Hat die Corona-Pandemie unsere Persönlichkeit verändert?

Seit 2020 beherrscht Covid-19 den globalen Alltag – mal mehr, mal weniger. Eine Studie zeigt nun: Das hat unser Denken, Fühlen und Handeln signifikant beeinflusst. Eine Altersgruppe ist besonders stark betroffen.

Die Covid-19-Pandemie hat den Alltag zwischen 2020 und 2022 maßgeblich beeinflusst. Vor allem junge Menschen spüren nun die Folgen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung. 

Foto von Charlotte May / Pexels
Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 9. Dez. 2022, 16:09 MEZ

25 Prozent mehr Fälle von Depressionen und Angststörungen weltweit – das war das Fazit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach einem Jahr Corona-Pandemie. Unzählige wissenschaftliche Studien befassten sich mit der Verschlechterung der mentalen Gesundheit in den Jahren von 2020 bis 2022. Doch hatte die Pandemie neben dem Anstieg psychischer Erkrankungen auch Einfluss auf unser allgemeines Denken, Fühlen und Handeln? 

Dieser Frage sind Forschende der Florida State University in den USA auf den Grund gegangen. In ihrer Studie, die in der Zeitschrift Plos One erschien, untersuchte das Team um Psychologin Angelina Sutin, ob die Pandemie Persönlichkeitsveränderungen in der US-amerikanischen Bevölkerung hervorgerufen hat. Ihr erstaunliches Ergebnis: Die Covid-19-Pandemie hat tatsächlich für eine Veränderung der Persönlichkeitsentwicklung gesorgt – vor allem bei jungen Erwachsenen.

Das Big-Five-Persönlichkeitsmodell

Üblicherweise bilden die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen ein relativ stabiles Konstrukt. Belastende Ereignisse können diese Merkmale allerdings in einem gewissen Maß beeinflussen. Bislang konnte für zeitlich und örtlich begrenzte einschneidende Erlebnisse wie Hurricanes oder Erdbeben jedoch kein Einfluss auf die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen nachgewiesen werden. Anders sieht es nun wohl bei einer globalen Pandemie aus, die über einen längeren Zeitraum nahezu alle Aspekte des Lebens betrifft. 

Um mögliche Veränderungen in der Persönlichkeitsentwicklung durch die Covid-19-Pandemie aufzudecken, analysierten die Forschenden ausgewählte UAS-Datensätze von 7.109 Personen zwischen 18 und 109 Jahren aus der akuten Phase 2020 und aus der Anpassungsphase 2021-2022. Die UAS – kurz für „Understanding America Study“ – ist eine repräsentative Studie zum Leben der US-Bevölkerung von der University of Southern California.

Relevant für das Team war dabei der sogenannte Big Five Inventory (BFI): ein Fragebogen, der 44 Aussagen zur Persönlichkeit enthält und auf dem Modell der Big Five basiert. Das ist ein universelles Standardmodell der Persönlichkeitsforschung, nach dem Menschen auf den Skalen von fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit eingeordnet werden können. Diese sind Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Die letzte Dimension bezeichnet dabei die emotionale Instabilität einer Person – ihre Neigung zu Ängsten, Unsicherheit, depressiven Verstimmungen und erhöhter Stresssensibilität. 

Überraschender Rückgang beim Neurotizismus

Für die akute Phase im Jahr 2020 konnten Sutin und ihr Team bei vier der fünf Persönlichkeitsdimensionen keine signifikanten Änderungen feststellen. Überraschend hatte sich jedoch der Neurotizismus entwickelt: In der Anfangsphase von Corona konnte das Team gegenüber der Zeit vor der Pandemie einen signifikanten Rückgang verzeichnen. Eine zunächst erfreuliche, wenn auch widersprüchliche Nachricht, spricht dies doch dafür, dass die US-Bevölkerung in dieser Zeit weniger zu Ängsten und emotionaler Labilität neigte.

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    „Dieser Rückgang ist besonders überraschend vor dem Hintergrund anderer Langzeitstudien über mentale Gesundheit, die herausfanden, dass Symptome von Depressionen, Ängsten und anderen psychischen Belastungen während des ersten Pandemie-Jahres zugenommen haben“, so Sutin. Da diese Symptome eigentlich Ausdruck von Neurotizismus sind, wirken ihre Ergebnisse wie ein Gegensatz, so die Forschenden. 

    Als Erklärungen für die anfängliche Abnahme von Neurotizismus im Jahr 2020 nennt das Team unter anderem die aufgestellten Pandemieregeln. „Mit ihnen konnte die Bevölkerung zunächst gegen den externen Stressor Corona arbeiten“, heißt es. Bedeutet: Wenn es genaue Regeln dafür gibt, wie man sich zu verhalten hat, wird der Raum für Unsicherheiten kleiner. Auch das größere öffentliche Bewusstsein für mentale Gesundheit und das vermehrte Sprechen über die eigene psychische Verfassung könnten zum Rückgang des Neurotizismus beigetragen haben. 

    Lange Pandemie-Dauer führt zu Persönlichkeitsveränderungen

    2021 und 2022 kam es laut Studie dann zu Veränderungen aller Persönlichkeitsdimensionen. Während der Neurotizismus wieder anstieg, konnten die Forschenden bei den anderen Dimensionen einen signifikanten Rückgang verzeichnen. Ein kritisches Zeichen, denn: Weniger Verträglichkeit führt beispielsweise zu geringerer Hilfsbereitschaft und Empathie, weniger Offenheit für Erfahrungen zum Beispiel zu vorsichtigerem Verhalten, Misstrauen oder gedämpften emotionalen Reaktionen. 

    Dass sich die Bevölkerung weniger extrovertiert fühlt und verhält, ist nach mehr als einem Jahr Restriktionen keine Überraschung für die Wissenschaft. Das Sozialleben wurde über Monate auf ein Minimum reduziert. Die fehlende Struktur im Alltag und weniger Verpflichtungen erklären laut der Studie den Rückgang an Gewissenhaftigkeit, der Menschen unorganisierter und unzuverlässiger werden lässt. 

    „Die anhaltende Unsicherheit und der Rückgang der Mobilität könnte Individuen in ihrer Aktivität und Weltsicht beschränkt haben“, erklärt das Team. Eine Erklärung für weniger Offenheit und Verträglichkeit, die in der Gesellschaft zu einer Abnahme der Solidarität und Empathie beigetragen hätten. Je länger die Pandemie andauerte, desto wahrscheinlicher waren Persönlichkeitsveränderungen in der Bevölkerung. 

    “Nach über einem Jahr Pandemie zeigten die jungen Erwachsenen einen gegensätzlichen Trend in ihrer Entwicklung.”

    von Angelina Sutin et al.

    Junge Erwachsene sind besonders betroffen

    Die wesentlichsten Persönlichkeitsveränderungen konnte das Team bei jungen Erwachsenen feststellen. Nach der Pubertät, während des jungen Erwachsenenalters, entwickelt sich die Persönlichkeit üblicherweise am stärksten – die Menschen reifen. Dies drückt sich laut der Studie normalerweise in Form eines Rückgangs von Neurotizismus und einer Zunahme von Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit aus. „Nach über einem Jahr Pandemie zeigten die jungen Erwachsenen jedoch einen gegensätzlichen Trend in ihrer Entwicklung“, sagen die Forschenden – eine beunruhigende Wendung. 

    Bei älteren Erwachsenen hätten sich die Persönlichkeitsveränderungen dagegen nicht so drastisch gezeigt. Gründe dafür können verschiedene pandemiebedingte Herausforderungen in den unterschiedlichen Altersgruppen sein. So stehen junge Erwachsene beispielsweise oft noch nicht fest im Arbeitsleben und verdienen weniger Geld. Auch ihre psychischen Ressourcen und Bewältigungsstrategien sind meist noch nicht so ausgebildet wie bei älteren Erwachsenen. 

    Die Studie warnt vor möglichen negativen Zukunftsfolgen für die Altersgruppe der jungen Erwachsenen. Hoher Neurotizismus geht beispielsweise Hand in Hand mit höheren Gesundheitsrisiken und der Entwicklung psychischer Erkrankungen. Dazu könnten negative Folgen für die Ausbildung, das Einkommen und die Lebensdauer hinzukommen. Eine Funken Hoffnung bleibt jedoch: Die Rückgänge innerhalb der Persönlichkeitsdimensionen könnten laut den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern temporär sein und – wie beim Neurotizismus – in den kommenden Jahren wieder auf das Niveau vor Corona ansteigen.

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