Panierter Biberschwanz mit Kiebitzeiern: Deutsche Küche im 19. Jahrhundert

Gebratene Bärentatzen, Pfau im Federkleid – was ein altes Kochbuch über die deutsche Esskultur und den Aufstieg der bürgerlichen Küche ab 1850 verrät.

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 19. Dez. 2024, 10:20 MEZ
Bürgerliches Familienleben vor 180 Jahren (Ausschnitt des Gemäldes „Das Wohnzimmer des Schlossermeisters Hauschild“ von Eduard Gaertner, ...

Bürgerliches Familienleben vor 180 Jahren (Ausschnitt des Gemäldes „Das Wohnzimmer des Schlossermeisters Hauschild“ von Eduard Gaertner, 1843).

Gemäldeausschnitt Gemeinfrei

Wer heute nach der Arbeit noch schnell in den Supermarkt springt, um ein Netz Avocados aus Südamerika oder eine Flasche Sojasoße aus Japan zu ergattern, kann sich sicher nur schwer vorstellen, wie sich die Menschen im 19. Jahrhundert ernährten. 

Der Großteil der deutschen Bevölkerung lebte auf dem Land. Auf dem Speiseplan standen vor allem Kartoffeln, Brot, Kohl und Hülsenfrüchte. Die meisten Lebensmittel kamen aus der Region und waren nur saisonal verfügbar. Jede Missernte war eine Katastrophe. Die letzte große Hungersnot erlebte Deutschland 1845 bis 1847. Und so war die Esskultur stark vom gesellschaftlichen Stand geprägt. 

Eintöpfe gehörten zum Ernährungsalltag auf dem Land und in der Stadt. Kein Wunder: Gekocht wurde meist auf offenen Feuerstellen oder einfachen Holz- oder Kohleherden. Gasherde gab es erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zeitgleich mit dem Ausbau der städtischen Gasversorgung.

Und weil sich der Kühlschrank erst viel später – in den 1950er Jahren – etablierte, musste man verderbliche Speisen durch Trocknen, Einlegen, Pökeln oder Räuchern haltbar machen. Sauerkraut, Rollmops, Speck: Hätte es schon immer Kühlmöglichkeiten gegeben, wären manche Speisen womöglich gar nicht erfunden worden.

Warum das Kochen für die menschliche Evolution so wichtig war
Das Garen von Speisen hatte für die körperliche und soziale Entwicklung der Menschheit eine enorme Bedeutung. Szenen aus Origins.

Aufstieg der bürgerlichen Küche

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte Deutschland tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Veränderungen: Die Industrialisierung schritt unaufhaltsam voran. Während die Arbeiterschaft in Fabriken und Bergwerken oft unter oft katastrophalen Bedingungen schuftete, zählte das Bürgertum zu den Gewinnern der Umwälzungen. 

Mit dem Entstehen einer wohlhabenderen Mittelschicht wurde die Küche vielfältiger – zumindest für diejenigen Menschen, die es sich leisten konnten. Zu jener Zeit entstand die bürgerliche Küche. Sie wollte weder aristokratisch noch bäuerlich sein, weder Haute Cousine noch Arme-Leute-Küche. Sie war ganz auf die Familie ausgerichtet, die sich zu gemeinsamen Mahlzeiten bevorzugt mittags am Tisch einfand. 

Sofern man sich keine Bediensteten leistete, war die Hausherrin fürs Kochen zuständig. Und weil sie in der Regel keine professionelle Köchin war, entstand ein Bedarf an detaillierten Anleitungen, woraus eine neue Art von Kochbüchern hervorging. Beispielhaft dafür steht das „Praktische Kochbuch“ von Henriette Davidis, das erstmals 1845 erschien. Heute gilt es nicht nur als Standardwerk der bürgerlichen Küche im 19. Jahrhundert, sondern auch als historisches Dokument der deutschen Alltagskultur. 

BELIEBT

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    Die Kochbuchautorin Henriette Davidis um 1860

    Henriette Davidis um 1860

    Foto Gemeinfrei

    Henriette Davidis: Deutschlands erste Starköchin

    Henriette Davidis (1801–1876) wurde im westfälischen Wengern an der Ruhr geboren und arbeitete zunächst als Hauswirtschaftslehrerin. Ihr Lebenswerk, das „Praktische Kochbuch“, wurde bald ein Bestseller. Es bot unzählige leicht verständliche Kochanleitungen, ergänzt durch praktische Tipps für Haushalt, Vorratshaltung und gesellschaftliche Etikette. Damit war es mehr als ein Kochbuch. Davidis schrieb es als umfassenden Bildungsratgeber für Mädchen und Frauen. 

    Davidis muss Köchin mit Leib und Seele gewesenen sein, schreibt sie doch in der Einleitung: „Wichtiger als alle schönen Künste ist für das Wohl der Familie die lange als Stiefschwester betrachtete und behandelte Kochkunst, die erst in neuerer Zeit wieder anfängt zu Ehren zu kommen.“ 

    Das Kochbuch listet hunderte Rezepte: von Aal (aufgerollt) bis Zwiebeln (geschmorte). Einige, darunter der Apple Pie oder ein grüner Salat mit essbaren Blüten könnten in ähnlicher Form auch in aktuellen Kochbüchern stehen. „Kartoffelmuscheln“ kennt man als Gnocchi.

    Darstellung in einer bürgerlichen Wohnung in Berlin um 1850 („Zimmerbild“ von Eduard Gaertner, 1849)

    Darstellung in einer bürgerlichen Wohnung in Berlin um 1850 („Zimmerbild“ von Eduard Gaertner, 1849)

    Gemälde Gemeinfrei

    Traniger Fischreiher

    Andere Rezepte dagegen wirken heute recht skurril. Da ist zum Beispiel der panierte Biberschwanz – laut Davidis „eine große Delikatesse“. Die Zubereitung ist einfach: „Man schuppt den Schwanz ab, kocht ihn in Essig, Wasser und etwas Salz weich und wendet ihn alsdann in zerquirltem Eigelb und geriebenem Zwieback. Dann begießt man ihn mit Butter, brät ihn auf dem Roste braun und serviert ihn mit Zitronenscheiben.“ 

    Auf ähnliche Art bereitete Davidis Bärentatzen zu – auch wenn es dazu wahrscheinlich Fleischimporte aus „Siebenbürgen und Russland“ brauchte, wie sie erklärte. Für einen ganzen Bärenbraten empfahl sie das komplette Hinterviertel eines Jungtiers. 

    Als wohlschmeckender Hingucker galt gegarter Pfau im Federkleid. Vom Fischreiher hingegen sei „nur die Brust brauchbar und sehr wohlschmeckend, das übrige tranig“. Ähnlich verhalte es sich mit gebratenem Fischotter, der einen „strengen Beigeschmack“ habe, wenngleich er „hin und wieder aber als Fastenspeise“ gegessen werde. 

    Das Praktische Kochbuch in der 32. Auflage von 1907, weitergeführt von Luise Holle

    Das Praktische Kochbuch in der 32. Auflage von 1907, weitergeführt von Luise Holle 

    Foto Gemeinfrei

    Küchenhygiene an erster Stelle

    Mit akribischer Sorgfalt widmete Davidis sich unterschiedlichsten Zutaten und Zubereitungsarten. Gemüse spielte dabei eher eine Nebenrolle. Insgesamt repräsentieren ihre Rezepte nicht nur die unterschiedlichen Bedürfnisse und Vorlieben ärmerer und wohlhabenderer Gesellschaftsschichten des aufstrebenden Bürgertums. Sie zeigen auch: Gegessen wurde, was Felder, Wald und Wasser hergaben. Natur- und Artenschutz waren damals so gut wie unbekannt.

    Das Speiseangebot schwankte je nach Region und Saison. Man sammelte Kiebitzeier, kaufte der Frische wegen bevorzugt lebendes Geflügel und erfreute sich am „vorzüglichen Rheinlachs“, der allerdings wenige Jahrzehnte später im Zuge der Gewässerverschmutzung komplett aus dem Rhein verschwunden war.

    Wie wichtig Davidis bei alledem die Küchenhygiene war – Kühlschränke gab es ja noch nicht – wird im Kapitel über die Fischzubereitung deutlich: „Alle Fluss- und ungesalzenen Fische müssen ganz frisch zubereitet werden, weil sie bald den Geschmack verändern und dann Ekel erregen und der Gesundheit höchst nachteilig sind.“ 

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