Stein von Rosette – Schlüssel zum Alten Ägypten
Im 18. Jahrhundert finden französische Soldaten in Ägypten eine schmucklose Steinplatte. Keiner von ihnen ahnt, welch große Bedeutung das Artefakt für die historische Wissenschaft haben wird.
Obwohl der Stein von Rosette lediglich das Bruchstück einer größeren Steintafel ist, konnten Gelehrte anhand der Buchstaben und Symbole auf seiner Oberfläche den Code der antiken ägyptischen Schrift knacken – und dadurch viele Geheimnisse der altägyptischen Zivilisation enthüllen.
Viele große Ereignissen in der Weltgeschichte haben einen gemeinsamen Ursprung: den Zufall. Und der Zufall war auch im Spiel, als die Männer von Leutnant Pierre-François Bouchard am 19. Juli 1799 eine Entdeckung machten, die noch heute zu einer der wichtigsten aller Zeiten zählt.
Seit über einem Jahr war die Ägyptische Expedition damals in vollem Gange, ein Feldzug mit dem Ziel der Expansion des napoleonischen Reichs. Die Expeditionsarmee unter Leutnant Bouchard hatte in Rosette, einer Hafenstadt am Nildelta, in einem heruntergekommenen alten Fort Stellung bezogen, um sich auf den anstehenden Kampf gegen die Truppen des Osmanischen Reichs vorzubereiten. Bei Reparaturarbeiten rissen die Männer eine Wand ein, die aus dem Geröll einer nahegelegenen altägyptischen Stätte gebaut worden war. Im Schutt fanden sie eine Steintafel, in die drei Textblöcke in verschiedenen Schriftarten eingemeißelt waren.
Leutnant Bouchard war fasziniert von dem Fund und fragte sich, ob sich hinter jeder der drei Schriften wohl derselbe Inhalt verbarg. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, informierte er einen französischen Gelehrten, der in Ägypten auf der Suche nach archäologischen Schätzen war, über seinen Fund.
Keiner der beiden ahnte zu diesem Zeitpunkt, von welch großer Bedeutung das Fundstück sein sollte, das heute als Stein von Rosette bekannt ist. Die Buchstaben und Symbole, die sorgsam in seine dunkle Oberfläche gemeißelt sind, sollten es der Wissenschaft ermöglichen, viele Geheimnisse der altägyptischen Zivilisation zu lüften. Doch zunächst musste ihr Code geknackt werden.
Der Stein von Rosette soll 196 v. Chr. in der ptolemäischen Ära angefertigt worden sein. Das auf ihm niedergeschriebenen Dekret erklärt die Loyalität mit Pharao Ptolemaios V. Epiphanes Eucharistos, dem damaligen Herrscher Ägyptens.
Inschrift und Ursprung
Mit einer Höhe von 112,3 Zentimetern und einer Breite 75,7 Zentimetern ist die granitartige Steinplatte nur das Bruchstück einer sehr viel größeren Stele. Die Schriftblöcke auf ihr mögen nicht vollständig sein, trotzdem ist der Fund von unschätzbarem Wert. Bei der Inschrift handelt es sich um das Dekret von Memphis, in dem Ptolemaios V. Epiphanes Eucharistos geehrt wird, der 197 v. Chr. zum Pharao von Ägypten gekrönt wurde.
Die Herrschaft der ptolemäischen Dynastie wurde seit dem Tod Ptolemaios IV. durch innere Machtkämpfe und Aufstände bedroht. 204 v. Chr. kam es zu einer Revolte. Um ihre Loyalität mit dem Pharao zu bekunden, formulierte eine ägyptische Priestersynode 196 v. Chr. das sogenannte Dekret von Memphis. Der Stein von Rosette ist Teil einer Steinstele, auf der das Dekret verfasst ist – in drei Schriftblöcken in ptolemäischen Hieroglyphen, demotischer ägyptischer Schrift und altgriechischer Schrift. Identische Stelen sollten in jedem Tempel Ägyptens aufgestellt werden.
Ein Artefakt auf Reisen
An der Ägyptischen Expedition Napoleons nahmen nicht nur französische Streitkräfte teil. Im Schutz der Armee waren auch Archäologen und Historiker angereist, die sich auf der Suche nach wertvollen Artefakten über das ganze Land verteilten. Ihre Fundstücke, von denen es viele gab und zu denen auch der Stein von Rosette zählte, wollten sie nach Frankreich bringen.
Doch auch die Briten hatten inzwischen den Plan geschmiedet, Ägypten einzunehmen. Im Jahr 1801 gelang es ihnen, die französische Armee zu schlagen. Ihr wurde zwar der Rückzug ermöglicht, die altägyptischen Artefakte mussten den siegreichen Engländern jedoch zuvor ausgehändigt werden. Auf diese Weise gelangte der Stein von Rosette 1802 nach London, wo er direkt nach seiner Ankunft im British Museum ausgestellt wurde
Schon in seiner Jugend im frühen 19. Jahrhundert begann der französische Linguist und Archäologe Jean-François Champollion antike Sprachen zu lernen. Angetrieben von seiner Faszination für das Alte Ägypten, dechiffrierte er den Stein von Rosette und erforschte den Vorgang der Mumifizierung.
In Sprache und Schrift – ein Code wird entschlüsselt
Doch die Felstafel war mehr als nur ein beeindruckendes Museumsstück. Vor seiner Entdeckung hatten Sprachgelehrte sich erfolglos bemüht, die Bildschrift der Hieroglyphen zu entschlüsseln, die auf altägyptischen Artefakten zu erkennen war. Das änderte sich nun, denn dadurch, dass auf dem Stein von Rosette derselbe Inhalt in drei verschiedenen Sprachen und Schriften zu lesen war, hatten die Wissenschaftler neue Anhaltspunkte, die ihnen helfen konnten, den Code zu knacken.
Verschiedene Gelehrte aus ganz Europa stürzten sich sogleich in die Arbeit und versuchten die Inschrift auf dem Stein zu dechiffrieren. Zwei unter ihnen konnten tatsächlich Erfolge bei der Übersetzung vermelden: ein Engländer und ein Franzose.
Der britische Universalgelehrte Thomas Young, der vor allem durch seine wissenschaftliche Arbeit bekannt wurde, versuchte das Rätsel um die Schriften auf mathematische Weise zu lösen. Er übersetzte zunächst den altgriechischen Text und fuhr dann damit fort, sich zu den ptolemäischen Hieroglyphen umfassende Notizen zu machen. Diese versuchte er dann der altgriechischen Übersetzung zuzuordnen. Außerdem verglich er die Glyphen auf dem Stein von Rosette mit denen auf anderen ägyptischen Statuen. Mithilfe dieser Methode gelang es ihm, einige Zeichen zu identifizieren, die Systematik hinter der Bildung des Plurals herauszuarbeiten und sogar die Phonetik mancher Zeichen zu entschlüsseln. Doch der komplexen Grammatik, die den Hieroglyphen zugrunde liegt, kam er nicht auf die Spur.
Nach der erfolgreichen Entschlüsselung des Steins von Rosette veröffentlichte Jean-François Champollion einen Sammelband über mythologische Figuren, die in altägyptischen Hieroglyphen oft auftauchen – darunter auch der Sonnengott Re.
Sonnengott Res Tochter Saté.
Erst dem Franzosen Jean-François Champollion, der später als Begründer der Ägyptologie bekannt werden sollte, gelang es 1822, den Code des Steins von Rosette tatsächlich zu knacken. Thomas Youngs Nachteil waren seine fehlenden ägyptischen Sprachkenntnisse. Champollion hingegen beherrschte die koptische Sprache fließend und verfügte über umfangreiches Wissen über Ägypten und seine Kultur. Er fand heraus, dass die Zeichen der demotischen Schrift, die an dritter Stelle auf der Stele zu finden war, für Silben standen. Die ptolemäischen Hieroglyphen wiederum spiegelten Laute der koptischen Sprache wider.
Nach seinem großen Durchbruch soll Champollion in Ekstase in das Büro seines Bruders gerannt sein und laut „Je tiens mon affair!“ („Ich hab’s!“) gerufen haben. Dann fiel er der Erzählung nach in Ohnmacht und erholte sich erst fünf Tage später wieder.
Mithilfe des Steins von Rosette erstellte Jean-François Champollion ein Alphabet der phonetischen Hieroglyphen und gab anderen Gelehrten damit das nötige Werkzeug an die Hand, um die Inschrift vollständig zu übersetzen. Die Ergebnisse des französischen Ägyptologen wurden einige Jahrzehnte später mit dem Fund und der Untersuchung des Dekrets von Kanopus bestätigt. Wie schon das Dekret von Memphis auf dem Stein von Rosette, war auch das Dekret von Kanopus in eine Steinstele in Altgriechisch, demotischer Schrift und Hieroglyphen gemeißelt.
Das Vermächtnis des Steins von Rosette
Heute ist der Stein von Rosette so etwas wie das Fundament der Ägyptologie und gilt als eines der wichtigsten archäologischen Fundstücke. Doch das Artefakt ist auch Bestandteil der Kontroverse um Kriegsbeute und Diebstahl in der Kolonialisierungsgeschichte. Ob es von den Briten nach England gebracht oder aus Ägypten geraubt wurde, ist eine Frage der Betrachtungsweise – und die Antwort darauf ist stark davon abhängig, mit wem man spricht. In den letzten Jahren gab es viele Appelle, den Stein von Rosette den Ägyptern zurückzugeben. Doch er befindet sich nach wie vor im British Museum, wo er jedes Jahr von über sechs Millionen Besuchern betrachtet wird.
Wieso hat der schmucklose Stein von Rosette auch zwei Jahrhunderte nachdem sein Geheimnis gelüftet worden ist nach wie vor eine solche Anziehungskraft auf die Menschen? In einem Interview mit Beth Py-Liebermann für das „Smithsonian Magazine“ im Jahr 2007 sagte der Ägyptologe John Ray: „Der Stein ist der Schlüssel. Nicht nur zum alten Ägypten, sondern zur Dechiffrierung im Allgemeinen. Wir wissen, dass es einst diese großen Zivilisationen gab, doch sie sind verstummt. Indem wir den Stein von Rosette entschlüsselt haben, haben wir ihnen ihre Stimme zurückgegeben und damit große Teile der Geschichte enthüllt, die sonst verborgen geblieben wären.“
Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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