Studie belegt Alterseinsamkeit im Tierreich

Je älter, desto weniger soziale Kontakte: Diese traurige Realität vieler alter Menschen trifft auch oft auf Tiere zu. Britische Wissenschaftler haben nun erforscht, wie Rothirsche sich im Alter isolieren – und nach Ursachen gesucht.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 27. Juli 2022, 10:41 MESZ
Eine Rothirschkuh im Dickicht.

Unfruchtbare, alte und nicht mehr setzende Hirschkühe bezeichnet man als Gelttiere. In dieser Lebensphase reduzieren sich die sozialen Kontakte der weiblichen Rothirsche deutlich und sie ziehen sich mehr und mehr in die Isolation zurück.

Foto von Solar 760L / Adobe Stock

Körperliche Gebrechen, abnehmende Beweglichkeit, graue Haare – es gibt viele Gründe, warum Menschen sich nicht unbedingt auf das Altern freuen. Einer der wichtigsten ist sicherlich die durch den Rückgang sozialer Kontakte drohende Einsamkeit: Laut einer Forsa-Umfrage aus dem Frühjahr 2021, fühlt sich jeder fünfte Mensch über 75 Jahre in Deutschland häufig oder regelmäßig einsam. Ein Problem, das immer mehr zunimmt, und Frauen deutlich öfter betrifft als Männer.

Dass das nicht nur für unsere eigene Spezies gilt, zeigt nun eine aktuelle Studie der Universitäten von Oxford und Edinburgh, die in der Zeitschrift Nature Ecology & Evolution erschienen ist. Das multidisziplinäre Forschungsteam hat herausgefunden, dass wildlebende Rothirschkühe mit zunehmendem Alter immer weniger soziale Kontakte haben und die letzten Jahre ihres Lebens in Einsamkeit verbringen.

Alternde Hirschkühe isolieren sich selbst

Basis für diese Erkenntnis bildet eine Analyse des sozialen Netzwerks der weiblichen Tiere der Rothirschpopulation auf der schottischen Isle of Rum. Für seine Untersuchungen wertete das Team einen Datensatz aus, der über 200.000 Zählbeobachtungen von mehr als 3.500 individuellen Rothirschkühen umfasst. Da der Datensatz über den langen Zeitraum von 46 Jahren zusammengetragen wurde, liefert er Informationen zur gesamten Lebensspanne einzelner Hirschkühe und erlaubt so einen Einblick in altersbedingte Änderungen des Verhaltens.

Die Analyse zeigte, dass Hirschkühe immer weniger mit anderen Tieren in ihrem Umfeld interagierten, je älter sie wurden. In ihrem sozialen Gefüge spielten die Seniorinnen eine immer kleinere Rolle. Im höheren Alter verlagerten die Tiere ihren Aufenthaltsort in Gebiete, in denen weniger ihrer Artgenossen lebten – obwohl ihnen dadurch ein kleineres Revier mit schlechterem Nahrungsangebot zur Verfügung stand.

„Wir haben festgestellt, dass die sozialen Netzwerke der Rothirschkühe mit zunehmendem Alter schrumpfen und sie weniger Kontakt zu Artgenossen haben“, erklärt Greg Albery, Biologe an der Oxford University und Hauptautor der Studie. „Diese soziale Alterung scheint darauf zurückzuführen zu sein, dass ältere Individuen sich in dünner besiedelte Gebiete zurückziehen, wo sie seltener auf andere Rothirsche treffen.“ Die Isolation ist also selbst gewählt.

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    Die Studienautoren vermuten, dass die Rothirschseniorinnen ihren Lebensmittelpunkt an einen Ort verlagern, an dem die Nahrungssuche weniger anstrengend ist. Außerdem sei es möglich, dass die Tiere mit zunehmendem Alter sozial einfach wählerischer würden. Welche Faktoren genau die alternden Hirschkühe in die Isolation treiben, könne aber nur durch weitere Untersuchungen ermittelt werden. „Durch die kombinierte Betrachtung von sozialen Netzwerken und räumlichen Standortdaten können wir die möglichen Ursachen dieser altersbedingten Abnahme des Sozialverhaltens entschlüsseln und herausfinden, wie Individuen ihr Verhalten im Laufe ihres Lebens ändern“, sagt Greg Albery.

    Wertvolle Datensätze aus Langzeitbeobachtungen

    Neben den neuen Einblicken in die soziale Alterung von Tieren in freier Wildbahn zeigt die Studie auch, wie wertvoll auf langen Beobachtungsreihen basierende Datensätze sind. „Indem wir viele Individuen gleichzeitig über die Dauer ihres gesamten Lebens hinweg verfolgen, können wir verstehen, wie und warum sich ihre sozialen Beziehungen zueinander im Laufe der Zeit verändern“, erklärt Josh Firth, Biologe an der Oxford University und leitender Autor der Studie.

    Fünf Rotwild-Exemplare im hohen Gras.

    Zwar sei schon durch frühere Studien belegt worden, dass ältere Wildtiere weniger gesellig sind als jüngere, doch es fehlten die Mittel, um die konkreten Gründe dafür nachzuweisen: Ob die Verhaltensänderung auf demografische Veränderungen oder zum Beispiel darauf zurückzuführen sei, dass geselligere Tiere früher sterben, konnte nicht bestimmt werden. Der Langzeitdatensatz der Rothirschkühe auf der Isle of Rum belegt nun, dass die soziale Alterung auf individueller Ebene stattfindet und die einzelnen Tiere im Laufe ihres Lebens mit Absicht ihre sozialen Kontakte reduzieren.

    Die Forscher wollen nun den wissenschaftlichen Ansatz der Studie auf Langzeitdatensätze von anderen Wildtieren übertragen. Sie hoffen, dadurch ein umfassenderes Bild von den grundlegenden Regeln zu erhalten, die das Altern und das Sozialverhalten in natürlichen Populationen bestimmen – eine Erkenntnis, die auch ein neues Licht auf die Folgen des Alterns in unserer eigenen Gesellschaftsstruktur werfen könnte.

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