North Sentinel Island: Kontaktaufnahme mit einem isoliert lebenden Volk

Jahrhundertelang lebten die Sentinelesen abgeschirmt von der Außenwelt und wehrten sich mit Pfeil und Bogen gegen Besucher. Zweimal aber kam es zu freundlichem Kontakt – dank Säcken voller Kokosnüsse.

Von Fehmida Zakeer
Veröffentlicht am 8. Dez. 2023, 08:42 MEZ
Madhumala Chattopadhyay sitzt auf dem Sand neben einer sentinelesischen Frau und ihren Kindern.

Sechs Jahre ihres Lebens hat die Anthropologin Madhumala Chattopadhyay der Erforschung und Dokumentation der Stämme der Andamanen und Nikobaren gewidmet.

Foto von Madhumala Chattopadhyay

Jahrzehntelang war North Sentinel Island, eine abgelegene Insel im Golf von Bengalen, die zur Inselgruppe der Andamanen und Nikobaren gehört, eine Sperrzone für die Außenwelt. Als der US-amerikanische Missionar John Allen Chau auf ihr im Jahr 2018 ums Leben kam, erregte die Insel weltweit Aufmerksamkeit und die Sentinelesen – das indigene Volk, das isoliert auf North Sentinel Island lebt – waren plötzlich in aller Munde.

Im späten 20. Jahrhundert unternahm die indische Regierung, zu deren Staatsgebiet die Insel gehört, mehrere Kontaktversuche mit den Sentinelesen. Diese endeten jedoch damit, dass die Inselbewohner die ungeladenen Besucher von der Küste aus mit Pfeilen beschossen. Eine ähnliche Erfahrung machte auch die Crew, die North Sentinel Island in den Siebzigerjahren für Filmaufnahmen für eine National Geographic-Dokumentation aufsuchte. Während der Dreharbeiten wurde der Regisseur durch einen Speer verletzt.

Madhumala Chattopadhyay: mutige Anthropologin

Es gab jedoch auch freundlichen Kontakt: In den frühen Neunzigerjahren akzeptierten die Sentinelesen Kokosnüsse, die ein Team aus indischen Regierungsbeamten und Mitgliedern der Regierungsorganisation Anthropological Survey of India (AnSI) als Geschenk mitgebracht hatten.

Teil dieser erfolgreichen Expedition war auch die Anthropologin Madhumala Chattopadhyay. Seit ihrer Kindheit war es ihr Traum gewesen, alles über die Stämme der Andamanen und Nikobaren zu erfahren. Insgesamt sechs Jahre widmete sie sich im Erwachsenenalter der Erforschung dieser Völker, veröffentlichte 20 Studien zu diesem Thema und schrieb das Buch Tribes of Car Nicobar.

Luftaufnahme von North Sentinel Island.

Luftaufnahme von North Sentinel Island. Die Insel ist nur etwa 12 Kilometer lang und 10 Kilometer breit.

Foto von CC BY-SA 4.0

Die Chance, North Sentinel Island im Rahmen dieser AnSI-Expedition zu besuchen, bot sich der damaligen Doktorandin Chattopadhyay im Jahr 1991. Die Sache hatte jedoch einen Haken: Frauen waren in der Gruppe, die Kontakt mit den „feindseligen“ Inselvölkern aufnahm, eigentlich nicht erlaubt. „Ich musste eine schriftliche Erklärung abgeben, dass ich mir über alle möglichen Risiken und darüber bewusst bin, dass die Regierung im Verletzungs- oder Todesfall nicht haftet“, sagt sie. „Meine Eltern mussten das auch unterschreiben.“

Die Teilnahme wurde genehmigt und so war Chattopadhyay die erste weibliche Anthropologin, die mit den Sentinelesen in Kontakt trat. 27 Jahre später berichtet sie National Geographic von den Begegnungen.

Exotische Gastgeschenke

„Vor der Expedition im Januar 1991 waren wir alle etwas in Sorge, denn einige Monate zuvor hatte die Regierung bereits eine andere Gruppe auf die Insel geschickt, die auf bekannt feindselige Weise empfangen worden war“, sagt Chattopadhyay. Ihr eigenes Team reiste in einem kleinen Boot nach North Sentinel Island und näherte sich einem leeren Strand der Insel, hinter dem Rauch in die Luft aufstieg. Sie wurden von einer Gruppe männlicher Sentinelesen empfangen, vier davon waren mit Pfeil und Bogen bewaffnet. „Wir ließen Kokosnüsse an den Strand treiben und zu unserer Überraschung kamen einige der Sentinelesen ins Wasser, um sie einzusammeln.“

Zwei bis drei Stunden ging es so: Die indigenen Männer fischten die für sie exotischen Gastgeschenke, die auf der Insel nicht wachsen, aus dem Wasser und brachten sie an den Strand, während Frauen und Kindern in einiger Entfernung dem Schauspiel zusahen.

Trotzdem war die Gefahr eines Angriffs nicht gebannt. „Ein junger Mann im Alter von 19 oder 20 Jahren stand bei den Frauen am Strand und spannte plötzlich seinen Bogen. Ich rief ihn in Worten, die ich bei Besuchen bei anderen indigenen Stämmen der Region aufgeschnappt hatte, zu, er solle auch kommen und Kokosnüsse sammeln. Da gab ihm eine der Frauen einen Schubs und sein Pfeil fiel ins Wasser. Nachdem dieselbe Frau auf ihn eingeredet hatte, fing auch er an, Kokosnüsse einzusammeln“, sagt sie.

„Später kamen einige Stammesangehörige näher, um unser Boot zu berühren. Diese Geste interpretierten wir so, dass sie nun keine Angst mehr vor uns hatten.“ Das AnSi-Team kam an Land, doch die Sentinelesen machten keine Anstalten, die Forschenden zu ihrer Siedlung zu führen.

BELIEBT

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    Die Forschenden übergeben am Strand Kokosnüsse an die Bewohner der Insel.

    Die zwei North Sentinel Island-Expeditionen, an denen Madhumala Chattopadhyay im Jahr 1991 teilnahm, gelten als die beiden einzigen freundlichen Begegnungen zwischen Sentinelesen und der Außenwelt.

    Foto von Madhumala Chattopadhyay

    Fehlverhalten beendet Expedition

    Einen Monat später kehrte Chattopadhyay mit einem größeren Team zur Insel zurück. „Wir waren mehr Leute, weil die Regierung wollte, dass die Sentinelesen alle Mitarbeitenden kennenlernen“, sagt sie. „Sie beobachteten, wie wir uns näherten, und empfingen uns unbewaffnet.“

    Doch dieses Mal reichte es den Indigenen nicht, Kokosnüsse aus dem Wasser zu fischen. Stattdessen kletterten sie in das Expeditionsboot und schnappten sich ganze Säcke. „Sie versuchten sogar, das Gewehr eines Polizisten mitzunehmen, das sie für ein Stück Metall hielten.“

    Die Kontaktaufnahme brach jäh ab, als ein Expeditionsmitglied nach einem Schmuckstück aus Blättern griff, das ein Sentinelese trug. „Das verärgerte den Mann und er zückte ein Messer. Er gab uns zu verstehen, dass wir die Insel sofort verlassen sollten – und das taten wir“, so Chattopadhyay.

    Ein dritter Ausflug nach North Sentinel Island blieb aufgrund des schlechten Wetters erfolglos. „Es war niemand am Strand”, sagt Chattopadhyay. Danach beschloss die Regierung, die Besuche bei den Sentinelesen zu reduzieren, um sie vor der Ansteckung mit eingeschleppten Krankheiten zu schützen, gegen die sie vermutlich keine Abwehrkräfte besaßen.

    Borkum aus der Luft

    Chattopadhyay, die bald danach eine Stelle beim indischen Ministry of Social Justice and Empowerment annahm, hat kein Interesse daran, noch einmal nach North Sentinel Island zu reisen. „Die Sentinelesen lebten Jahrhunderte ohne irgendwelche Schwierigkeiten auf der Insel. Die Probleme fingen erst an, als sie mit der Außenwelt in Kontakt kamen“, sagt sie. „Sie brauchen unseren Schutz nicht. Das Beste, was wir für sie tun können, ist, sie in Ruhe zu lassen.“

    Mehr über die Sentinelesen und  die gescheiterte Kontaktaufnahme  des Missionars gibt es National Geographics „The Mission – Zwischen Glaube und Wahnsinn“ am 12.12.2023 um 21:45. National Geographic und National Geographic WILD empfangt ihr über unseren Partner Vodafone im GigaTV Paket.

     

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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