Die Vermessung der deutschen Einsamkeit
Fast die Hälfte der Deutschen fühlte sich 2021 einsam. Das Kompetenznetz Einsamkeit will das subjektive Gefühl messbar machen. Projektleiterin Yvonne Wilke erklärt, wer besonders betroffen ist und welche Hilfe es gibt.
Einsam sind nicht nur ältere Personen: Während der Corona-Pandemie waren junge Menschen am stärksten von Einsamkeit betroffen. Auch soziale Medien konnten das Wegfallen der sozialen Kontakte nicht kompensieren.
Auf der Erde gibt es immer mehr Menschen – und trotzdem zeigen Studien: Die Einsamkeit nimmt weltweit zu. Auch in Deutschland. 2021 fühlten sich ganze 42 Prozent der Deutschen einsam, Grund dafür war die Corona-Pandemie.
Im selben Jahr wurde am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main ein Projekt gegründet, das der Einsamkeit in Deutschland auf den Grund gehen will: das Kompetenznetz Einsamkeit, kurz KNE. Es ist ein staatlich gefördertes Projekt an einem Praxisforschungsinstitut, das die Einsamkeit in Deutschland messbar machen und für das Thema sensibilisieren will.
Das Ziel des KNE: ein Netzwerk schaffen zwischen all den Menschen, die in Deutschland zum Thema Einsamkeit arbeiten. Durch Öffentlichkeitsarbeit soll das Thema mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft bekommen – und durch eigene Praxisforschung sollen derzeitige Forschungslücken mithilfe von qualitativen Interviews mit Fachkräften und Betroffenen geschlossen werden.
Wir treffen Projektleiterin Yvonne Wilke am Bundesfamilienministerium in Berlin zum Gespräch.
Galerie: 32 Jahre auf einer einsamen Insel
Frau Wilke, Sie wollen mit dem KNE Einsamkeit in Deutschland sichtbarer machen. Wie definiert man ein so subjektives Gefühl wie Einsamkeit?
In der Literatur wird das Gefühl der Einsamkeit als Zustand beschrieben, der als sehr schmerzhaft und negativ empfunden wird – ähnlich wie bei Gefühlen wie Angst, Wut oder Trauer. Es entsteht, wenn die vorhandenen sozialen Beziehungen in ihrer Quantität und Qualität nicht den eigenen Erwartungen entsprechen. Dieses subjektive Gefühl von Einsamkeit kann aber nur die Person, die es tatsächlich empfindet, in seiner gesamten Tiefe beschreiben.
Trotzdem wollen Sie die Einsamkeit in Deutschland messen. Wie funktioniert das, wenn Einsamkeit subjektiv ist?
Einsamkeit ist bislang nicht objektiv messbar wie die soziale Isolation. Diese bemisst sich daran, wie viele soziale Kontakte ein Mensch über einen gewissen Zeitraum hat. Dabei gibt es Richtwerte aus bestimmten Studien, die eine Aussage darüber treffen können, ob ein Mensch sozial isoliert ist oder nicht. Und davon kann man auch ableiten, ob ein Mensch einsam ist oder sich einsam fühlt. Im Sozio-oekonomischen Panel – der größten und längsten Langzeitstudie Deutschlands – wird aber die Einsamkeitsprävalenz erhoben. Zum Beispiel mithilfe von Aussagen in Fragebögen wie „Ich fühle mich oft einsam“.
Sie arbeiten an einem Einsamkeitsbarometer für Deutschland. Wie kann man sich das vorstellen?
Für das Einsamkeitsbarometer verwenden wir Daten zur Einsamkeit und sozialen Isolation in Deutschland vom Sozio-oekonomischen Panel. Diese übertragen wir auf das subjektive Empfinden von Einsamkeit. In Fokusanalysen wollen wir dann noch einmal bestimmte vulnerable Zielgruppen genauer untersuchen, um dort Muster zu erkennen: Inwiefern fühlen sich Menschen einsam? Zu welchen Zeitpunkten fühlen sich bestimmte Bevölkerungsgruppen einsam?
“Die internationale Perspektive hat gezeigt, dass Einsamkeit eher zu- als abnimmt.”
Wann gibt es die ersten Ergebnisse des Einsamkeitsbarometers und wozu dienen sie?
Das erste Einsamkeitsbarometer wird voraussichtlich im Herbst 2023 veröffentlicht. Der Bericht soll die Langzeitentwicklung der Einsamkeits- und Isolationsbelastungen innerhalb der erwachsenen Bevölkerung ab 18 Jahren in Deutschland auf Basis repräsentativer Daten darstellen. Das Monitoring ist eine Datengrundlage für die Prävention und Bekämpfung von Einsamkeit und sozialer Isolation.
Warum hat der Staat ein so großes Interesse an Einsamkeit, dass er Ihr Institut fördert?
Die Politik hat national und international erkannt, dass Einsamkeit ein gesellschaftsrelevantes Thema ist. Viele Bevölkerungsgruppen sind von Einsamkeit betroffen und die internationale Perspektive hat gezeigt, dass Einsamkeit eher zu- als abnimmt. Und die Folgen von Einsamkeit können gravierend sein. Im gesundheitlichen Bereich kann Einsamkeit bestimmte Krankheitsbilder auslösen oder verstärken – zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes, aber auch psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen.
Bei älteren Menschen können sich Demenzerkrankungen durch Einsamkeit sogar verstärken. Gesellschaftlich gesehen ergeben sich Folgen für die politische Partizipation und den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Aus Studien wissen wir, dass Menschen, die sich einsam fühlen, öfter nicht wählen gehen, sich weniger engagieren und sich mit gar keiner Partei oder nur mit einem ganz spezifischen Spektrum identifizieren. So kommt es auch dazu, dass bestimmte gesellschaftliche Werte nicht mehr von ihnen geteilt werden – diese werden teilweise sogar abgelehnt oder infrage gestellt.
Gibt es Unterschiede im Einsamkeitsempfinden zwischen sozialen Schichten, Kulturen, Geschlechtern oder Altersgruppen?
International kann man sagen, dass Menschen in gut ausgebauten Wohlfahrtsstaaten häufig ein geringeres Einsamkeitsempfinden haben als Menschen in weniger gut ausgebauten Wohlfahrtsstaaten. Das liegt an den Auffangnetzen, die wir beispielsweise in Deutschland oder Skandinavien haben. Trotzdem gibt es auch hier Unterschiede: Gerade erwerbslose Personen oder Menschen mit einem direkten Migrationshintergrund sind mit am stärksten von Einsamkeit betroffen. Kulturell können sich Menschen zum Beispiel dann einsam fühlen, wenn sie ihre jeweilige Kultur und Tradition in dem Land, in dem sie wohnen, nicht leben können.
Gibt es sonst auffällige Muster?
Frauen sind stärker von Einsamkeit betroffen als Männer. Während der Corona-Pandemie hat sich auch ein Shift in den Altersgruppen bemerkbar gemacht: Vor der Pandemie waren insbesondere ältere Menschen von Einsamkeit betroffen, in der Pandemie-Zeit hat sich das Gefühl eher in die jüngere Generation verschoben.
Waren jüngere Menschen während der Pandemie also am stärksten von Einsamkeit betroffen?
Ja, am meisten litten junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren sowie junge Familien in der Corona-Zeit unter Einsamkeit. Laut den Daten des Sozio-oekonomischen Panels fühlte sich fast die Hälfte der unter 30-Jährigen 2021 einsam – im Gegensatz zum Jahr vor der Pandemie, wo es gerade einmal 14,5 Prozent waren. Ältere Menschen waren 2021 weitaus weniger von Einsamkeit betroffen als die jüngeren Altersgruppen: Sie erreichten Werte von 36 bis 37 Prozent.
“Die Veränderung von Lebenslagen ist bei der Entstehung von Einsamkeit ein ausschlaggebender Faktor.”
Wie kommen diese Unterschiede zustande?
Gerade hochaltrige Menschen über 85 Jahren haben schon einen Teil ihrer sozialen Kontakte verloren und viele sind es gewohnt, aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen oder Einschränkungen der Mobilität nicht an sozialen Aktivitäten teilnehmen zu können. Sie haben teilweise schon vor der Pandemie isolierter und mehr auf sich gestellt gelebt. Für junge Menschen hat sich das Leben dagegen von heute auf morgen total gewandelt. Als das Leben im Lockdown zum Stillstand kam, konnte das Wegfallen sozialer Kontakte auch durch soziale Medien nicht ausgeglichen werden. Da hat sich herausgestellt, dass auch jüngere Menschen die persönliche Nahbeziehung mehr brauchen, als man bis dahin gedacht hat.
Hat sich das gestiegene Einsamkeitsgefühl in der Bevölkerung seit dem Ende der Pandemie wieder regeneriert?
Es gibt noch keine validen Zahlen zum Ende und der Zeit nach der Corona-Pandemie, weil der Zeitraum noch zu kurz ist. Im Regelfall – das weiß man aus anderen Studien – braucht es eine gewisse Zeit, bis sich Menschen in sozialer Isolation oder Einsamkeit gesellschaftlich wieder regeneriert haben.
Wie entsteht überhaupt das Gefühl von Einsamkeit?
Die Veränderung von Lebenslagen ist bei der Entstehung von Einsamkeit ein ausschlaggebender Faktor. Besondere Lebensereignisse wie zum Beispiel die Trennung oder der Tod vom Partner oder der Partnerin sind die Hauptgründe für Einsamkeit – vor allem bei älteren Menschen. Auch Lebensereignisse wie Arbeitslosigkeit können Einsamkeit auslösen, wenn Menschen dadurch in eine Armutslage geraten und sich daraufhin zurückziehen – entweder aufgrund von Schamgefühlen oder weil sie es sich finanziell schlicht nicht leisten können, an sozialen Aktivitäten teilzunehmen.
Wenn man merkt, dass sich eine Person permanent zurückzieht: Wie kann man als außenstehende Person helfen?
Der erste Schritt wäre, als außenstehende Person für die Thematik sensibilisiert zu sein und zu erkennen, ob jemand wirklich einsam ist. Bestenfalls sieht es das nahe soziale Umfeld – aber auch Vorgesetzte, Hausärzt*innen oder Pflegekräfte können eingreifen. Anfangs ist es hilfreich, das Gespräch mit der betroffenen Person zu suchen. Dabei sollte man nicht direkt fragen: „Bist du einsam?“ Sondern lieber: „Was hast du diese Woche gemacht? Mit wem hast du dich getroffen?“
Und wenn man feststellt: Diese Person ist einsam?
Dann können niedrigschwellige und kostenfreie Angebote herausgesucht werden. Ob Stadtteilnachmittag, digitales Treffen, Telefonseelsorge oder Teilnahme an der freiwilligen Feuerwehr – das passende Angebot variiert je nach Person. Man sollte sich beim Unterstützen immer fragen: Was kann und möchte die Person, die sich einsam fühlt? Und was wäre der niedrigschwelligste Schritt aus der Einsamkeit?
Sie sprechen von digitalen Angeboten. Wirken die neuen Technologien immer der Einsamkeit entgegen – oder können sie das Gefühl auch fördern?
Beides kann der Fall sein. Gerade in der Corona-Pandemie konnten wir feststellen, dass die digitalen Angebote ein Segen für ältere Menschen gewesen sind. Dadurch mussten sie das Haus nicht verlassen, hatten aber trotzdem die Möglichkeit, sich zu vernetzen, Kontakt zu ihren Familien zu halten und sozial teilzuhaben. Auf der anderen Seite gibt es auch die Gefahr, dass die zunehmende Digitalisierung einsamkeitsfördernd wirkt. Zum Beispiel im Dienstleistungsbereich: Bankfilialen schließen vermehrt oder bieten nur noch verkürzte Öffnungszeiten an. Da sehe ich die Gefahr – und zwar nicht nur bei Menschen, die in Einsamkeit leben –, dass viele Personen von der sozialen Teilhabe ausgeschlossen werden könnten und dann auf Unterstützung angewiesen sind. Digitalisierung ist auch eine Frage des Geldes und des Könnens: Man muss sich die Geräte leisten und sie auch bedienen können.
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Ziel des KNE ist es auch, Einsamkeit vorzubeugen. Wie geht das?
Die Sensibilisierung für das Thema ist ein wichtiger Faktor bei der Prävention. Gerade in puncto Alterseinsamkeit muss die Gesellschaft noch aufmerksamer werden und ein Auge auf ältere Menschen haben. Vorbeugen kann man Einsamkeit zum Beispiel durch gesellschaftliche Teilhabe: gesellschaftliche Aktivitäten, das Pflegen von Kontakten und Freundschaften. Dabei geht es nicht um die Quantität der sozialen Kontakte, sondern um die Qualität – egal in welcher Altersgruppe. Die Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten ist auch deshalb wichtig, um Einsamkeitsgefühlen in Gruppen vorzubeugen. Das ist für Menschen schwierig, die zum Beispiel an einer Sozialphobie leiden. Für sie kämen eher digitale Angebote infrage oder eine Intensivierung ihrer Nahbeziehungen zu wenigen vertrauten Personen anstelle von Gruppenaktivitäten.
Und wenn man sich schon einsam fühlt, was ist das beste Mittel dagegen?
Eigentlich helfen die gleichen Dinge. Auch hier ist die Gesellschaft gefragt. Vor allem das soziale Umfeld kann Menschen, die sich einsam fühlen, ermutigen, zu entsprechenden Angeboten zu gehen. Gerade der Austausch mit Gleichgesinnten kann Menschen in Einsamkeit helfen. Als Selbsthilfe bei Einsamkeit kommt auch der anonyme Anruf bei einer Seelsorge infrage. Dort wird mir erst einmal zugehört und ich kann von meiner Situation erzählen und über das, was mich bewegt. Die Angebotslandschaft ist vielfältig. Die Aufgabe von Politik und entsprechenden Multiplikatoren wie Hausärzt*innen, Pflegekräften, der Stadtverwaltung oder auch dem KNE ist es, auf die Angebote aufmerksam zu machen.