaligen Gemeinschaften
Unter den insgesamt sequenzierten Neandertalern konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem einen Vater und seine Teenager-Tochter ausmachen. Darüber hinaus wurden zwei Verwandte zweiten Grades bestimmt: ein kleiner Junge und eine erwachsene Frau, die nach Angaben der Forschenden seine Cousine, Tante oder Großmutter gewesen sein muss.
„Mithilfe der Genetik können wir erstmals die soziale Organisation einer Neandertalergruppe untersuchen“, sagt Erstautor Laurits Skov. Es scheine sich um eine kleine Gruppe enger Verwandter gehandelt zu haben, die aus 10 bis 20 Mitgliedern bestanden habe. „Unsere Studie zeichnet ein ganz konkretes Bild davon, wie eine Neandertalergemeinschaft ausgesehen haben könnte“, sagt Benjamin Peter, Co-Autor der neuen Studie. Bindeglieder zwischen verschiedenen Neandertalergruppen seien in erster Linie migrierende Frauen gewesen. Die Ausgrabungsarbeiten in den sibirischen Höhlen fanden in den vergangenen 14 Jahren unter der Leitung von Forschenden des Instituts für Archäologie und Ethnographie der Russischen Akademie der Wissenschaften statt.
Genetische Verbindungen zu „europäischen“ Neandertalern
Für ihre Steinwerkzeuge sammelten die Neandertaler damals das Rohmaterial dutzende Kilometer von den Höhlen entfernt. „Das Vorkommen desselben Rohmaterials in den Höhlen von Chagyrskaya und Okladnikov stützt zusätzlich aber auch genetische Daten, die darauf hindeuten, dass die Gruppen, die diese Orte bewohnten, eng miteinander verbunden waren“, heißt es.
Herausgefunden wurde auch, dass die jetzt untersuchte Gemeinschaft von Neandertalern abstammt, die nah mit den europäischen Neandertalern verwandt waren. Das zeigt nicht nur die DNA, sondern auch Steinwerkzeuge aus der Chagyrskaya-Höhle: Sie sind jenen aus dem Gebiet des heutigen Deutschlands und aus Osteuropa ähnlich.