In uns steckt mehr Neandertaler-DNA als gedacht

Neue Genanalysen widerlegen alte Annahmen und zeigen, dass Afrikaner und Europäer mehr genetisches Material von Neandertalern haben als angenommen.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 11. Feb. 2020, 16:07 MEZ
Lange Zeit waren Forscher davon ausgegangen, dass afrikanische Populationen keine Neandertaler-DNA in sich tragen. Neue Modelle ...
Lange Zeit waren Forscher davon ausgegangen, dass afrikanische Populationen keine Neandertaler-DNA in sich tragen. Neue Modelle offenbaren nun ein deutlich komplexeres Bild von den Wanderbewegungen und Genflüssen unserer Vorfahren.
Foto von Joe Mcnally, Nat Geo Image Collection

Nach allem, was wir bisher wissen, verließ vor etwa 60.000 Jahren eine Welle früher Menschen den afrikanischen Kontinent und breitete sich über die gesamte Welt aus. Diese Reisenden trafen unterwegs auf entfernte Verwandte, die ihnen fremdartig vorgekommen sein müssen.

In Europa und Vorderasien streiften Neandertaler durch die Landschaft, während in Asien die Denisova-Menschen vorherrschten. Wann immer diese Gruppen aufeinandertrafen, schienen sie zumindest eine Gemeinsamkeit zu teilen: Sex.

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Die genetischen Spuren dieser Durchmischung finden sich auch heute noch in vielen Populationen. Die Genome von Europäern und Asiaten gehen zu etwa zwei Prozent auf Neandertaler zurück. Asiaten tragen zusätzlich noch Denisova-DNA in sich – bei den Melanesiern sind es bis zu sechs Prozent. Afrikanische Populationen schienen von diesen externen genetischen Einflüssen aber größtenteils unberührt geblieben zu sein.

Nun haben Forscher im Fachmagazin „Cell“ eine Studie veröffentlicht, die diesen Irrtum aufklärt: moderne afrikanische Populationen haben mehr Abschnitte von Neandertaler-DNA in sich, als man dachte – ungefähr ein Drittel der Menge, die das Team in Europäern und Asiaten fand. Außerdem lässt ihr Modell darauf schließen, dass auch die Menge der Neandertaler-DNA in Europäern unterschätzt wurde.

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    “Es gab nicht den einen Genfluss, nicht die eine Migration, sondern häufigen Kontakt.”

    Janet Kelso, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

    Der Studienautor Joshua Akey, ein Genetiker der Princeton University, wollte seinen eigenen Ergebnissen zunächst nicht trauen. „Das kann doch nicht stimmen“, erinnert er sich an seine erste Reaktion. Doch nach anderthalb Jahren gründlicher Tests waren er und seine Kollegen schließlich überzeugt: Um die 17 Millionen Basenpaare der afrikanischen Genome stammen von Neandertalern. Wahrscheinlich kamen sie zumindest teilweise von den Vorfahren heutiger Europäer, die wieder zurück nach Afrika gingen und Teile der Neandertaler-DNA in ihren eigenen Genomen mitbrachten.

    Wenn es um diese frühen Wanderbewegungen geht, „sieht die Vorstellung oft so aus, dass die Menschen Afrika verließen und nie zurückkehrten“, sagt Akey. Aber die neuen Ergebnisse – und einige frühere Studien – verdeutlichen, dass das nicht der Fall war. „Das war eindeutig keine Einbahnstraße.“

    „Das ist ein tolles neues Puzzleteil“, findet auch Janet Kelso, eine Bioinformatikerin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, die an der Studie nicht beteiligt war. Das neue Modell korrigiere frühere Annahmen über den genetischen Einfluss der Neandertaler und offenbare damit, wie viele Informationen sich wahrscheinlich noch in unseren Genen verbergen.

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    „Das Bild, das sich gerade formt, zeigt, dass das Ganze wohl ziemlich kompliziert ist: Es gab nicht den einen Genfluss, nicht die eine Migration, sondern häufigen Kontakt“, so Kelso. Das sei zwar spannend, aber auch eine analytische Herausforderung.

    Die Wurzeln der Menschheit sind ein komplex verzweigtes Geflecht. Das anzuerkennen und Methoden zu entwickeln, um dieses Geflecht zu entwirren, ist der einzige Weg nach vorn.

    Unsere mysteriösen Verwandten

    Wissenschaftler spekulieren schon seit Langem darüber, wie die Beziehung zwischen Neandertalern und modernen Menschen wohl ausgesehen hat. Auch wenn sich die Fragestellung im Laufe der Zeit verändert hat, geht die Debatte zurück bis zur Entdeckung der Neandertaler, sagt John Hawks. Der Paläoanthropologe der University of Wisconsin-Madison war an der aktuellen Studie nicht beteiligt.

    In den letzten paar Jahrzehnten wurde die Vermischung dieser beiden Vertreter der Gattung Homo zur zentralen Frage. Teilten sie nicht nur den Lebensraum miteinander, sondern auch die Schlafstätte? Als 2010 das erste vollständige Neandertaler-Genom veröffentlicht wurde, hatten die Forscher endlich eine Antwort: Ja.

    Der Vergleich der Neandertaler-DNA mit fünf lebenden Menschen offenbarte, dass Europäer und Asiaten – nicht aber Afrikaner – Spuren einer solchen Kreuzung in sich trugen. Seither gab es zwar ein paar Studien, die auch auf Spuren des Neandertaler-Erbes in Afrika hindeuteten, aber niemand hatte diese verzweigten Äste unseres Stammbaums weiterverfolgt.

    In den letzten paar Jahrzehnten wurde die Vermischung dieser beiden Vertreter der Gattung Homo zur zentralen Frage.
    Foto von National Geographic Staff

    Um diese genetische Durchmischung aus einer neuen Perspektive zu betrachten, entwickelten Akey und sein Team eine neue Methode, um die verstreute hominine DNA in modernen Genomen zu untersuchen. Alle Modelle, die sich mit dieser Fragestellung befassen, müssen nicht nur gemeinsame Gensequenzen identifizieren können. Sie müssen auch herausfinden, wieso diese Sequenzen einander ähneln – denn nicht immer ist eine Paarung verschiedener Arten der Grund. Einige DNA-Abschnitte können sich auch aufgrund eines viel früheren gemeinsamen Vorfahren ähneln.

    Viele Modelle, die der Spur der Neandertaler-DNA nachgehen, nutzen eine sogenannte Referenzpopulation – die Genome einer im Normalfall afrikanischen Gruppe, bei der man davon ausgeht, dass sie über keine DNA von anderen Homo-Vertretern verfügt.

    „Das war nie eine vernünftige Annahme“, sagt Hawks. Indem man ein Modell bereits so konstruiert, verbergen sämtliche Analysen das potenzielle Neandertaler-Erbe von Menschen afrikanischer Herkunft.

    Akey und sein Team nutzten stattdessen große Datensätze, um die Wahrscheinlichkeit dafür zu ermitteln, dass ein bestimmter Abschnitt eines Genoms von Neandertalern stammte oder nicht. Ihre Methode erprobten sie an den Genomen von 2.504 Individuen aus aller Welt – Ostasien, Europa, Südasien, Amerika und Nordafrika –, die im Rahmen des Projekt 1000 Genomes gesammelt wurden. Dann verglichen sie diese DNA mit einem Neandertaler-Genom.

    Nadeln im genetischen Heuhaufen

    Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Afrikaner im Schnitt 17 Millionen Neandertaler-Basenpaare haben. Das ist etwa ein Drittel der Menge, die das Team bei Europäern und Asiaten fand – und deutlich mehr als die meisten vorherigen Schätzungen.

    „Es gibt deutlich mehr Nadeln im Heuhaufen (also Neandertaler-Gensequenzen in Afrikanern), als wir dachten!“, schrieb die Paläoanthropologin Marcia Ponce de León von der Universität Zürich per Mail.

    Aber wie gelangte die Neandertaler-DNA nach Afrika? Die einfachste Antwort wäre vermutlich, dass Neandertaler nach Afrika einwanderten. Dieses Szenario lässt sich zwar nicht vollständig ausschließen, aber Akey zufolge gibt es bislang auch keine überzeugenden Beweise dafür.

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    Stattdessen befindet sich in den Daten ein Hinweis auf eine andere Antwort: Afrikanische Populationen teilen sich den Großteil ihrer Neandertaler-DNA mit Nicht-Afrikanern, insbesondere mit Europäern.

    Daher ist es wahrscheinlich, dass moderne Menschen aus Europa wieder nach Afrika zurückkehrten. Durch ihre Begegnungen mit den Neandertalern trugen sie deren DNA bereits in sich. Die Modelle zeigten, dass schon ein kleiner Zufluss dieser DNA in den letzten 20.000 Jahren die aktuelle Verteilung in den Genomen erklären kann, sagt Akey. Wann genau sich dieser DNA-Zufluss ereignete, lässt sich aber nur schwer sagen. Ein kleiner Teil könnte laut Akey aus den letzten paar Jahrtausenden stammen – beispielsweise von der Invasion durch das Römische Reich oder vom Sklavenhandel.

    Ein anderer Teil der Neandertaler-DNA in Afrikanern stammt außerdem von einer genetischen Durchmischung in die andere Richtung. Heutige nicht-afrikanische Populationen stammen zwar von jenen frühen Menschen ab, die Afrika vor 60.000 Jahren verließen – aber diese Auswanderer waren nicht die ersten, die den Kontinent hinter sich ließen. Einige brachen womöglich schon vor mehr als 200.000 Jahren ins Unbekannte auf.

    Diese frühen Wanderer kreuzten sich vor über 100.000 Jahren wahrscheinlich ebenfalls mit den Neandertalern und hinterließen ihre eigenen genetischen Spuren im Neandertaler-Genom. Ein Teil der Neandertaler-DNA in afrikanischen Population könnte also aus dieser gemeinsamen Vergangenheit stammen.

    „Der Genfluss verlief in beide Richtungen“, sagt Akey. „Ein Teil der Gensequenzen in modernen Menschen, die wir Neandertalern zuschreiben, ist eigentlich eine Sequenz von modernen Menschen im Neandertaler-Genom.“

    Die neue Methode förderte noch ein weiteres interessantes Detail zutage: Moderne Europäer haben einen etwas höheren Anteil an Neandertaler-DNA, als man zuvor annahm. Damit haben sie nur noch etwa acht Prozent weniger Neandertaler-DNA als Ostasiaten – zuvor war man von einer 20-prozentigen Diskrepanz ausgegangen.

    „Das zeigt, dass ein Großteil unseres Neandertaler-Erbes unserer gemeinsamen Geschichte entstammt“, so Akey.

    Abschied von der Geschichte der linearen Evolution

    Trotzdem bleiben noch viele Fragen. Könnte es beispielsweise noch mehr Neandertaler-DNA geben, die wir bislang übersehen haben?

    Hawks fällt die Antwort leicht: „Auf jeden Fall, ja.“ Die aktuelle Studie verwendet ein Genom eines Neandertalers aus einer sibirischen Höhle. Damit stammt es wahrscheinlich aber nicht aus der Population, der wir unsere Neandertaler-DNA verdanken. Zwar reagiere die neue Methode laut Akey nicht so empfindlich auf diese Art von Populationsunterschieden – aber es sei dennoch möglich, dass diese unbekannten Neandertaler einen etwas anderen Beitrag zu unserem heutigen Genom geleistet haben.

    Die neue Studie lege überzeugend dar, woher das Neandertaler-Erbe in Afrika kommt, sagt Adam Siepel, ein Populationsgenetiker am Colds Springs Harbor Laboratory. Er würde die Methode gern auf weitere afrikanische Populationen angewendet sehen, um herauszufinden, wie der Anteil der Neandertaler-DNA über den Kontinent hinweg variiert. Er und sein Team haben bereits ähnliche genetische Spuren bei den Mandenka in Westafrika und den San in Südafrika entdeckt, ihre Ergebnisse aber noch nicht verifiziert.

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    Weiterhin unklar bleibt, wie – und ob – diese Neandertaler-Einflüsse sich auf die verworrene Zusammensetzung von körperlichen Merkmalen in vielen afrikanischen Hominini-Fossilien auswirken, sagt Hawks. Der afrikanische Hominini-Fossilbericht ist nach wie vor höchst unvollständig und besteht nur aus kleinen Bruchstücken jener Zeit. Wie genau sie zusammenpassen, ist bis heute nicht ganz klar. Aber die aktuelle Studie und andere jüngere Genanalysen deuten auf ein komplexes Zusammensiel aus Migrationsbewegungen und Genflüssen hin. Das bedeutet auch, dass wir unser Narrativ unserer evolutionären Vergangenheit fortwährend neu bewerten müssen.

    „Jedes dieser morphologischen Erscheinungsbilder könnte eine Geschichte erzählen“, sagt Hawks. „Wir müssen diese Geschichten verstehen und nicht versuchen, sie auf Biegen und Brechen in die Vorstellung einer linearen Evolution des modernen Menschen einzupassen.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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