Vom Kriegs-Kaffee zum Food-Trend: Das Comeback der Zichorie
Wie die Heilpflanze des Jahres 2020 als Lebensmittel Karriere machte.
Die Zichorie trägt von Juni bis Oktober himmelblaue Blüten. Zu Herstellung von Zichorien-Kaffee wird nur die Wurzel der Heilpflanze verwendet.
Mit ihren hellblauen Blüten ziert die Zichorie viele Wegränder und Bahndämme Mitteleuropas. Doch das unscheinbare Pflänzchen ist geschichtlich betrachtet, schon immer mehr als nur ein Hingucker. Als Heilpflanze des Jahres 2020 und als Kaffee-Ersatz erlebt sie grade ein Revival.
Zichorie: Botanik mit Geschmack
Die Zichorie gehört in Mitteleuropa zu den häufigsten Wildkräutern. Als bekannte Heil- und Nutzpflanze hat sie über die Jahre viele Spitznamen erhalten und ist als Blaue Distel, Hasenmilch, Rattenwurz oder Kaffeekraut bekannt. Sie ist ein Korbblütengewächs, eng verwandt mit Heilkräutern wie Löwenzahn, Arnika oder Kornblume und gehört der Gattung der Wegwarten (Cichoria) an, zu der auch die Endivie und Frisée gehören.
Ist Zichorienkaffee gesund?
Die Zichorie wird schon seit Jahrhunderten als Heilpflanze eingesetzt. Bereits Hippokrates (460 v. Chr.) soll sie wegen ihrer Wirkung gegen Appetitlosigkeit, Verdauungs- und Magenbeschwerden genutzt haben. Prof. Dr. med H. Hauner vom Institut für Ernährungsmedizin am Klinikum rechts der Isar und dem Else Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin der Technische Universität München bestätigt die heilende Wirkung: „Die Zichorie ist schon seit dem Mittelalter als Kulturpflanze in Europa bekannt und wurde als Heilpflanze für verschiedenste Krankheiten eingesetzt. Heute wissen wir, dass die Zichorienwurzel reichlich den Ballaststoff Inulin enthält, der für seine präbiotischen Eigenschaften bekannt ist. Zichorienwurzelextrakte werden auch als pflanzliches Arzneimittel beim Menschen eingesetzt, zum Beispiel gegen Dyspepsie, Appetitlosigkeit, Obstipation und andere gastrointestinale Beschwerden. Die Präparate fördern auch das Wachstum der (guten) Bifidobakterien im Darm, was wiederum gut für das Immunsystem ist. Nebenwirkungen sind nicht bekannt. In seltenen Fällen kann es allergische Reaktionen geben“.
Dass Teile der Zichorie inzwischen nicht nur in Apothekerschubladen, sondern auch auf dem Teller landen, ist einem Zufall im 18. Jahrhundert zu verdanken: Angeblich lagerten Bauern aus Belgien die Wurzeln der Wegwarte während der Herbstmonate im Dunkeln. Im Winter hatte die Wurzel getrieben. Aus diesen Trieben entstanden die Kulturformen Radicchio und Chicorée – Salatsorten, die für ihre bittere Note bekannt sind.
Was ist Chicoree Kaffee?
Eine andere jahrhundertelange Verwendung findet die Wurzel der Zichorie nicht als Heilpflanze oder Beilage, sondern als Kaffeeersatz. Denn den heute nicht mehr aus der Tasse zu denkenden Bohnenkaffee trinken Europäer erst seit Anfang des 17. Jahrhunderts, als die ersten Kaffeesäcke aus Arabien über Konstantinopel ins Land gelangten. Interessanterweise verglichen die ersten europäischen Berichte über das neuartige Kaffee-Getränk den Geschmack mit dem der getrockneten, gerösteten und anschließend aufgegossenen Zichorienwurzel – auch unter dem Namen Landkaffee oder Muckefuck bekannt. „Bestimmte Züchtungen der Zichorie sind für die Gewinnung von Kaffee-Ersatzprodukten geeignet, da sich das Inulin beim Rösten zum Teil in Oxymethylfurfurol mit kaffeeähnlichem Aroma umwandelt“, erklärt Prof. Dr. Hauner die geschmacklichen Ähnlichkeiten. „Daher wird die Wurzelzichorie schon seit jeher als Ersatzkaffee verwendet.“ Man kann also davon ausgehen, dass die Europäer schon vor dem Bohnenkaffee gerne eine Tasse Zichorienkaffee tranken. Beide Heißgetränke ähneln sich in Farbe und Geschmack, wobei der Kaffee aus der Zichorienwurzel kein Koffein enthält, ihm jedoch eine belebende Wirkung nachgesagt wird.
Zichorie: Damen-Caffee statt Heidentrunk
Als sich um Bohnenkaffee ein regelrechter Hype entwickelte, versuchte der damalige König von Preußen, Friedrich II., im 18. Jahrhundert diesen über hohe Kaffeezölle einzudämmen. Ihm war das ins Ausland abwandernde Geld ein Dorn im Auge. Zusätzlich erschwerte die napoleonische Kontinentalsperre 1806-1813 die Einfuhr aus britischen Kolonien, weshalb die Bevölkerung sich gezwungen sah, Bohnenkaffee mit Zichorienkaffee zu strecken oder ganz zu ersetzen.
Ende des 18. Jahrhunderts gab es die ersten Zichorienfabriken in Deutschland. Als Erfinder des Zichorienkaffees gelten Major Christian von Heine und Christian Gottlieb Förster, welche 1769/1770 die erste Konzession für die Produktion bekamen. Letzterer schrieb sogar ein Buch über die „Geschichte von der Erfindung des Cichorien-Caffee“. Daneben entwickelten sich im Laufe der Jahrzehnte mehrere Fabriken, die Kaffee-Ersatz-Produkte aus Gerste, Malz, Rogge, Feige oder Zichorie industriell herstellten.
Schon damals ließ sich mit dem richtigen Marketing viel machen. Ärztliche Gutachten belegten immer neue Wunderwirkungen des Zichorien-Kaffees. Als Damen- und Gesundheits-Caffee wurde Muckefuck als die gesündere Alternative zum „Heidentrunk“ aus der Kaffeebohne angepriesen. Christian Gottlieb Förster schreibt in seinem Buch über den „alten Caffee“, dass er sich um den Absatz nicht sorge, denn die Reichen würden sich etwas Gesundes wünschen, der Arme dagegen das Wohlfeile, und beides biete der Cichorien-Caffee. Er hatte Recht, der Zichorien-Kaffee entwickelte sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal unter gesundheitsbewussten Städtern zum It-Getränk. Auch gelegentliche Aussagen von Ärzten, Pfarrern und Hygienikern über den ernährungwissenschaftlich wertlosen Wurzelkaffee, konnten der Vermarktung des Zichorien-Kaffees nichts anhaben. Hinzu kam die Hoffnung der Politik, der Zichorientrunk würde den Alkohol ersetzen, den viele Arbeiter schon morgens wegen seiner (anfänglichen) belebenden Wirkung tranken. In wohltätigen Volkskaffeehallen wurde deshalb Muckefuck ausgeschenkt. Tatsächlich ersetzte dann aber der Bohnenkaffee den vormittäglichen Alkoholkonsum, der wach aber nicht betrunken machte.
Zichorie: Großmutters Geheimwaffe
Während des Dritten Reichs und der deutschen Nachkriegszeit war Bohnenkaffee erneut Mangelware und Kaffee-Ersatz-Mischungen erlebten ihr zweites Revival. Heute noch am bekanntesten ist Caro-Kaffee, der als Instant-Kaffeeersatzgetränk die meisten der nicht-löslichen Produkte verdrängte. Prof. Dr. Hauner fügt hinzu: „Der Ersatzkaffee hat sich während der Nachkriegszeit unter dem Namen Caro auch in Deutschland weiter verbreitet, und wurde zum Beispiel gerne auch Kindern und Jugendlichen gegeben. Dieser Kaffeeersatz ist durchaus gesund.“
Geheimtipp unter Foodies
Zurzeit erlebt der Kaffee aus der Zichorienwurzel sein nächstes Comeback. Nach Matcha und Golden Milk steht Zichorienkaffee erneut auf dem Speiseplan von Foodies – den gesundheitsbewussten Großstädtern des 21. Jahrhunderts. Auch heute werden ihm neben seiner biologischen Herkunft wieder zahlreiche gesundheitsfördernde Eigenschaften zugeschrieben. Gründe für das Comeback des Zichorienkaffees gibt es für Prof. Dr. Hauner genug: „Über das Revival lässt sich nur spekulieren. Stadtbewohner und moderne Menschen suchen immer nach Neuem - auch um sich gegenüber Anderen abzugrenzen oder hervorzuheben. Hinzu kommen Marketing und der Trend zu sanften Lebensmitteln, die regional sind. „Im Vergleich zu anderen Food-Trends der letzten Jahre, steht Zichorien-Kaffee laut Prof. Dr. Hauner gut da: „Dieser Kaffeeersatz enthält kein Koffein und kaum Bitterstoffe, sodass er gut verträglich ist.“
Zichorienkaffee selber machen
Vielleicht fallen Euch, ob ihr nun gesundheitsbewusste Großstädter seid oder nicht, beim nächsten Sommerspaziergang die hellblauen Blüten der Zichorie auf und ihr bekommt Lust auf Zichorien-Kaffee. Selbermachen geht ganz leicht: Die Pflanze samt Wurzel ausgraben, waschen und in dünne Streifen schneiden. Auf einem Backblech verteilen und unter der Sonne oder im Backofen (40 Grad) mehrere Stunden trocknen. In einer beschichteten Pfanne anrösten und abkühlen. In einer Kaffeemühle mahlen und wie Filterkaffee aufkochen.
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