Die einsamen Herzen hinter Asiens Livestreaming-Industrie
Internetstars filmen sich dabei, wie sie singen, reden, essen und schlafen – für Geld. Ein Blick in das Leben der Stars und ihrer Fans.
Wenn die Dunkelheit über Taipeh hereinbricht, erleuchtet ein Bild einer Frau namens Lala den Nachthimmel. Sie zählt zu Taiwans erfolgreichsten Livestreamern – einer Randgruppe von Stars, die ihren Lebensunterhalt vor der Kamera verbringen. Ihr Gesicht strahlt von einer 30 Meter hohen Werbetafel auf Taipeh herab.
In ganz Asien sehen Tausende Menschen auf ihren Smartphones und Computern zahllosen Livestreamern dabei zu, wie sie Witze machen, essen oder schlafen. Die erfolgreichsten unter ihnen verdienen genug Geld, um sich ihre eigene Insel kaufen zu können. Aber das leere Versprechen von Intimität, auf dem die gesamte Industrie basiert, kann sowohl für die Stars als auch ihre Fans eine einsame Existenz bedeuten.
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Wenn Junji Chen von einem langen Tag in der Fabrik nach Hause kommt, freut er sich schon darauf, seine freien Stunden damit zu verbringen, seiner persönlichen Lieblings-Livestreamerin Yutong zuzusehen. Chen ist von seinem Heimatdorf nach Taipeh gezogen, um dort Arbeit zu finden. Der 42-Jährige hat kein nennenswertes Sozialleben. Seine Beziehungen beschränken sich fast alle auf Facebookfreunde, von denen er viele noch nie persönlich getroffen hat – und auf Livestreamer.
Yutong kann Chen weder sehen noch hören, aber für ihn fühlt sich ihre Beziehung echt, unverfälscht und vielleicht sogar erwidert an. Um dieses Gefühl möglichst lange auskosten zu können, muss er mit dem Zeigefinger nur über den Bildschirm wischen. In der Kommentarspalte kann er Yutong Komplimente machen oder ihr Geld in Form virtueller Sticker senden.
Ein einziger Sticker kann mehrere Tausend Dollar kosten – ein stolzer Preis für einen Fabrikarbeiter in einem Land, in dem der Mindestlohn keine fünf Dollar beträgt. Aber für einsame Zuschauer wie Junji Chen, der ein Drittel seines Gehaltes für solche virtuellen Sticker ausgibt, ist die Gesellschaft den Preis wert.
Livestreaming-Apps tauchten in Korea erstmals 2006 auf. Damals waren es Plattformen für Internetstars, die vor laufender Kamera erzählten, aßen, tanzten oder sogar schliefen. Mittlerweile sind solche Apps in ganz Korea, Japan, China und Taiwan verbreitet. Plattformen wie 17Media, die 2015 in Taiwan gegründet wurde, haben mehr als 30 Millionen Nutzer weltweit und produzieren jeden Tag 10.000 Stunden an Content. Mit mehr als 10 Millionen Downloads in den ersten 250 Tagen nach dem Launch war 17Medias anfängliche Wachstumsrate größer als die von Instagram oder Facebook.
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Als Chi Hui Lin 2017 per Anhalter durch China trampte, öffnete sie zum ersten Mal einen Livestream. Da sie in Taiwan aufgewachsen war, hatte sie den Aufstieg der Livestreaming-Industrie miterlebt, als in den Großstädten plötzlich überall Werbung dafür auftauchte und die Namen großer Plattformen Teil alltäglicher Gespräche wurden. Aber irgendwie hatte sie nie das Bedürfnis verspürt, so eine App selbst auszuprobieren.
Selbst, als sie sich endlich dazu durchrang, fand sie den Stream nicht besonders unterhaltsam. Die Industrie ist vorwiegend – wenn auch nicht exklusiv – auf weibliche Livestreamer ausgerichtet, die von männlichen Fans beobachtet werden. Trotzdem war Lin neugierig geworden.
Jerome Gence, ein Reisefotograf und Lins Reisegefährte, hatte ebenfalls Interesse an der Thematik. Während seiner Arbeit als Webanalyst in Frankreich hatte Gence eine Faszination für die Beziehung zwischen Mensch und Technologie entwickelt. Gemeinsam beschlossen die beiden, Livestreamer und ihre Fans in ganz Asien zu fotografieren.
Im Laufe von sieben Monaten trafen Lin und Gence die Stars der Szene: einen korpulenten Mann, der gewaltige Mengen an Essen verzehrte; eine zierliche junge Frau, die ihre Gesichtsform mit In-App-Filtern veränderte; einen Hund, der ein Miniaturauto fährt. Sie fanden auch heraus, dass die plüschigen Stühle und die bunten Tapeten hinter den meisten Livestreamern nur ein unvollständiges Bild zeichnen. „Sie haben diese coolen, bunten Hintergründe“, sagt Gence. „Aber vor sich haben sie nicht mal ein Fenster.“
Hinter den Kulissen
Innerhalb der Livestreaming-Industrie spielt jedes Land nach seinen eigenen Regeln.
Zuerst machten Gence und Lin bei Redu Media Halt, einer chinesischen Livestreaming-Agentur mit Büros in Xi’an und Peking. China überwacht alle Livestreamer sehr genau und verbietet politische Diskussionen während der Übertragungen. Die Streamer der Agentur arbeiten auf engstem Raum und müssen sich an strenge Richtlinien halten. In Taiwan trafen Gence und Lin hingegen selbstständige Livestreamer. Als nächstes besuchten sie die Hosts von Afreeca.tv, Südkoreas größtem Livestreaming-Unternehmen. In Ländern wie Taiwan, Japan und Korea dürfen Livestreamer sich an politischen Diskussionen beteiligen und arbeiten meist eher von zu Hause aus als in einer Agentur.
Die Arbeit fordert ihren Tribut: Körperliche und psychische Probleme sind für etliche Livestreamer ein Thema. Die besten Streamingstunden sind spät abends und nachts, was für viele einen unregelmäßigen Schlafrhythmus und konstante Erschöpfung bedeutet. Manche Streamer isolieren sich zunehmend von Freunden und Familie oder werden depressiv. In Korea neigen Streamer, die vor der Kamera große Mengen Essen verzehren – sogenannte Mukbanger – zu Übergewicht. Manche von ihnen erbrechen sich nach dem Gelage, was gesundheitliche Probleme bis hin zu Herzversagen nach sich ziehen kann.
Wenn die berühmte taiwanesische Livestreamerin Lala zur Arbeit geht, bleibt ihre fünfjährige Tochter Mong Mong zu Hause. Lalas Mutter erzählte Gence und Lin, sie sorge sich, dass ihre Tochter außerhalb der Industrie keinerlei authentische Beziehungen hat. Auf LiveAf, einer von 17Media produzierten App, hat Lala fast 75.000 Follower.
Da der Erfolg der Livestreamer von ihrer digitalen Beliebtheit abhängig ist, schrecken viele von ihnen auch nicht vor schädlichen Verhaltensweisen zurück, um ihre Fans zufriedenzustellen. Denn sobald die vermeintliche Intimität erst einmal verloren ist, ist auch ihr Einkommen dahin.
„Die Livestreamer sind sich ihres Jobs überhaupt nicht sicher, weil sie nicht wissen, wie lange ihre Fans sie noch mögen werden“, sagt Lin. „Die Fans müssen nur einmal mit dem Finger wischen, um zur nächsten Livestream-Session zu wechseln.“
Finanziell können die wenigsten von diesem Job leben. Laut Daten der chinesischen Social-Media-App WeChat aus dem Jahr 2016 hatten mehr als 90 Prozent der Livestreamer noch einen weiteren Job. Nur 17 Prozent arbeiteten länger als zwei Jahre in der Industrie.
Trotzdem können sich Unternehmen wie 17Media nicht über mangelnden Profit beklagen. „Der Gewinner ist am Ende immer eine Plattform“, sagt Lin.
Leichte Beute
Kongto ist 32 und lebt bei seinen Eltern in Miaoli, Taiwan. Er hat noch nie eine Frau geküsst und hat das Gefühl, dass er seine Liebe einem Livestreamer gegenüber besser ausdrücken kann als einer Frau im echten Leben. Seiner Lieblingsstreamerin Yutong sieht er heimlich zu, weil er Angst hat, was seine Eltern von seiner Gewohnheit halten könnten, wenn sie davon erfahren.
Kongto ist einer von zahlreichen Junggesellen, die mit den Livestreams ihre Einsamkeit zu kompensieren versuchen. Die ist besonders in jenen asiatischen Ländern ein Problem, in denen junge Männer ihre Heimatdörfer verlassen müssen, um in den Fabriken der Stadt Arbeit zu suchen. Oft kennen sie im Umkreis von vielen Kilometern niemanden, und so bleiben ihnen nur die Livestreams, um die Isolation ihrer neuen Lebenswelt erträglicher zu gestalten.
Diese Generation „kann über Streamingplattformen viel besser Beziehungen herstellen“, sagt Nan Zhang, ein Partner der Marketingfirma Metis International, die die Livestreaming-Industrie in China seit 2016 erforscht. „Ihren Eltern, Geschwistern oder Kollegen gegenüber können sie manchmal vielleicht nicht so ehrlich sein oder bestimmte Dinge sagen.“
Chinas rasanter Wandel von einer kollektivistischen zu einer individualistischen Gesellschaft spielt eine große Rolle in der Entscheidung der jungen Menschen, solche Livestreams anzusehen, sagt Zhang. Außerdem wurden Jungen durch Chinas Ein-Kind-Politik, die in den Achtzigern eingeführt wurde, bevorzugt. Heute wenden sich Millionen von jungen Männern in ihren Zwanzigern in Ermangelung einer Partnerin deshalb Livestreams zu.
Sie liebt mich – nicht
Livestreaming-Fans können mit ihren Lieblingsstreamern sogenannte „parasoziale Beziehungen“ aufbauen – einseitige Freundschaften, die nur den Anschein einer Erwiderung erwecken. Für Menschen, denen es an sozialen Fähigkeiten mangelt, können diese parasozialen Bindungen die Illusion von Gemeinschaft erzeugen, obwohl das Gegenüber ihnen in Wahrheit wenig bis gar nichts zurückgibt.
Kostadin Kushlev, ein Professor für Psychologie an der Georgetown University, hat sich mit den Auswirkungen der vorm Bildschirm verbrachten Zeit auf das Wohlbefinden befasst. Er fand heraus, dass Interaktionen über das Smartphone oder andere technische Geräte nicht dieselben positiven Effekte erzeugen wie echte Beziehungen.
„Theoretisch können uns diese Geräte miteinander verbinden“, sagt Kushlev. „Aber wenn wir anfangen, echte Interaktionen mit digitalen Interaktionen zu ersetzen, landen wir in einem sich selbst erhaltenden Teufelskreis: Wir verspüren dann den Wunsch nach Gesellschaft, können ihn aber nicht erfüllen.“
Die Fans glauben, dass sich die Streamer etwas aus ihnen machen, sagt Gence. „Aber am Ende nimmt [der Livestreamer] nur ihr Geld und die Fans sind noch einsamer als vorher.“ Trotzdem beharren einige Fans darauf, dass aus den Videos Freundschaft oder sogar Liebe erwachsen kann. „Einige von den Fans haben uns erzählt, dass sie den Streamern folgen, weil sie die einzigen Personen sind, die ihren Namen kennen.“
Das Projekt der Fotografen ist mittlerweile beendet, aber trotzdem hatten sie danach noch Kontakt zu einigen der Menschen, die sie fotografiert haben. Junji Chen, der Livestreaming-Fan aus Taiwan, schaut mittlerweile keine Videos von Yutong mehr. Er hat erkannt, dass die Livestreamer seine Liebe nie erwidern werden, und sich vorgenommen, sich mehr um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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