Ägyptomanie in Europa: Die Mumien-Auswickel-Partys des 19. Jahrhunderts

Heute undenkbar, früher Trend – bis vor hundert Jahren gab es in Europa Veranstaltungen, bei denen ägyptische Mumien vor Publikum ausgewickelt und untersucht wurden. Über die Ägypten-Obsession der Europäer und ihre ethisch fragwürdigen Auswüchse.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 30. Aug. 2023, 09:27 MESZ
Mehrere Menschen stehen um eine aufgebahrte Mumie herum.

Zu den Mumienpartys waren vor allem reiche Gäste geladen – denn der Andrang war groß. Im Vordergrund stand angeblich die Wissenschaft, dennoch arteten die Partys oft eher in einem Spektakel aus.

Foto von Paul Dominique Philippoteaux, 1845-1924 / Public Domain

Wir schreiben das Jahr 1848. In dem Studio des schottischen Malers und Ägypten-Enthusiasten David Roberts finden sich über 120 Menschen ein, darunter vor allem Künstler*innen und Wohlhabende. Sie alle wollen dem als Stargast geladenen Chirurgen Thomas Pettigrew bei der Arbeit zusehen. Dieser hält zunächst einen kurzen Vortrag über seine Arbeit – und beginnt dann eine Mumie auszuwickeln, die vor ihm aufgebahrt auf einem Tisch liegt.

Thomas Pettigrew ist Mumienauswickler, daher auch sein Beiname „Mummy“, und im Europa des 19. Jahrhunderts extrem gefragt. Denn Partys wie die von Roberts sind zu dieser Zeit in Mode, vor allem im viktorianischen Großbritannien sowie in Deutschland und Frankreich. Sie sind Teil eines Trends, der damals in der wissenschaftlichen Community sowie in der gesellschaftlichen Oberschicht große Wellen schlägt: die sogenannte Ägyptomanie. 

Mumienmehl als Arznei und Farbpigment: Beginn der Ägyptomanie

Die Ursprünge der europäischen Ägyptomanie des 16. bis 19. Jahrhunderts liegen wohl in der Medizin. Bereits im 15. Jahrhundert beginnen reiche Engländer*innen im Sinne der Gesundheit Mumien aus Ägypten zu importieren – um aus ihnen die Heilsubstanz Mumia zu machen. Dazu werden die Mumien zu Mehl zermahlen und so verarbeitet, dass sie Menschen verabreicht werden können. Vor allem Apotheker und Ärzte werden so zu den Treibern der Mumienmanie – Mediziner aus Deutschland und Frankreich ziehen schnell nach.

Apothekengefäß aus dem 18. Jahrhundert, in dem einst die Arznei Mumia aufbewahrt wurde.

Foto von Deutsche Apothekenmuseum Heidelberg / CC BY-SA 3.0

Helfen soll Mumia vera aegyptiaca – so der Verkaufsname des Mumienpulvers – zu jener Zeit bei fast allen physischen Leiden. Der englische Physiker Robert Boyle beispielsweise preist die Wirkung von Mumia bei Stürzen und Prellungen, „aber auch in anderen Fällen“ an. Auch bei Blutungen oder offenen Wunden soll die Substanz helfen. In Deutschland wird das Leichenpulver sogar bis 1924 in Apotheken verkauft – bis die Verwendung schließlich aus der Mode gerät.

Doch nicht nur Mediziner haben Interesse an der Substanz. Als Mumienbraun wird Mumienmehl – gemischt mit anderen Substanzen – auch in der Kunst immer beliebter und ist aus den Paletten bald nicht mehr wegzudenken. Der Farbstoff wird oft von Apothekern gemischt, die das Mehl ohnehin bereits zur Arznei verarbeiten.

Arznei und Malfarbe: Etablierung von Mumienmehl in Europa

Im späten 18. und im gesamten 19. Jahrhundert treten diese Verwendungen der Mumien allerdings in den Hintergrund. Nicht mehr ihr medizinischer Nutzen, sondern vor allem die Untersuchung ihres Körpers sowie der Artefakte der Alten Ägypter stehen im Vordergrund – angefacht von der Entdeckung des Steins von Rosette im Jahr 1799 und Napoleons Feldzug in Ägypten ein Jahr zuvor. Damit sind die Auswickel-Partys geboren.

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    Thomas Pettigrew war Chirurg und Ägyptologe – und widmete einen Großteil seiner Karriere dem Auswickeln von Mumien. Meist wurden seine Vorführungen von einem kurzen wissenschaftlichen Vortrag begleitet – dennoch stand die Unterhaltung dabei immer im Mittelpunkt.

    Foto von CC BY 4.0

    Zu diesen wird meist ein Arzt oder Wissenschaftler eingeladen, der die aufgebahrte Mumie Stück für Stück von ihren Leinentüchern befreit, bis der einbalsamierte Körper schließlich freigelegt ist. Erst finden solche Vorführungen nur in Mediziner- oder wissenschaftlichen Kreisen in Praxen oder Universitäten statt. Dann werden sie immer häufiger auch privat ausgerichtet – als Entertainment für die Oberschicht. Bald will jede Person, die etwas auf sich hält, entweder selbst eine Mumie erwerben oder eine Eintrittskarte zu einer der berühmten Auswickelpartys ergattern – von Wissenschaftlern über reiche Kaufleute bis hin zu Künstlern.

    „Es wäre wenig respektabel, sich bei seiner Rückkehr aus Ägypten ohne eine Mumie in der einen und ein Krokodil in der anderen Hand zu präsentieren“, schreibt der französische Mönch und Aristokrat Ferdinand de Géramb im Jahr 1833. 

    Mumien auswickeln: Zwischen Wissenschaft und Spektakel

    Erworben werden die Mumien meist auf Basaren in Ägypten oder auf Auktionen – Mumien besitzen und auswickeln kann also jede Person, die es sich leisten kann. „Die Praxis des Auspackens von Mumien war beides: öffentliches Spektakel, bei dem exotische Artefakte zur Schau gestellt und objektiviert wurden, und wissenschaftliche Untersuchung, die medizinische und historische Informationen über das Leben in der Antike liefern sollten“, erklärt die Historikerin Kathleen Sheppard.

    So beispielsweise bei einer Vorführung der britischen Anthropologin und Ägyptologin Margaret Alice Murray, die im Jahr 1908 im großen Auditorium der Universität Manchester im Namen der Wissenschaft die sogenannten Mumien von Rifeh auswickelt. Murray hat zu ihrem Vortrag Wissenschaftler*innen, Mediziner*innen sowie Expert*innen für Textilien und Linguistik geladen, die zusammen die Praxis der Mumifizierung sowie beigelegte Artefakte untersuchen sollten. 

    Margaret Murray (mit Schürze) und Flinders Petrie (links) 1908 in der Universität von Manchester Museum beim Auswickeln einer der Mumien aus Rifeh, bekannt als „die zwei Brüder“.

    Foto von Public Domain

    Doch neben dem wissenschaftlichen Interesse lockt die beiwohnenden Forschenden wohl auch der Gedanke, selbst ein Stück der Mumie besitzen zu können: „Nach der Vorführung traten die Besucher nach vorne, um ihre Namen und Adressen einzutragen und ein kostenloses Andenken an den Tag zu erhalten: ein Stück Leinen, das von der Leiche gezogen worden war“, so Sheppard. 

    Mumienpartys in Deutschland 

    Bei Mumienpartys, die von der Oberschicht oder der Aristokratie ausgerichtet werden, steht dieser Aspekt noch mehr im Vordergrund. So berichtet Theodor Fontane bereits 1883 von einer Party des Prinzen Karl Friedrich von Preußen, der vor geladenen Gästen eine auf seinem Billardtisch aufgebahrte ägyptische Mumie auswickeln lässt. Die Anekdote zeigt, dass neben der Mumie selbst – meist wird auf Herkunft, Stand, Name und Alter der Mumien wertgelegt – auch die Artefakte, die in ihr verborgen sein könnten, eine Rolle spielen. 

    Im Falle der Party Karl Friedrichs muss die Enttäuschung jedoch groß gewesen sein. „Kein Amulett, kein Schmuckgegenstand, keine Papyrusrolle fand sich an dem Leibe der heiligen Tempelmagd vor“, schreibt Fontane.

    Ägyptomanie und Kolonialismus

    Für uns wirkt sowohl die Verarbeitung der Mumien zu Mehl als auch das Auswickeln der Toten vor Publikum heute moralisch und ethisch verwerflich. Wie konnte sich die Mumienmanie in Europa also so lange halten? Dahinter steckt wohl ein Phänomen, das der Literaturtheoretiker Edward Said im Jahr 1978 mit dem Begriff Orientalismus beschrieb. Dieser meint die westliche, vor allem europäische, Sichtweise auf den sogenannten „Orient“, bei dem arabische und nordafrikanische Länder über einen Kamm geschert und mit westlicher Autorität untersucht, analysiert und beschrieben werden.

    Vor allem in der Zeit vor dem 20. Jahrhundert kommt dazu die vorherrschende Meinung, Ägypten sei unzivilisiert. „Alles, was nicht britisch war, galt als kulturell unentwickelt“, sagt die Archäologin Ilaria Patania in einem Gespräch mit den Boston University News. Gleichzeitig wird Ägypten als „mystischer“ und „andersartiger“ Ort angesehen, dessen Geheimnissen es auf den Grund zu gehen gilt – und über den vor allem die Kolonialmacht Großbritannien die Deutungshoheit haben will.

    „Durch den Konsum der ägyptischen Kultur behaupteten die Briten ihre Autorität und Kontrolle über die Nation“ schreibt auch die Historikerin Alexandra Harter in ihrem Essay Cultural Consumption, Colonialism, and Nationalism in an Egyptian Alabaster Scarab Beetle. Gleichzeitig habe die im viktorianischen England vorherrschende Faszination mit dem Tod und alles, was mit Verfall zu tun hat, ihren Teil zur Mumienmanie beigetragen: Jeder wollte ein Stück Mumie oder eine Grabbeigabe besitzen. Auch dadurch sind unzählige wertvolle Artefakte und Mumien bis heute im Besitz europäischer Museen oder Privatpersonen.

    Mehrmals versuchten die Ägypter*innen übrigens zu verhindern, dass ihre Mumien in Europa untersucht, zur Schau gestellt oder zermahlen werden. Sowohl im 16. Jahrhundert als auch im Jahr 1835 erließ die ägyptische Regierung Verbote für den Export von Mumien – ohne Erfolg. Die Menschen begannen, kreativ zu werden. Sie stopften Mumien zersägt in ihre Koffer oder schmuggelten sie anderweitig über das Meer nach Europa. Ein weiteres Zeichen dafür, wie weit die Europäer*innen in ihrer Ägyptomanie gingen, um wenigstens ein kleines Stück des Landes selbst zu besitzen.

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