Gibt es das Stockholm-Syndrom wirklich?
Das Stockholm-Syndrom wird oft Menschen nachgesagt, die mit ihren Entführern eine positive emotionale Verbindung aufbauen. Dabei ist die Diagnose wissenschaftlich umstritten. Woher das Syndrom seinen Namen hat und warum es in der Kritik ist.
Am 4. Februar 1974 wurde die Millionenerbin Patty Hearst von der Symbionese Liberation Army (SLA) entführt und misshandelt. Zwei Monate später schloss sie sich der SLA an und beging mit ihnen einen Bankraub. Sie ist heute eine der bekanntesten Menschen, mit denen das Stockholm Syndrom in Verbindung gebracht wird.
Am Morgen des 23. August 1973 begann in einer Stockholmer Bank ein Geiseldrama, das heute zu den bekanntesten Schwedens zählt: Jan-Erik Olsson hielt dort mit seinem Komplizen Clark Olofsson, den er am ersten Tag aus dem Gefängnis erpresste, über mehrere Tage vier Geiseln fest: Kristin Enmark, Elisabeth Oldgren, Birgitta Lundblad und Sven Safstrom. In dieser Zeit bildete sich zwischen den Geiselnehmern und ihren Opfern eine ungewöhnliche Solidarität aus – die bis heute namensgebend ist für das sogenannte Stockholm-Syndrom.
Was ist das Stockholm-Syndrom?
Geprägt wurde die Idee des Stockholm-Syndroms von dem schwedischen Polizeipsychologen Nils Bejerot. Er war bei der Geiselnahme in Schwedens Hauptstadt an den Verhandlungen mit den Geiselnehmern beteiligt und betreute die Geiseln nach ihrer Freilassung. Ihm fiel schnell auf, dass vor allem zwei der Opfer, Kristin Enmark und Sven Safstrom, während der Tat viel Verständnis für Olsson und Olofsson zeigten. So soll Enmark nach ihrer Befreiung ihrem Geiselnehmer „Clark, ich werde dich wiedersehen“ zugerufen haben und während der Tat bei Telefongesprächen beteuert haben, wie gut sie behandelt würde. Bejerot diagnostizierte Enmark daraufhin mit dem Norrmalmstorg-Syndrom, benannt nach dem Platz, an dem die Geiselnahme stattfand. Bekannt wurde die Diagnose aber schnell als Stockholm-Syndrom.
Seither wird das Stockholm-Syndrom allgemein meist als psychische Krankheit oder Störung verstanden. Doch das ist ein Trugschluss. Laut der American Psychological Association (APA) versteht man unter dem Stockholm-Syndrom „eine mentale und emotionale Reaktion, bei der eine gefangene Person (z. B. eine Geisel) scheinbar Loyalität – oder sogar Zuneigung – zu ihrem Geiselnehmer zeigt“. Es handelt sich also um eine emotionale Reaktion auf eine Ausnahmesituation, nicht aber um eine diagnostizierbare Krankheit. Ein Umstand, den Kritiker*innen der „Diagnose Stockholm-Syndrom“ betonen.
In diesem Gebäude am Norrmalmstorg-Platz in Stcokholm befand sich im Jahr 1973 die Filiale der Bank Kreditbanken, in dem die Geiselnahme stattfand.
Kritik am Stockholm-Syndrom
Immer mehr Wissenschaftler*innen und Psycholog*innen stellen sich gegen die Verwendung der Diagnose in der Psychologie. „Das Stockholm-Syndrom [ist] eine zweifelhafte Pathologie ohne diagnostische Kriterien“, schreibt die Journalistin Jess Hill in ihrem Buch See what you made me do. Den Opfern eine Störung zuzuschreiben, minimiere die Verantwortung der Täter und spreche den Opfern gleichzeitig die Rationalität ihres Handelns ab.
In ihrem Buch rollt Hill die Entstehungsgeschichte des Stockholm-Syndrom neu auf – und kritisiert Bejerot stark. Dieser habe einen „offensichtlichen Interessenkonflikt gehabt“ als er Enmark diagnostizierte, weil sie nach ihrer Befreiung die Polizeiarbeit infrage stellte. Sie kritisierte auch die Tatsache, dass der Polizeipsychologe während der Tat nicht mit den Geiseln, sondern nur mit den Tätern habe sprechen wollen. Interviews mit den Opfern zeigen: Die Polizei war vor allem darauf bedacht, vor den Medien ein gutes Bild abzugeben – was bei den Geiseln schon während der viertägigen Geiselnahme Misstrauen auslöste.
Enmarks Kritik konnten Bejerot und die Polizei nicht annehmen, schreibt Hill in ihrem Buch. Kurzerhand habe man ihr Verhalten deshalb auf eine psychische Störung, die sie durch die Geiselnahme entwickelt hatte, geschoben: Das Stockholm-Syndrom. „Die Schnelldiagnose passte auch den schwedischen Medien, die Enmark misstrauisch beäugten, da sie ‚nicht so traumatisiert wirkte, wie sie sein sollte‘ “, schreibt Hill.
“Das Stockholm-Syndrom – eine zweifelhafte Pathologie ohne diagnostische Kriterien – ist von Frauenfeindlichkeit durchsetzt und beruht auf einer Lüge.”
Stockholm-Syndrom in den Medien
Auch heute noch findet der Begriff hauptsächlich in der Öffentlichkeit Verwendung. Das bestätigt eine Studie aus dem Jahr 2008, die herausgefunden hat, dass die „Diagnose Stockholm-Syndrom“ vor allem von den Medien gestellt wird. Gleichzeitig bleibe die Fachliteratur in Bezug auf die Definition des Stockholm-Syndroms schwammig. „Der größte Teil der Literatur basiert auf Fallberichten, die kaum Aufschluss darüber geben, wie das ‚Stockholm-Syndrom‘ diagnostiziert wurde und welche Bedeutung es, wenn überhaupt, für den Umgang mit den Opfern hat“, so die Autor*innen der Studie.
Auch die Politikwissenschaftlerin Cecilia Åse von der Stockholm University kritisiert das Vorgehen der Medien – vor allem während und nach der Geiselnahme in Stockholm. Bis heute gebe es unzählige Gerüchte über die Beziehung zwischen den weiblichen Geiseln und ihren Entführern – von angeblichen sexuellen Beziehungen bis zu Verlobungen und Hochzeiten. „Diese Aussagen wurden von den Opfern allerdings nie bestätigt“, schreibt Åse in ihrem Essay Crisis Narratives and Masculinist Protection.
Darin erklärt sie, dass das Geschlecht der Opfer bei der Causa Stockholm-Syndrom eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Bis heute sind es nämlich fast ausschließlich Frauen, bei denen die Diagnose gestellt wird – und denen in diesem Zuge gestörte sexuelle Beziehungen und unlogische Verhaltensmuster während der Geislnahmen nachgesagt werden. Åses Kritik: Die Handlungen weiblicher Opfer werden durch die Diagnose Stockholm-Syndrom als irrational abgestempelt und nicht als wichtige Strategien, die in einer außergewöhnlichen Situation ihr Überleben sichern, anerkannt.
So auch bei Enmark: Diese hat während des Geiseldramas in Stockholm aktiv an den Verhandlungen teilgenommen und sogar beim Premierminister gefordert, den Geiselnehmern ihre Forderungen zu erfüllen. Ein Verhalten, mit dem sie die Rolle der „armen, wehrlosen Frau“ sprengte und dass Bejerot und seine Kollegen nur mit einer angeblichen irrationalen Zuneigung zu den Tätern erklären konnten.
Verhalten der Opfer wird durch die Diagnose nicht ernst genommen
Diese Kritik äußert auch Natascha Kampusch, wohl eines der bekanntesten Entführungsopfer der Welt, immer wieder. Die Österreicherin wurde mit zehn Jahren von Wolfgang Přiklopil entführt und acht Jahre lang gefangen gehalten. Dabei ist sie – trotz mehrerer Momente, in denen sie unbeaufsichtigt war – lange Zeit nicht vor ihm geflohen. Als sie sich 2006 befreite, löste ihre Geschichte in der Öffentlichkeit Unverständnis aus: Sie wirke nicht gebrochen genug, trete zu häufig in der Öffentlichkeit auf, habe zu viel Verständnis für den Täter.
Bis heute wird Natascha Kampusch deshalb als klassisches Beispiel für das Stockholm Syndrom genannt. In einem Interview aus dem Jahr 2022 sagt sie: „Ich bin dieser Theorie gegenüber kritisch eingestellt. Ich glaube vielmehr, dass es doch ganz logisch ist, sich auf seine Umgebung – und sei sie noch so schlimm – einzustellen.“ Das hinter dem Verhalten des Opfers auch rationale Überlebensstrategien stecken könnten, wurde auch in ihrem Fall oft vergessen.
Fälle, in denen Opfer von Gewalt oder Geiselnahmen eine emotionale Verbindung mit den Täter*innen aufbauen, gibt es dennoch – vor allem bei häuslicher Gewalt von Männern gegen Frauen. Hier wird mittlerweile der Begriff Traumabindung oder Trauma bonding bevorzugt. Denn der Ausdruck „Syndrom“, so Kritiker*innen, schreibt auch einer solchen Bindung eine Irrationalität zu, die in Wahrheit nicht gegeben ist, und misst implizit dem Opfer eine Schuld zu.