Food Noise: Wenn sich die Gedanken ständig ums Essen drehen

Während man isst, denkt man schon an die nächste Mahlzeit – und auch sonst hat man nur Snacks im Kopf. Zwanghaftes Denken an Essen betrifft viele Menschen. Woher es kommt, warum Ozempic es stoppt und was außer Medikamenten dagegen hilft.

Von Stacey Colino
Veröffentlicht am 26. Nov. 2024, 08:38 MEZ
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Abnehmspritzen wie Ozempic und Wegovy werden heiß diskutiert – ebenso wie ihre Wirkung, „Food Noise“ zu unterdrücken. Zwangsgedanken an Essen sind also aktuell ein großes Thema, auch wenn das Phänomen nicht neu ist.

Foto von Edwin Tan, E+ via Getty Images

Der Begriff „Food Noise“ ist plötzlich in aller Munde. Dabei geht es nicht um das brutzelnde Geräusch, das Öl in der Pfanne macht, oder das Knuspern, das beim Chips essen entsteht. Gemeint sind stattdessen zwanghafte Gedanken an Essen, die sich nicht unterdrücken lassen und dadurch den Alltag stören und Stress auslösen.

Weder das Phänomen noch das Konzept und die klinische Diagnose sind neu. Doch durch den Siegeszug von GLP-1-Agonisten wie Ozempic oder Wegovy, die den Blutzuckerspiegel senken, ist auch Food Noise ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Denn die Medikamente, die auch als Abnehmspritzen bekannt geworden sind, haben den überraschenden Nebeneffekt, das störende, ständige Denken an Essen zu reduzieren oder sogar vollständig abzuschalten.

„Patienten, die mit GLP-1-Agonisten behandelt werden, haben uns die Rückmeldung gegeben, dass sich in ihrem Kopf nicht mehr alles ums Essen dreht, seit sie das Medikament erhalten haben“, sagt Robert Kushner, Mediziner mit Spezialisierung auf Übergewicht an der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago, USA. „Diese Berichte haben mich auf das Konzept Food Noise aufmerksam gemacht.“

Inzwischen ist das Phänomen, das Ärzte als ernährungsspezifische Zwangsgedanken beschreiben, fester Bestandteil der Gesprächskultur über Essen und Ernährung. „Dass Food Noise so weit verbreitet ist, liegt an unserer Art, mit Ernährung umzugehen, und an der Masse an Informationen darüber, was wir essen sollten und was nicht“, sagt Rachel Goldman. Die Psychologin und Assistenzprofessorin für Psychiatrie an der NYU Grossman School of Medicine in New York ist Spezialistin für Essverhalten. „Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, wie viel Raum dieses Thema in ihrem Kopf eingenommen hat, bis die Gedanken verschwinden.“

Was ist Food Noise?

Laut Lawrence Cheskin, Ernährungswissenschaftler an der George Mason University, hat Food Noise weder etwas mit Hunger noch mit einem Mangel an Nahrung zu tun. Denn auch ohne diese Voraussetzungen denken Betroffene ständig ans Essen.

In einem wissenschaftlichen Artikel, der 2023 in der Zeitschrift Nutrients erschienen ist, beschreiben Forschende Food Noise als „grübelnde, zwanghafte Beschäftigung mit Essen“, die durch innere Signale wie Magenknurren und Appetit sowie durch äußere Signale wie den Anblick und Geruch leckerer Speisen ausgelöst wird. Sind die Gedanken erst in Gang gebracht, drehen sie sich unermüdlich im Kreis.

Die Intensität und Folgen von Food Noise sind nicht bei allen Menschen gleich. Manche beschreiben es als nicht enden wollendes Gewirr von Stimmen im Kopf, die darüber sprechen, was, wann und wie gegessen werden soll. Viele Betroffene fühlen sich dadurch gestresst und können sich kaum auf etwas anderes konzentrieren. Häufig erwischen sie sich dabei, wie sie während sie essen bereits über ihre nächste Mahlzeit nachdenken.

„Stellen Sie sich ein Tortendiagramm vor und überlegen Sie, wie viel Prozent ihrer täglichen Zeit sie mit Gedanken an Essen verbringen“, sagt Susan Albers, klinische Psychologin an der Cleveland Clinic in Ohio und Autorin des Buchs Eating Mindfully: How to End Mindless Eating and Enjoy a Balanced Relationship with Food. „Bei Food Noise-Betroffenen beträgt der Anteil zwischen 80 und 90 Prozent.“

Die Zwangsgedanken „können den Schlaf beeinträchtigen, Schuld- und Schamgefühle sowie Angst auslösen“, sagt Goldman. „In manchen Fällen hindern sie Betroffene daran, im Alltag zu funktionieren.“

Menschen, bei denen Food Noise nur in milder Form auftritt, nehmen es hingegen oft gar nicht wahr. Für sie ist es nicht mehr als ein leises Summen im Hintergrund.

Eine Gabel mit aufgespießtem Rohkost-Gemüse

Risikofaktoren: Übergewicht, gestörtes Essverhalten, Orthorexie

Food Noise kann jeden und jede treffen, doch Personen mit Übergewicht oder Adipositas haben besonders häufig damit zu kämpfen – und deswegen Schwierigkeiten mit dem Abnehmen. „Wenn man in hohem Maße von Food Noise betroffen ist, läuft man eher Gefahr, etwas zu tun, um es verstummen zu lassen – und das ist essen“, sagt Cheskin.

Tatsächlich hat eine Studie, die in der Zeitschrift Obesity Reviews erschienen ist, ergeben, dass gesteigertes Reaktionsverhalten auf Essenssignale zur Gewichtszunahme führt, weil es das Verlangen nach Essen erhöht und dadurch dazu führt, dass mehr gegessen wird. In einem gemeinsamen Bericht von Weight Watchers und der STOP Obesity Alliance aus dem Jahr 2024 heißt es, dass „mehr als die Hälfte aller übergewichtigen oder adipösen Personen unter Food Noise leiden“. Viele von ihnen geben an, dass es ihnen deswegen schwerfällt, sich an Diäten und Sportprogramme zu halten.

Eine andere Gruppe, die besonders anfällig für Food Noise ist, sind Menschen mit einer Essstörung oder einem gestörten Ernährungsverhalten. „Wenn man sich beim Essen einschränkt oder Mahlzeiten auslässt, kann das Food Noise auslösen, weil der Körper einem signalisiert, dass man mehr essen soll“, so Goldman.

Auch wenn man sich selbst viele Regeln beim Essen setzt oder in den letzten Jahren oft zwischen Diäten und uneingeschränktem Essverhalten gewechselt hat, kann das zu Food Noise führen. Laut einer Studie, die im Jahr 2024 in der Zeitschrift Appetite erschienen ist, trifft Food Noise besonders häufig Personen mit Orthorexie. Das Krankheitsbild ist gekennzeichnet durch eine Obsession mit gesundem Essverhalten, die zu starren Ernährungsregeln und einer intensiven Beschäftigung mit Lebensmitteln führt.

„Food Noise ist mit viel Scham behaftet“, sagt Albers. „Es kann Beziehungen beeinträchtigen und zum Rückzug aus dem Sozialleben und anderen Lebensbereichen führen.“

Wie unterdrückt die Abnehmspritze Gedanken ans Essen?

Dass GLP-1-Agonisten Food Noise in seine Grenzen verweisen, liegt laut Cheskin daran, dass sie im Gehirn und Verdauungstrakt Rezeptoren besetzen, die mit Hunger und Appetit in Verbindung stehen. Außerdem beeinflussen sie möglicherweise das Belohnungssystem des Gehirns so, dass sie Food Noise entgegenwirken.

GLP-1 – kurz für Glucagon-like Peptide 1 – ist ein Peptidhormon, das im Körper natürlich vorkommt und eine Rolle bei der Regulation des Blutzuckers, Appetits und der Verdauung spielt. „Überall im Gehirn, auch im Hypothalamus und dem Belohnungssystem, gibt es GLP-1-Rezeptoren“, sagt Kushner. Food Noise unterdrücken GLP-1-Agonisten, indem sie „an mehrere Rezeptoren andocken und so die Signale unterdrücken, die diese ansonsten aussenden und dadurch bestimmte Gedanken und Gefühle auslösen würden.“

W. Scott Butsch, Leiter der Abteilung für Übergewichtsmedizin am Bariatric and Metabolic Institute der Cleveland Clinic, drückt es so aus: „Durch die Unterbrechung der Dopamin-Belohnungswege im Gehirn, die die Einnahme dieser Medikamente bewirkt, werden auch die gestörten Denkprozesse zum Thema Essen unterbrochen.“

Überraschend ist das nicht. Eine Studie, die in der Zeitschrift Addiction erschienen ist, zeigt, dass die Behandlung mit GLP-1-Rezeptor-Agonisten Personen mit Suchterkrankungen helfen kann. Die Untersuchungen ergaben, dass Alkoholabhängige sich dank der Medikamente um 50 Prozent seltener bis zum Rausch betranken. Bei Personen mit Opioid-Sucht kam es durch den Einsatz von GLP-1-Agonisten 40 Prozent seltener zu einer Überdosis.

„Manche Menschen sind sich des Food Noise gar nicht bewusst, bis sie die Medikamente bekommen und feststellen, dass sie plötzlich klarer denken können“, sagt Butsch. „Wir wissen nicht, ob das einen direkten Effekt auf das Gewicht hat, aber dieser neugewonnene Platz im Kopf kann auf jeden Fall die Lebensqualität erhöhen.“

BELIEBT

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    Food Noise ohne Medikamente stoppen

    Doch auch ohne Medikamente kann man Food Noise etwas entgegensetzen. Expert*innen empfehlen, mit einem Blick auf die eigenen Gewohnheiten zu beginnen, die die Gesundheit beeinflussen: Schlaf- und Essgewohnheiten, Sportaktivitäten und Stressmanagement. „Zwangsgedanken sind nur schwer in den Griff zu bekommen, wenn man müde ist oder unter Stress steht“, sagt Goldman.

    Um herauszufinden, was Food Noise auslöst und wann es auftritt, kann es helfen, Tagebuch zu führen. Sobald man ein Muster erkannt hat, kann man laut Goldman Schritte unternehmen, um Auslösern aus dem Weg zu gehen. „Wenn Food Noise fünf Stunden nach der letzten Mahlzeit besonders laut ist, kann man zum Beispiel die Zeit, in der man nichts ist, auf vier oder drei Stunden reduzieren“, sagt sie.

    Außerdem sollte man sich Mühe geben, regelmäßig zu essen und sich für Essen entscheiden, das sowohl den Körper als auch den Geist befriedigt. „Wenn man sich selbst die Erlaubnis gibt, alles essen zu dürfen, was man möchte, hilft das in erstaunlich starker Weise dabei, Food Noise zu reduzieren“, sagt Albers. „Strenge Regeln und das Gefühl, dass man sich etwas versagt, steigern es hingegen.“

    Ein anderer Rat ist, sich beim Essen Zeit zu lassen. „Man soll achtsam essen und seine Mahlzeit aufmerksam mit allen Sinnen zu sich nehmen“, so Albers. Das helfe dabei, den maximalen Genuss zu erleben. Sport oder andere Aktivitäten, die Spaß machen – also auch Lesen oder Musikhören – regen die Ausschüttung von Dopamin an und auch das hilft ihr zufolge dabei, Food Noise zu unterdrücken.

    Wichtig ist, sich selbst daran zu erinnern, dass viele Menschen mit Food Noise leben. Man sollte sich, so Goldman, deswegen also nicht hart ins Gericht nehmen und sich stattdessen Mitgefühl entgegenbringen. „Wie wir mit uns selbst sprechen, hat einen großen Effekt – darum sollte man auch in Bezug auf Food Noise sehr genau auf die Worte achten, die man an sich selbst richtet.“

     

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht und von der Redaktion gekürzt.

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