Wie hoch war die Krebsrate vor der Industrialisierung?

Archäologische Studien in Großbritannien zeigen: Die Krebsrate im Vereinigten Königreich war vor der Industrialisierung und der Einführung von Tabak bereits höher als bislang erwartet.

Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 20. Mai 2021, 13:38 MESZ, Aktualisiert am 20. Mai 2021, 15:54 MESZ
Italienisches Fresko - Triumph des Todes

Ein italienisches Fresko aus dem 15. Jahrhundert, das den „Triumph des Todes“ abbildet. Mittelalterliche Krankheiten werden allgemein auf die Trias von Infektionen, Mangelernährung und Verletzungen aus Kriegen und Unfällen zurückgeführt. 

Foto von Werner Forman Archive, Bridgeman Images

Großbritannien heute: Schätzungsweise jeder zweite Mensch auf den britischen Inseln bekommt einmal im Laufe seines Lebens eine Krebsdiagnose. Im starken Kontrast dazu stehen die archäologischen Funde früherer Zeiten: Lediglich 1 % der vorindustriellen Bevölkerung Großbritanniens sei damals an der tückischen Krankheit erkrankt gewesen, das belegten die Forschungsergebnisse – bisher.

Neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge könnten diese jedoch eine massive Fehlkalkulation sein.

In einer Studie, die kürzlich in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Cancer“ publiziert wurde, belegen Archäologen mithilfe moderner Methoden der Krebserkennung, die sie bei jahrhundertealten Knochen angewendet haben: Die Krebsrate im vorindustriellen Großbritannien muss wahrscheinlich mindestens zehn Mal höher gewesen sein als bislang angenommen.

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Leiter der Studie war Piers Mitchell von der Universität Cambridge, der nicht nur paläopathologische Forschung an der Fakultät für Archäologie betreibt, sondern auch an verschiedenen britischen Krankenhäusern praktiziert: Er nimmt orthopädische Operationen an Krebspatienten vor. Durch diese Erfahrungen mit modernen Patienten stand Mitchell den früheren anthropologischen Forschungen zur Krebsrate in der vorindustriellen britischen Gesellschaft skeptisch gegenüber. Die Ergebnisse dieser Forschung basierten größtenteils auf der Annahme, dass die vorindustrielle Krebsrate aufgrund einer deutlich geringeren Anzahl von in der Umwelt vorkommenden Karzinogenen – das sind krebserzeugende Substanzen – so viel kleiner ausfalle als heute.

Realistisch gesehen: War Großbritannien vor der Industrialisierung überhaupt frei von Karzinogenen jeglicher Art? Die Antwort lautet: nein. Regelmäßiger Alkoholkonsum sowie die Gefahr, die von Schadstoffen durch Holz- und Kohlenfeuer in Innenräumen ausging, und das Risiko zellulärer Mutationen im Alter konnten damals ebenfalls zu Krebserkrankungen führen. Allerdings: Wahr ist, dass die Bedrohung durch Krebs deutlich zugenommen hat, seit Tabak im 16. Jahrhundert in England eingeführt wurde und seit die Umweltverschmutzung und Schadstoffbelastung durch die Industrialisierung ab dem 18. Jahrhundert zugenommen hat. 

BELIEBT

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    Skelette, die für die Studie Mitchells verwendet wurden. Sie stammen aus mittelalterlichen Gräbern auf dem Gelände des einstigen St. John The Evangelist Krankenhauses in Cambridge, Großbritannien.

    Foto von Cambridge Archaeological Unit, St John's College

    Knochen als Krebsindikatoren

    In den früheren Untersuchungen der Krebsraten in vorindustriellen Populationen wurden die Skelettüberreste hauptsächlich an der Knochenoberfläche nach optischen Veränderungen – den für bestimmte Krebsarten charakteristischen Läsionen – untersucht.

    Für Mitchell ist das der Grund für die Fehlkalkulation der Krebsrate, denn Krebs beginnt meist im Weichgewebe und ist somit im Knochen erst einmal gar nicht auffindbar. Und auch die Krebsarten, die in die Knochen streuen, findet man zunächst innerhalb dieser, bevor sie äußerlich sichtbar werden. Dementsprechend bietet die reine äußere Knochenbetrachtung viel Spielraum für Fehlkalkulationen.

    Was machen die Forschenden um Mitchell in ihrer Studie also anders? Sie nutzen die modernen Methoden der Krebserkennung, die sie auch bei ihren Patienten im Krankenhaus anwenden: Röntgen und CT-Aufnahmen. Mit der Kombination dieser Methoden analysierte das Forschungsteam 143 ausgewachsene menschliche Skelette von sechs mittelalterlichen Friedhöfen nahe Cambridge aus dem 6. bis frühen 16. Jahrhundert n. Chr.

    Die Untersuchungsgröße wurde dabei limitiert durch die Qualität der verfügbaren Knochen. Mitchell erklärt dazu: „Wenn man für 500 bis 1000 Jahre unter der Erde begraben lag, fangen die Knochen an zu bröseln oder sie werden beschädigt durch Baumwurzeln oder Nagetiere.“ Für die Studie wurden nur Skelette mit intakten Becken, Wirbelsäulen und Oberschenkelknochen genutzt – Regionen mit reichlich Blutfluss, in denen Knochenmetastasen am häufigsten zu finden sind.

    Der Pfeil zeigt auf eine Läsion in einem Knochen der Wirbelsäule eines mittelalterlichen Skeletts, welche durch Krebs hervorgerufen wurde. Das Forschungsteam konzentrierte sich auf Skelette mit intakten Becken, Wirbelsäulen und Oberschenkelknochen – Regionen mit reichlich Blutfluss, in denen Knochenmetastasen am häufigsten zu finden sind. 

    Foto von Jenna Dittmar

    Eine Krebsdiagnose wurde nur ausgestellt, wenn die kombinierte Methode aus Röntgen und CT Hinweise ergab, die sich in einem weiteren Schritt auch mit dem Befund Alastair Littlewoods gedeckt haben, einem praktizierenden Radiologen am Peterborough City Hospital. Mithilfe dieses Zwei-Phasen-Ansatzes konnte das Team letztendlich Krebs in den Knochen von 5 der 143 Individuen entdecken.

    Trotz dieser ausgefeilten Forschungstechnik kann das Ergebnis höchstwahrscheinlich nicht alle möglichen Krebsfälle in der Testpopulation repräsentieren, denn: Nur ein Drittel bis zu der Hälfte der heute bekannten Krebstode werden überhaupt durch Krebs verursacht, der bis in die Knochen gestreut hat. Außerdem erfassen CT-Aufnahmen Krebs in den Knochen auch nicht immer zu 100 % – üblich sind eher 75%. Mit diesem Wissen schlossen die Forschenden, dass 9 bis 14% der britischen Bevölkerung in der vorindustriellen Zeit mutmaßlich an Krebs erkrankt sein mussten – über zehn Mal mehr als bisher gedacht.

    Problematisch an der Studie bleibt allerdings: Ohne Biopsien und Bluttests, die andere Krankheiten ausschließen könnten, wird man nie genau sagen können, ob jede Läsion im Knochen letztendlich das Ergebnis von Krebs gewesen ist. Zusätzlich stammen die Proben aus einer einzigen geografischen Region, weshalb das Ergebnis nicht repräsentativ für das gesamte mittelalterliche Großbritannien ist.

    Vorindustrielle Krankheiten – eine komplizierte Angelegenheit

    Die Abbildung aus einem europäischen Handbuch aus dem 14. Jahrhundert namens „Tacuinum Sanitatis“ zeigt zwei Frauen beim Salbeipflücken.

    Foto von Bridgeman Images

    Laut dem „Tacuinum Sanitatis“ wurden saure Äpfel im Mittelalter zur Bekämpfung von Krankheiten geerntet.

    Foto von Bridgeman Images

    Die neue Studie verändert die gängige Annahme, dass mittelalterliche Krankheiten hauptsächlich durch die Trias von Infektionen, Mangelernährung und Verletzungen aus Kriegen oder Unfällen entstanden sind.

    Die Bioarchäologin Roselyn Campbell, Leiterin der Paleo-oncology Research Organization, sieht die Studie von Mitchell als „großen Schritt in der bioarchäologischen und paläopathologischen Forschung.“

    „Erst seit ein paar Jahrzehnten suchen Wissenschaftler ernsthafter nach Beweisen für Krebs in der Vergangenheit“, erläutert Campbell. Eine Studie genüge zwar nicht, um verallgemeinerbare Aussagen über Krebs im Mittelalter treffen zu können. Aber Mitchells Methoden könnten genutzt werden, um größere Untersuchungseinheiten sowie größere geografische Flächen und Zeiträume zu analysieren.

    Der häufigste Plastikmüll der Welt? Zigarettenfilter
    Zigarettenfilter bestehen aus dem Kunststoff Celluloseacetat. Landen die benutzten Filter in der Umwelt, kleben an ihnen auch Nikotin, Schwermetalle und andere Schadstoffe, die darüber in Gewässer gelangen. Die Lösung des Problems ist naheliegend.

    Auch für die moderne Medizin kann Mitchells Studie wichtige Informationen liefern: Indem ein Vergleich zwischen einer vorindustriellen Zeit ohne unsere heutigen Karzinogene – zum Beispiel Tabak oder industrielle Schadstoffe – und der jetzigen Zeit mit ihnen ermöglicht wird, kann in Zukunft besser nachvollzogen werden, wie genau diese krebserregenden Stoffe die menschliche Gesundheit über Jahre beeinflusst und verändert haben. „Es ist hilfreich, über einen langen Zeitraum Daten zu sammeln, um sehen zu können, wie sich das Krebsvorkommen in seiner Häufigkeit entwickelt“, so Mitchell. Zusätzlich könne seine Forschung auch Wissenschaftler beim Verstehen des Einflusses von nicht-industriellen Karzinogenen wie zum Beispiel Sonnenstrahlung, Viren oder Parasiten helfen.

    Die mittelalterliche Tarotkarte „Drei der Kelche“ zeigt einen Arzt am Bett eines Patienten. Es wurde allgemein angenommen, dass Krebs eine seltene Krankheit im mittelalterlichen Europa war. 

    Foto von Bridgeman Images

    Abschließend weisen Campbell und Mitchell beide darauf hin, dass nicht jede Art von Krebs durch Karzinogene wie Tabak oder industrielle Schadstoffe ausgelöst wird. Alter, Gene und zufällige Zellmutationen spielen ebenfalls eine große Rolle. Mitchell betont, dass Krebs nicht verschwinden wird, wenn man krebserregende Stoffe aus der Umwelt entfernt – die Anzahl der Fälle würde lediglich sinken. Trotzdem können paläopathologische Untersuchungen wie in der Studie von Mitchell dazu beitragen, eine Einschätzung vorzunehmen, bis zu welchem Grad verschiedene äußere Einflüsse auf den Körper das persönliche Krebsrisiko verringern beziehungsweise vergrößern können.

    Campbell erklärt abschließend: „Es wird bei diesen Untersuchungen immer ein gewisses Maß an Unsicherheit geben. Nichtsdestotrotz sollte man weiterhin an diesen alten Krebsformen forschen. Wir müssen uns damit abfinden, nicht immer eine absolute Antwort auf alles finden zu können.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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