Hirnforschung: Können wir bald Gedanken lesen?
Die Idee, in die Gedankenwelt anderer einzutauchen, fasziniert die Menschheit seit jeher. Die Hirnforschung macht rasante Fortschritte. Ist die Gedankenlese-Maschine bald Realität?
Mit moderner Technik kann die Hirnforschung schon heute zu einem gewissen Grad erkennen, was andere Menschen denken.
Anfang des Jahres hat die Firma Neuralink von Tesla-Chef Elon Musk einem Menschen einen drahtlosen Gehirnchip eingesetzt. Der Mann ist seit einem Tauchunfall gelähmt. Mit dem Implantat kann er inzwischen eine Computermaus steuern – allein mit seinen Gedanken. Vor wenigen Wochen bekam ein zweiter Patient mit einer ähnlichen Rückenmarksverletzung einen Neuralink-Chip.
Die Technologie wird Brain Computer Interface genannt. Mit solchen Hirn-Computer-Schnittstellen soll es gelingen, Gedanken zu lesen und damit auch ohne die Hände technische Geräte zu bedienen. Menschen mit neurologischen Krankheiten wie Lähmungen, Parkinson oder Demenz könnten so zu neuer Mobilität finden. Auch andere Tech-Unternehmen arbeiten daran.
Computerchips werden immer kleiner und leistungsfähiger. Die Entwicklung künstlicher Intelligenz schreitet rasant voran. Doch kann moderne Technik einfach so in unser Gehirn eindringen und unsere Gedanken anzapfen? Der deutsch-britische Hirnforscher John-Dylan Haynes beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema. Er ist Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin und zählt zu den Vorreitern in der Erforschung des sogenannten Brain Readings.
Der Traum von der Gedankenlese-Maschine
Die Vorstellung, in die Gedankenwelt anderer einzudringen, fasziniert die Menschheit seit jeher. Noch ist der Traum von einer Gedankenlese-Maschine reine Fiktion. Doch die Forschung hat in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte gemacht.
Gedanken lesen im eigentlichen Sinne könne die Neurowissenschaft noch nicht, betont Haynes in einem Podcast der Charité. Aber: „Wir können mit modernen Hirnforschungstechniken zu einem gewissen Grad erkennen, was jemand gerade denkt.“
Anhand der Hirnaktivität lasse sich zum Beispiel messen, wie sich ein Mensch fühlt. Auch Vorsätze und Absichten einer Person könne man bestimmen. Und das ist längst nicht alles.
Laut Haynes geht jeder Gedanke mit einem unverwechselbaren und einzigartigen Muster der Hirnaktivität einher. Denken wir zum Beispiel an einen Hund oder an eine Katze, gibt es im Gehirn dafür jeweils ein eigenes Aktivitätsmuster. Wer diese neuronalen Signaturen zu lesen versteht, kann daraus ableiten, woran ein Mensch gerade denkt.
Künstliche Intelligenz hilft beim Auslesen der Gedanken
Die Forschung setzt hierbei auf bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Ein Hirnscanner erzeugt hierbei Schichtbilder im Inneren des Körpers, ohne Röntgenstrahlen zu verwenden. Das fMRT-Gerät kann in Echtzeit erkennen, welche Gehirnzellen gerade besonders aktiv sind. Auf den Bildern stechen diese Aktivitätsmuster dann farblich an ganz bestimmten Stellen hervor.
Um beim Tierbeispiel zu bleiben: Während der Messung im fMRT-Gerät könnte man einer Versuchsperson abwechselnd Bilder von Hunden und Katzen zeigen, damit sie zum gewünschten Zeitpunkt an eines der beiden Tiere denkt. Das fMRT-Gerät zeichnet die unterschiedlichen Hirnaktivitätsmuster auf.
Nun wird ein Computer mit den Daten gefüttert und mit Hilfe von KI-gestützter Software trainiert. So lernt er, die jeweiligen Aktivitätsmuster zu erkennen und die entsprechenden Gedanken richtig zuzuordnen.
Magnetresonanztomographie (fMRT) aus verschiedenen Perspektiven: Die farbigen Bereiche zeigen einen erhöhten Stoffwechsel und damit Hirnaktivität.
Sind die Gedanken noch frei?
Bis zu einem gewissen Grad funktioniere das schon gut, sagt Haynes. Doch das Gehirn spricht eine komplexe Sprache. Und die versteht man bis heute noch nicht richtig. „Wir können nicht in den Hirnaktivitätsmustern lesen wie in einem Buch“, sagt Haynes.
Zumindest nach derzeitigem Stand lässt sich die Hirnaktivität nicht so detailliert messen, wie man es müsste, um tatsächlich alle Gedanken lesen zu können. „Man könnte eher sagen, wir dechiffrieren oder dekodieren die Gedanken“, unterstreicht Haynes. Forschende wie er lesen also keine Gedanken, sie lesen sie aus.
Ohnehin drängen sich beim Gedankenlesen ethische Fragen auf. Auch Haynes weist darauf hin. Im klinischen Bereich könnte die Technik künftig vielen Menschen mit schweren Lähmungen und anderen Leiden helfen.
Andererseits gibt es auch Anwendungen, die umstritten sind. Bekannte Beispiele sind Lügendetektoren oder das Neuromarketing, das die Reaktionen des Gehirns auf bestimmte Werbebotschaften untersucht. Noch sind die Gedanken frei.