Uralte Ruinenstadt entdeckt: Zwischen Menschenopfern und Jadezaubern

Shimao muss eine bedeutende Stadt gewesen sein – doch in alten Texten findet man keine Spur von ihr. Forscher sprechen schon jetzt von einer der „bedeutendsten archäologischen Entdeckungen dieses Jahrhunderts“.

Von Brook Larmer
Veröffentlicht am 7. Aug. 2020, 17:09 MESZ
Shimao

Eine 4.300 Jahre alte Festungsstadt namens Shimao, die von einer mehr als 70 Meter hohen Stufenpyramide gekrönt wird, stellt bisherige Ansichten über den Ursprung der chinesischen Zivilisation in Frage.

Foto von Ben Sherlock, National Geographic

Die Steine gaben ihre Geheimnisse nicht einfach so preis. Jahrzehntelang glaubten die Dorfbewohner in den staubigen Hügeln des chinesischen Lössplateaus, die bröckelnden Felswände in der Nähe ihrer Häuser seien Teil der Chinesischen Mauer. Eigentlich eine naheliegende Annahme: Die Überreste der alten Mauer verlaufen im Zickzack durch dieses trockene Gebiet am Gelben Fluss. Einst markierte das monumentale Bauwerk vor über 2.000 Jahren die Grenze der chinesischen Herrschaft.

Nur ein Detail schient seltsam fehl am Platz: Einheimische und Plünderer begannen, in den Trümmern Jadestücke zu finden, von denen einige zu Scheiben, Klingen und Zeptern verarbeitet waren. Jade kommt in diesem nördlichsten Teil der Provinz Shaanxi nicht natürlich vor – die nächste Quelle ist fast 1.600 Kilometer entfernt – und war auch kein bekanntes Merkmal der Chinesischen Mauer. Warum tauchte das Mineral in dieser unfruchtbaren Region so nahe an der Ordos-Wüste im Überfluss auf?

Shimao ist älter als die Chinesische Mauer

Vor einigen Jahren kam schließlich ein Team chinesischer Archäologen, um das Mysterium zu untersuchen – und sie entdeckten etwas Wunderbares und Rätselhaftes. Die Steine waren kein Teil der Chinesischen Mauer, sondern die Ruinen einer prächtigen Festungsstadt. Die laufenden Ausgrabungen haben mehr als zehn Kilometer an Schutzmauern zutage gefördert. Sie umgeben eine 70 Meter hohe Pyramide und ein Heiligtum mit bemalten Wänden, Jade-Artefakten – und grausigen Belegen für Menschenopfer.

Bevor die Ausgrabungen Anfang des Jahres wegen der Coronavirus-Pandemie eingestellt wurden, entdeckten Archäologen 70 atemberaubende Reliefskulpturen. Sie zeigten Steinschlangen, Monster und halbmenschliche Bestien, die der Ikonographie der späteren Bronzezeit in China ähneln.

Noch erstaunlicher: Die Kohlenstoffdatierung ergab, dass Teile von Shimao, wie die Stätte genannt wird (ihr ursprünglicher Name ist unbekannt), 4.300 Jahre alt sind. Damit ist sie also fast 2.000 Jahre älter als der älteste Abschnitt der Großen Mauer. Aber nicht nur das das: Sie wäre 500 Jahre vor der Etablierung der chinesischen Zivilisation in der Zentralchinesischen Ebene weiter südlich erbaut worden.

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    Shimao beherbergte in dieser scheinbar abgelegenen Region fast ein halbes Jahrtausend lang eine blühende Zivilisation, von etwa 2300 v. Chr. bis 1800 v. Chr. Dann wurde die Stadt plötzlich aufgegeben.

    Keiner der antiken Texte, die der chinesischen Archäologie als Leitfaden gedient haben, erwähnt eine antike Stadt so weit nördlich der sogenannten „Wiege der chinesischen Zivilisation“. Erst recht keine Stadt von solcher Größe und Komplexität, die in intensivem Austausch mit fremden Kulturen stand. Shimao ist mit einer Fläche von etwa zehn Quadratkilometern nun die größte bekannte neolithische Siedlung in China. Ihre Kunst und Technologie stammte aus der nördlichen Steppe und beeinflusste künftige chinesische Dynastien.

    Shimao ist nur die jüngste und eindrucksvollste in einer Reihe von Entdeckungen in prähistorischen Stätten in der Nähe und entlang der Küste. Die neuen Funde zwingen die Historiker dazu, die Anfänge der chinesischen Zivilisation noch mal zu überdenken und ihr Verständnis für die geografische Lage und äußeren Einflüsse ihrer frühesten Kulturen zu erweitern.

    “Shimao ist eine der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen dieses Jahrhunderts ”

    von SUN ZHOUYONG, ARCHÄOLOGE

    „Shimao ist eine der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen dieses Jahrhunderts“, sagt Sun Zhouyong, der Direktor des Archäologischen Instituts der Provinz Shaanxi und Leiter der Ausgrabungen in Shimao. „Sie eröffnete uns eine neue Art und Weise, die Entwicklung von Chinas früher Zivilisation zu betrachten.“

    Bollwerk für die Eliten

    Der erste Eindruck von Shimao – selbst als nur teilweise ausgegrabene Stätte in den kargen Hügeln über dem Fluss Tuwei – ist der einer Stadt, die erbaut wurde, um der fortwährenden Gefahr zu trotzen. Sie wurde in einer Konfliktzone errichtet, in einem Grenzland, das jahrtausendelang von Kriegen zwischen Hirten der nördlichen Steppe und Bauern der zentralen Ebene geprägt wurde.

    Kürzlich freigelegte Steinmetzarbeiten „könnten der Stufenpyramide besondere religiöse Kräfte verliehen haben“, berichteten die Archäologen.

    Foto von Ben Sherlock, National Geographic

    Um sich vor gewalttätigen Rivalen zu schützen, ließen die Shimao-Eliten ihre längliche, 20-stufige Pyramide auf dem höchsten dieser Hügel errichten. Das Bauwerk, das von jedem Punkt der Stadt aus sichtbar ist, ist etwa halb so hoch wie die Cheops-Pyramide in Gizeh, die etwa zur selben Zeit (2250 v. Chr.) erbaut wurde. Ihre Basis ist allerdings viermal größer. Die Eliten von Shimao schützten sich, indem sie die oberste Ebene der Plattform bewohnten, die einen fünf Hektar großen, palastartigen Komplex mit einem eigenen Wasserreservoir, Handwerkswerkstätten und höchstwahrscheinlich auch rituellen Tempeln umfasste.

    Von der zentralen Pyramide von Shimao aus strahlten kilometerlange innere und äußere Begrenzungsmauern aus. Dieses frühe Stadtdesign tauchte in chinesischen Städten im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auf. Allein für die Mauern wurden 125.000 Kubikmeter Stein verarbeitet, was dem Volumen von 50 olympischen Schwimmbecken entspricht. Es war ein gewaltiges Unterfangen für eine neolithische Gesellschaft, deren Bevölkerung wahrscheinlich zwischen 10.000 und 20.000 Menschen umfasste. Die schiere Größe des Projekts lässt Archäologen glauben, dass Shimao über die Loyalität – und die Arbeitskraft – kleinerer Satellitenstädte verfügte, die kürzlich im Umland entdeckt wurden.

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    Mehr als 70 Steinstädte aus derselben neolithischen Kultur, die sogenannte Longshan-Kultur, wurden in der nördlichen Provinz Shaanxi ausgegraben. Zehn von ihnen liegen im Stromgebiet des Tuwei, wo sich Shimao befindet. „Diese Satellitendörfer oder -städte sind wie Monde, die um Shimao kreisen“, sagt Sun. „Gemeinsam bildeten sie eine solide soziale Grundlage für die frühe Staatsgründung in Shimao.“

    Die Befestigungsanlagen von Shimao sind nicht nur wegen ihrer Größe, sondern auch wegen des Einfallsreichtums ihrer Erbauer erstaunlich. Das Verteidigungssystem umfasste Barbakane (von Türmen flankierte Tore), Tore, die nur aus einer Richtung zugänglich sind, und Bastionen (ein vorspringender Teil der Mauer, der Verteidigungsfeuer in mehrere Richtungen ermöglicht). Außerdem wurde eine verengende Bauform genutzt, deren Winkel die Angreifer in einen Bereich zogen, in dem die Verteidiger sie von drei Seiten angreifen konnten. Dieses Design wurde später zu einem Grundpfeiler der chinesischen Verteidigungsarchitektur.

    Zweieinhalb Meter dicke und fast zehn Kilometer lange Festungsmauern umgaben die Stadt. Die Ruinen wurden schon vor Jahrzehnten entdeckt, aber lange Zeit dachte man, sie seien Teil der Chinesischen Mauer. Erst jüngste Entdeckungen zeigten, dass sie viel älter sind.

    Foto von Li Min, Ucla

    Im Inneren der Steinmauern fand das Team von Sun eine weitere unerwartete Neuerung: Holzbalken als Verstärkung. Die auf 2300 v. Chr. datierten, noch intakten Zypressenbalken sind Teil einer Konstruktionsmethode, von der die Gelehrten zuvor annahmen, dass sie erst in der Han-Dynastie begonnen hatte - mehr als 2.000 Jahre später.

    Grundsteinlegung mit Menschenopfern

    Die grausigste Entdeckung machten die Archäologen unter der Ostmauer der Stadt: 80 menschliche Schädel in sechs Gruben (die beiden Gruben, die dem Osttor dem Haupteingang der Stadt am nächsten lagen, enthielten jeweils genau 24 Schädel). Die Anzahl und Platzierung der Schädel lassen auf eine rituelle Enthauptung während der Grundsteinlegung der Mauer schließen. Somit wäre es das früheste bekannte Beispiel für Menschenopfer in der chinesischen Geschichte. Forensische Wissenschaftler stellten fest, dass fast alle Opfer junge Mädchen waren – höchstwahrscheinlich Gefangene, die einer rivalisierenden Gruppe angehörten.

    „Das Ausmaß der rituellen Gewalt in Shimao war im frühen China beispiellos“, sagt Li Min, ein Archäologe an der University of California in Los Angeles, der Shimao besucht und ausführlich darüber geschrieben hat. Die Schädel von Shimao waren ein Vorgeschmack auf die exzessiven Menschenopferungen, die viele Jahrhunderte später (von etwa 1600 bis 1046 v. Chr.) zu „einem entscheidenden Merkmal der Shang-Kultur“ wurden, wie Li sagt. Erst die nachfolgenden Dynastien setzten dieser Praktik ein Ende.

     

    Die Schädel sind nur ein Hinweis darauf, dass das Osttor den Eingang zu einer anderen Welt darstellte. Jeder, der über die Schwelle oberhalb der verschütteten Opfergruben gelaufen wäre, hätte ehrfürchtig auf unmittelbar sichtbare Zeichen des Übergangs geblickt. Mehrere Steinblöcke in den hohen Terrassenwänden wurden mit Rautenmustern versehen, so dass sie wie riesige Augen erscheinen, die auf das Osttor hinunterblicken. In die Steinmauern wurden in regelmäßigen Abständen Tausende von schwarzen und dunkelgrünen Jadestücken eingefasst – schimmernde Ornamente, die sowohl zur Abwehr des Bösen dienten als auch die Macht und den Reichtum der Shimao-Eliten veranschaulichten. Der Überfluss an Jade-Artefakten lässt vermuten, dass Shimao aus Mangel einer heimischen Bezugsquelle große Mengen von weit entfernten Handelspartnern importierte.

    Archäologen haben 80 abgetrennte Köpfe in Gruben unter den Stadtmauern entdeckt. Bei allen Opfern handelte es sich um weibliche Jugendliche, die möglicherweise während der Gründungszeremonie der Stadt geopfert wurden.

    Foto von Screengrab by National Geographic

    Trotz seiner heute scheinbaren Abgeschiedenheit war Shimao nicht von der Außenwelt isoliert. Es tauschte Ideen, Technologie und Waren mit einer Vielzahl anderer Kulturen aus, von der Altai-Steppe im Norden bis zu den Küstenregionen in der Nähe des Gelben Meeres.

    „Wie viele andere Gebiete zeigt auch Shimano etwas ganz Bedeutendes: dass Chinas Zivilisation viele Wurzeln hat und nicht nur aus der Zentralchinesischen Ebene am mittleren Gelben Fluss hervorging“, sagt Jessica Rawson, eine Professorin für chinesische Kunst und Archäologie an der University of Oxford. „Einige Merkmale stammen aus der Welt jenseits des heutigen Nordchinas, zum Beispiel Steinbauten, die mehr mit der Steppe als mit der Zentralchinesischen Ebene zu tun haben. Andere Besonderheiten sind Viehherden für den Lebensunterhalt, Ochsen und Schafe und Metallurgie. Das sind eigentlich sehr wichtige Technologien, die China übernommen und nahtlos in seine Kultur integriert hat.“

    Viele der in Shimao gefundenen Artefakte können nur aus fernen Ländern stammen. Neben der Jade fanden die Archäologen auch die Überreste von Alligatorhäuten, die aus einer viel weiter südlich gelegenen Sumpfregion stammen müssen. Trommeln aus Alligatorhäuten wurden wahrscheinlich bei rituellen Zeremonien verwendet – ein Zeichen für die bedeutende Rolle, die die Musik im Palastleben von Shimao spielte.

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    Eine weitere Entdeckung verblüffte Sun und sein Team: 20 identische Knochenstücke, dünn, glatt und gebogen. Die Archäologen vermuteten zunächst, dass es sich dabei um Kämme oder Haarnadeln handelte. Aber dann kam ein Musikwissenschaftler zu dem Schluss, dass die Knochen die frühesten Beispiele für ein primitives Instrument waren, das aus dem Chinesischen als „Mundrohr“ übersetzt werden kann und hierzulande als Maultrommel bekannt ist.

    „Shimao ist der Geburtsort der Maultrommel“, sagt Sun. Er verweist darauf, dass sich das Instrument in mehr als 100 ethnischen Gruppen auf der ganzen Welt verbreitet hat. „Es ist eine wichtige Entdeckung, die wertvolle Hinweise für die Erforschung der frühen Bevölkerungs- und Kulturströme liefert.“

    Klimaänderung brachte Shimaos Untergang

    Bislang wurde nur ein kleiner Bruchteil von Shimao ausgegraben, weshalb konstant neue Entdeckungen gemacht werden. Zusammen mit Steinmetzarbeiten, die 2019 freigelegt wurden, fanden Archäologen Hinweise auf menschliche Büsten und Statuen, die einst in die Mauern rund um das Osttor eingelassen waren. Wir fangen gerade erst an zu verstehen, was die Schnitzereien bedeuten könnten, sagt Li Min von der UCLA, aber die anthropomorphen Darstellungen seien „ein sehr innovativer und seltener Ansatz“.

    Shimao ist die größte bekannte steinzeitliche Siedlung in China. Bislang ist nur ein kleiner Teil der Stätte ausgegraben worden. Archäologen erhoffen sich noch viele weitere Entdeckungen.

    Foto von Rachel Vaknin, National Geographic

    So vieles an Shimao bleibt geheimnisumwoben, genau wie sein ursprünglicher Name. Archäologen versuchen immer noch zu verstehen, wie die Wirtschaft der Stadt funktionierte, wie sie mit anderen prähistorischen Kulturen interagierte und ob ihre Eliten ein Schriftsystem besaßen. „Damit wäre ein sehr altes Rätsel gelöst“, sagt Sun.

    Es gibt jedoch einige Hinweise darauf, warum Shimao nach 500 Jahren aufgegeben wurde. Es war kein Erdbeben, keine Überschwemmung und keine Seuche. Ein Krieg hätte vielleicht gereicht, um die Bewohner zu vertreiben – aber die Wissenschaftler sehen eher Hinweise darauf, dass der Klimawandel eine entscheidende Rolle gespielt hat.

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    Im dritten Jahrtausend v. Chr., als Shimao gegründet wurde, zog ein relativ warmes und feuchtes Klima eine wachsende Bevölkerung in das Lössplateau. Historische Aufzeichnungen zeigen einen raschen Wechsel von 2000 bis 1700 v. Chr. zu einem trockeneren und kühleren Klima. Seen trockneten aus, Wälder verschwanden, Wüsten drangen in das Gebiet vor und die Menschen von Shimao wanderten in unbekannte Regionen ab.

    Die einst fernen Ausläufer der Ordos-Wüste grenzen nun an das Ufer des Tuwei, direkt unterhalb des Eingangs von Shimao. Die antike Stätte ist in Staub, Felsen und Stille gehüllt. Doch nach 4.300 Jahren ist eine der ältesten Städte der Welt nicht länger für die Geschichte verloren und nicht mehr verlassen. Ihre Steine haben kostbare Geheimnisse preisgegeben, die unsere Vorstellung von der frühesten Periode der chinesischen Zivilisation in Frage stellen. Zweifellos warten noch viele weitere Erkenntnisse in den Ruinen von Shimano.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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