Wie Kigali lernt, Hunde zu lieben

Trotz der traumatischen Rolle von Hunden in Ruandas dunkler Geschichte verändert sich langsam das Verhältnis zu den Tieren.

Von Alexandra E. Petri
bilder von Yana Paskova
Veröffentlicht am 5. Juli 2018, 18:37 MESZ

Olivier Grinner hält sich selbst für einen Putzteufel. Die größte Umstellung beim Zusammenleben mit Lily war es, sich an ihre Haare zu gewöhnen. Sie sind überall: auf der Couch, auf den Kissen, an seiner Kleidung. Lily saut einfach alles ein, sagt er. „Aber wir sind in diesem Haus nur zu zweit, und ich muss lernen, Geduld mit ihr zu haben.“

Lily ist Grinners Hund, ein Mischling mit weißem und sandfarbenem Fell, strahlend braunen Augen und Antennenohren, die über Kilometer hinweg Signale empfangen können. Mit gerade mal sieben Monaten ist Lily das neuste Mitglied von Grinners Familie. Tatsächlich bezeichnet er sie auch oft als seine Tochter, aber „nur solchen Leuten gegenüber, die das verstehen“, sagt er. Dass Grinner Lily als Familienmitglied betrachtet, zeugt von einer größeren Veränderung in Ruanda, einem Land in Ostafrika westlich des Viktoriasees. Jahrzehntelang waren die Ruander Hunden gegenüber misstrauisch und betrachteten sie als gefährlich. Diese Einstellung rührte teilweise aus der Nutzung von Hunden als aggressive Schutzhunde her. Sie galten vielerorts außerdem als tollwütige und unberechenbare Streuner. Dennoch halten sich heutzutage immer mehr Ruander Hunde als Haustiere und Begleiter. Sie werden von einer wachsenden neuen Mittelschicht, einem Zustrom von Menschen aus dem Westen und neuen Technologien wie WhatsApp beeinflusst. All diese Faktoren sorgen vor allem in der Hauptstadt Kigali für einen Mentalitätswandel, durch den die Menschen Hunde eher als Familienmitglieder denn als Bodyguards ansehen.

Der 20-jährige Ndayisunze Patrick arbeitet zusammen mit Faradji. Beide führen jeweils um die fünf Hunde aus. Immer mehr Familien in Kigali legen sich einen Hund zu, und somit steigt auch der Bedarf an Unterricht und Hundeausführern.
Foto von Yana Paskova

Auch wenn die Veränderung in Kigali Einzug hält, tun sich viele Ruander immer noch schwer damit, Hunde als Haustiere zu akzeptieren. Das hängt nicht zuletzt mit einem dunklen Kapitel aus der jüngeren Geschichte des Landes zusammen. In den schrecklichen Geschichten über den Völkermord in Ruanda, der sich 1994 ereignete, spielen auch Hunde eine Rolle. Die Hutu-Mehrheit des Landes setzte die Tiere oft zur Abschreckung ein, um die Tutsi und moderaten Hutus aus ihren Verstecken zu treiben und zu töten. Im Laufe von etwa 100 Tagen wurden Hunderttausende Menschen getötet, zahlreichere weitere flohen aus dem Land. Was zurückblieb, war eine Generation von Hunden, die ausgehungert durch die Straßen irrten. Berichte von Überlebenden und Zeugen der Grausamkeiten erzählten davon, dass die Hunde Geschmack an Menschenfleisch fanden und sich über die verwesenden Kadaver der Opfer hermachten. Die Ruandische Patriotische Front (RPF) – eine Rebellenarmee, die gegen den Genozid gekämpft hatte – begann daraufhin, alle Hunde zu erschießen, die ihren Weg kreuzten. Auch die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Ruanda tötete alle Hunde, die ihr unterkamen. Jahrelang gab es daher kaum Hunde in Ruanda.

Auch in der Zeit nach dem Konflikt ernteten Hunde bei den Einwohnern des Landes nicht viel Sympathie. Aber in letzter Zeit betrachten die Ruander, von denen viele den Völkermord überlebt haben, das Problem langsam in einem größeren Kontext. „Ich kann den Hunden keine Schuld geben – am Ende läuft es auf Genetik hinaus. Sie verhielten sich einfach wie Tiere”, sagt Dave Mutangana, ein 38-jähriger Geschäftsmann aus Kigali. Mutangana hat selbst zwei Hunde: Scooby und Spike, zwei Schäferhundmischlinge. „Damals verhielten sich sogar die Menschen wie Tiere.“

BELIEBT

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    Der 24-jährige Hundetrainer Valens Hagenimana hält Leckerli in der Hand, während er Hunden Grundkommandos wie Sitz und Platz beibringt. Er vermittelt ihnen auch, wie sie respektvoll miteinander umgehen können. Hagenimana sagt, dass er Hunde schon immer geliebt hat, auch wenn er nie selbst einen hatte.
    Foto von Yana Paskova

    2018 ist der Mentalitätswandel bereits in vollem Gange und wird beispielsweise am Rwanda Dog Lovers Club sichtbar. Die digitale Community selbsterklärter Hundebesitzer und -liebhaber pflegt auf WhatsApp einen regen Austausch von Geschichten und Tipps.

    DAS KOLLEKTIV DER HUNDEFREUNDE

    “Ich habe nur eine Regel: Ich rede nur über Hunde“, sagt der 38-jährige Albert Sezibera, der Gründer der Gruppe Rwanda Dog Lovers. Sezibera eröffnete die WhatsApp-Gruppe im Juli 2015, um in einem Land, in dem es nur wenige Informationen über Hunde gibt, jene Leute zusammenzubringen, die sich leidenschaftlich mit den Tieren befassen und ihr Wissen teilen wollen. Die Gruppe begann mit zehn Leuten und hat mittlerweile etwa 100 Mitglieder, hauptsächlich aus Ruanda. Sie teilen Memes, tauschen Ratschläge aus (“Mein Hund hört nicht auf, nach meiner Hose zu schnappen!“) und sprechen darüber, wo man bestimmte Rassen finden kann. Einmal im Monat, wenn große Teile der städtischen Straßen für Kigalis autofreien Tag gesperrt werden, treffen sie sich und gehen zusammen mit ihren Hunden Gassi. Die beliebtesten Rassen in der Gruppe sind Deutsche Schäferhunde, Rottweiler, Labradore, Bernhardiner, Bichon Frisés und Japan Spitze.

    Viele der Gruppenmitglieder haben mehr als einen Hund. Sezibera hat drei kleine – Chichi, Murphy und Lincoln – und mehrere Welpen. Trotzdem ist es in seinem Haus immer still. Das liegt daran, dass Sezibera seine Hunde die meiste Zeit in hölzernen Hundehütten einschließt. Morgens und abends dürfen sie jeweils für ein paar Stunden raus und auf seinem Anwesen herumlaufen. Ins Haus dürfen sie allerdings nicht. Wenn er sie dann aber rauslässt, sind Sezibera und seine Hunde ganz vernarrt ineinander. Sie klettern auf ihm herum und er streichelt sie, hält sie im Arm und lacht. Die Hunde aber sehen immer nass und zerzaust aus.

    “Wenn man hier ein Haus hat, bedeutet das, dass jeder immer willkommen ist“, sagt Sezibera als Erklärung dafür, warum er seine Hunde wegsperrt. Viele Leute kommen einfach unangekündigt vorbei. Andere sagen, dass sie gar nicht mehr kommen würden, wenn Hunde frei auf seinem Anwesen herumlaufen würden. Das bedeutet aber nicht, dass er seine Hunde nicht mag. „Ein Hund ist ein Geschöpf Gottes, genau wie jedes andere Wesen, aber mit einer Ausnahme: Ein Hund ist ein Geschöpf, das wirklich jedem Liebe entgegenbringt“, sagt er.

    Aber in Ruanda bedeutet Hunde zu lieben nicht das Gleiche wie im Westen.

    “Öffentlich zu behaupten oder sich in den Kopf zu setzen, dass der eigene Hund Teil der Familie ist, wäre irgendwie, als würde man lügen“, sagt Sezibera. Auch in Ruanda – wie in einigen westlichen Ländern – benutzen die Menschen das Wort „Hund“ als Beleidigung füreinander, wenn sie das Gegenüber herabsetzen wollen. Wenn er sagen würde, dass er einen Hund so wie einen Menschen liebt, „wäre das ein Skandal und gegen unsere Kultur“.

    Der 41-jährige David Kamanda hat drei Hunde: einen Deutschen Schäferhund namens Cookie und die beiden Rottweiler Candy und Canine, die beide gerade Welpen haben. Kamanda möchte ein Züchter werden und findet, man sollte sich darum bemühen, dass die Hunde dem Zuchtstandard entsprechen.
    Foto von Yana Paskova

    Studien haben gezeigt, dass die Beziehung zwischen Mensch und Hund je nach Kultur und Gesellschaft variiert. Sie wird dabei von Faktoren wie Sicherheit, Kameradschaft, der Verkehrswirtschaft und den religiösen Überzeugungen beeinflusst. Experten zufolge ist der Schutz von Besitztümern und Vieh in Entwicklungsländern nach wie vor der Hauptgrund für die Haltung von Hunden. Obwohl Ruanda immer noch als Entwicklungsland gilt, entwickelt es sich rasant zu einer der führenden Wirtschaften Afrikas. Die Strategie der Regierung sieht vor, Ruanda bis 2020 zu einem Land mittleren Einkommens zu machen. Mit dem ökonomischen Fortschritt gehen auch eine wachsende Mittelschicht, eine Rückkehr der im Ausland lebenden Ruander und eine große Gemeinschaft von Ausländern einher.

    “Wenn Länder Erste-Welt-Standards entwickeln, gehört dazu auch das Tierwohl“, sagt Francis Klinck, eine Kanadierin und Gründerin von WAG. Die Organisation sucht den Straßenhunden Kigalis ein Zuhause. WAG besteht aus 30 Mitgliedern und hat bisher 350 ehemalige Streuner vermittelt. Die Freiwilligen der Organisation kümmern sich um die Hunde und kommen für alle Kosten auf, bis ein neuer Besitzer gefunden wurde.

    Als Klinck im Jahr 2012 die WAG gründete, geschah das hauptsächlich als Reaktion auf die schlechte Behandlung, die die Hunde im Land erfuhren. Sie hörte von Hunden, die von Autos angefahren und dann unbeachtet an der Straße liegengelassen wurden. Sie sah Kinder, die Steine nach Streunern warfen, oder hörte davon, wie Kinder Hunde verprügelt hatten.

    In den letzten paar Jahren haben sich die Dinge zum Glück geändert, wenn auch nur langsam. Die ruandische Polizei hat beispielsweise angeordnet, dass Hunde an der Leine geführt und geimpft werden müssen. Mittlerweile gibt es auch ein Gesetz, das es verbietet, Haustiere zu verletzen.

    Ineza Alidry Cloudstone ist ein 20 Jahre alter Hundetrainer und -ausführer. Er ist als „Hundeflüsterer“ bekannt und arbeitet hier gerade mit Kimi, die Aggressionsprobleme hat. Cloudstone hat sich sein Wissen mit Büchern und YouTube-Videos erarbeitet.
    Foto von Yana Paskova

    Klinck zufolge bewegen sich Ruandas Bemühungen „in Richtung der Normalisierung des Hundes als Teil des Alltags“. Geschäfte, die sich rund um die Pflege und Haltung von Hunden drehen, eröffnen in diversen Stadtteilen und machen guten Umsatz.

    DIE ZUKUNFT DER HUNDE IN KIGALI

    Pets + Ltd., Kigalis erster Allround-Shop für Haustiere, bietet tierärztliche Betreuung sowie einen Pflege-, Trainings- und Gassiservice und verkauft außerdem Zubehör wie Leinen und Futter.

    Das Zentrum legt zudem viel Wert auf Kommunikation und Pädagogik. Nur etwa zehn Prozent der Kunden, die dort den Tierarzt aufsuchen, sind Ruander, erzählt Dr. Septianingrum Lestari. Die Tierärztin des Zentrums, die dort auch als Dr. Arum bekannt ist, sagt, dass die Menschen den Wert von Tierärzten für kleine Haustiere wie Hunde erst noch begreifen müssen. Oft würden viele Ruander das Geld lieber für sich ausgeben als für ein Tier, erzählt Dr. Arum.

    “Wenn es Vieh wäre, zum Beispiel Kühe? Die sind für eine Familie eine Wertanlage“, sagt sie. „Für ihre Kühe würden sie alles tun, aber bei Hunden ist das eher nicht der Fall.“

    Ngabo Faradji geht mit Nelson auf einer Straße in Kigali spazieren und holt dabei andere Besitzer mit ihren Hunden zu einem gemeinsamen Spaziergang ab.
    Foto von Yana Paskova

    Der Star-Trainer und Hundeführer bei Pets + Ltd. ist der 20-jährige Inezi Alidry Cloudstone. Der Autodidakt aus Ruanda hat sich schon den Spitznamen des „Hundeflüsterers“ erarbeitet. Andere Ruander haben für Cloudstones Job aber nicht allzu viel Verständnis. Mit Hunden zu arbeiten, gilt nicht als respektabel.

    “Die Leute ärgern mich immer und sagen, dass ich nur mit Hunden durch die Gegend renne“, sagt Cloudstone.

    Er lässt sich davon aber nicht beirren. Er liebt Hunde und hat eine Menge von seinen vierbeinigen Freunden gelernt. Sie haben ihm beigebracht, was Selbstsicherheit, Geduld und Verantwortung sind, aber vor allem auch Liebe, Freundlichkeit und Vergebung. Er glaubt, dass auch andere Menschen diese Lektionen lernen könnten, wenn mehr Familien Hunde adoptieren würden.

    Grinner stimmt ihm absolut zu. Er kann sich sein Leben ohne Lily gar nicht vorstellen. Obwohl er erst 34 ist, denkt er oft darüber nach, wer sich um sie kümmern würde, wenn ihm etwas zustößt. In vielerlei Hinsicht fühlt er sich wie ein Vater. Seinen erwachsenen Freunden erzählt er oft, dass sie darüber nachdenken sollten, sich einen Hund zuzulegen, bevor sie Eltern werden.

    “Ich sage ihnen immer: Wenn du wissen willst, wie es ist, ein Kind zu haben, solltest du mit einem Welpen anfangen“, sagt er und lacht. „Wenn du mit dem Hund zurechtkommst und kein Problem mit dem ganzen Chaos hast, das er anrichtet, wirst du sicher auch mit Babys klarkommen.“

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