Arbeiter testen eine der 15 Notluken der Polarstation. Als dieses Bild 1962 in der Mai-Ausgabe des ...

Kalter Krieg: Geheimes Atomprojekt unter Grönlands Gletschern

Vor über 60 Jahren baute die US-Armee eine Militärbasis in der Arktis. Der wahre Zweck von Camp Century wurde unter Verschluss gehalten – bis heute. Von nuklearen Experimenten, verborgenen Tunneln und inoffiziellen Forschungsprojekten.

Arbeiter testen eine der 15 Notluken der Polarstation. Als dieses Bild 1962 in der Mai-Ausgabe des National Geographic erschien, wurde Camp Century als technisches Wunderwerk gefeiert. Sein wahrer Zweck blieb jedoch ein Geheimnis.

Foto von W. Robert Moore, Nat Geo Image Collection
Von Neil Shea
Veröffentlicht am 17. März 2025, 08:38 MEZ

An einem bitterkalten Tag im Oktober 1960 trifft ein Team von Technikern der US-Armee die letzten Vorbereitungen, um in einem Gletscher in Grönland einen Kernreaktor in Betrieb zu nehmen.

Dieser ist eher ein Provisorium, winzig klein und wackelig. Die Energiegewinnung aus Atomkraft befindet sich noch in ihrer Anfangsphase. Trotzdem wissen die Männer, dass schon eine geringe Menge Strahlung den Tod bedeuten kann. Sie sind umgeben von Wänden aus glitzerndem Schnee, der das Licht ihrer Lampen schluckt und ihre Stimmen und das Klicken der Geigerzähler dämpft. Über ihren Köpfen biegt sich eine Decke aus Wellblech. Unter ihren Füßen befindet sich eine kilometerdicke Eisfläche, die sich im Pleistozän gebildet hat.

Die Männer, die im Bauch des Gletschers mit der Inbetriebnahme des Reaktors kämpfen, stellen ein perfektes Bindeglied zwischen Eiszeit und Atomzeitalter dar. Niemand hat jemals zuvor das getan, was sie hier versuchen. Und niemand wird es ihnen jemals nachmachen.

Als die Kettenreaktion schließlich anläuft, erfüllt eine Welle der Erleichterung – und der ein oder andere unterdrückte Siegesschrei – den nahen Kontrollraum. Doch schon nach wenigen Minuten fahren die Techniker den Reaktor hektisch wieder runter. In der Tiefe des Eises gibt es ein Leck. Radioaktive Neutronen strömen in die Dunkelheit.

Beim Tunnelbau am Polarkreis kam mit der offenen Bauweise die älteste bekannte Tunnelbaumethode zum Einsatz. Der ...

Beim Tunnelbau am Polarkreis kam mit der offenen Bauweise die älteste bekannte Tunnelbaumethode zum Einsatz. Der zuvor ausgehobene Schnee wurde auf der Metalldecke über dem Graben wieder aufgeschichtet.

Foto von U.S. Army Corps of Engineers

Top secret: Das Project Iceworm

Die ausgefeilte Konstruktion einer Militärbasis unter dem Eis sollte allen zeigen, dass die USA dazu in der Lage sind, auch unter den widrigsten Umständen und in den unwirtlichsten Umgebungen Orte des Überlebens zu erschaffen. Der Außenposten mit dem Namen Camp Century bot 200 Personen Platz und wurde der Welt als Beweis für den amerikanischen Erfindergeist präsentiert: Die erste atomkraftbetriebene Militärbasis in einem Gletscher war sowohl ein technisches Meisterwerk als auch ein Sieg über die Elemente – ein wissenschaftlicher und zivilisatorischer Triumph in der Einöde des Polarkreises.

Nach der Inbetriebnahme von Camp Century schickten Zeitungen und Magazine – darunter auch National Geographic – ihre Reporter in die Arktis. In der Militärbasis angekommen, spazierten sie durch das Labyrinth aus Tunneln, beleuchtet mit Atomstrom. Das Leck am Reaktor war inzwischen mit Bleiziegeln und erfinderischer Ingenieurskunst gestopft worden. Was man den Journalisten – und auch den meisten der stationierten Soldaten – nicht offenbarte, war, dass es sich bei Camp Century um ein geheimes Militärprojekt des Kalten Kriegs handelte. Sogar gegenüber der dänischen Regierung Grönlands wurde dieser Umstand über Jahrzehnte unter Verschluss gehalten.

Tatsächlich verfolgte die US-Regierung nämlich nur am Rande das Ziel der Weiterentwicklung portabler Lösungen zur Gewinnung von Kernenergie. Ihr eigentlicher Plan war der Bau einer weitläufigen Raketenbasis am Polarkreis. Laut jetzt veröffentlichter Dokumente erkannte die Armee die „einzigartige Anpassbarkeit“ des Gebiets für den Einsatz von Nuklearwaffen. Es lag abgelegen in der Nähe von Russland und war schwer anzugreifen. Der Plan mit dem Namen Project Iceworm sah vor, die Tunnel in und rund um Camp Century durch ein Schienennetz zu verbinden, auf dem bis zu 600 Atomraketen aufbewahrt und transportiert werden sollten. Mit diesen hätte Russland im Kriegsfall über den Nordpol hinweg beschossen werden können.

Heute ist von der ehrgeizigen Militäroperation nichts mehr übrig. Die US-Armee hat Camp Century vor langer Zeit aufgegeben, die Tunnel sind unter den Schneemassen eingestürzt und wurden vom Eis verschluckt. Doch ein kurioses Vermächtnis ist geblieben – in Form von Glasbehältern, die über Jahrzehnte tiefgekühlt aufbewahrt und vergessen worden waren. Ihre Inhalte wurden im Rahmen eines unangemeldeten Forschungsprojekts zu Tage gefördert. Heutigen Forschenden erlauben sie einen beunruhigenden Ausblick auf die Zukunft, die uns im Zuge des Klimawandels erwarten könnte.

BELIEBT

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    2024 machte die NASA während eines Flugs über das grönländische Eisschild zufällig diese Aufnahme der ehemaligen Militärbasis.

    Foto von Composite Michala Garrison, Jesse Allen, Chad Greene, NASA Earth Observatory

    Langeweile in der Einöde der Arktis

    Sieben Jahre lang wurde die Militärbasis aktiv genutzt. Die im Camp Century stationierten Männer arbeiteten und lebten in extremer Isolation. Der nächstgelegene Ort der menschlichen Zivilisation, die Air Force-Basis Thule, lag über 200 Kilometer entfernt. Nahrungsmittel, Treibstoff und Geräte wurden auf Schlitten in langen Konvois ins Camp transportiert, ebenso wie Personen.

    Der heute 80-jährige Austin Kovacs, der sich als Techniker der US-Armee mehrere Male im Camp Century aufgehalten hat, erinnert sich, dass die Reise selbst unter besten Bedingungen viele Stunden dauerte. Kam es zu Blizzards oder Whiteouts, bei denen starker Schneefall die Sicht behindert, war man teilweise mehrere Tage unterwegs. Manchmal verirrten sich die Konvois auch in der endlosen Arktis.

    Laut Kovacs war aber nicht dies die größte Herausforderung, sondern die Langeweile im Camp. „Manche Leute dachten, es wäre dort gefährlich – aber das war es überhaupt nicht“, sagt er. „Die Atmosphäre war entspannt, aber es konnte sehr, sehr monoton sein.“

    Leben und Arbeiten im Eis: Alltag im Camp Century

    Die Männer wohnten in den Tunneln in Fertigbaubarracken. Kovacs Arbeitsplatz war der Trench 33. Hier untersuchte er, welche Fundamente nötig waren, um große Gebäude auf dem Eis errichten zu können. Es gab kein Sonnenlicht, kein Vogelgezwitscher, keinen Wind. Einmal in der Woche war Filmabend im Camp-Kino. Eine Bibliothek bot eine bescheidene Auswahl an Büchern. Man wusch und rasierte sich im Gemeinschaftsbad, die Mahlzeiten wurden im hellen Speisesaal eingenommen. Jede Art von Abfällen – Hausmüll, Abwasser, Industriechemikalien und sogar das radioaktive Kühlwasser – wurde einfach im Gletscher abgeladen und froren dort ein.

    Trinkwasser bezog die Basisbesatzung aus einem Brunnen im Gletscher. Als Kovacs und seine Kameraden auf der Suche nach einem Abenteuer waren, seilten sie sich an einem Stahlseil im klaustrophobisch engen Schacht ab. In der absoluten Dunkelheit zu hängen, war ein besonderer Nervenkitzel.

    Fachleute überwachen eine Schalttafel für den Kernreaktor von Camp Century. Die Wärme und das Licht, das ...

    Fachleute überwachen eine Schalttafel für den Kernreaktor von Camp Century. Die Wärme und das Licht, das er erzeugte, hätten für die Versorgung von mehr als 500 durchschnittlichen US-amerikanischen Haushalten ausgereicht – eine enorme Ersparnis im Vergleich zum Transport von Brennstoff in den abgelegenen Außenposten.

    Foto von W. Robert Moore, Nat Geo Image Collection
    Untergebracht waren die Männer in 22 Baracken in Fertigbauweise, die erhöht auf Holzplattformen in den Tunneln ...

    Untergebracht waren die Männer in 22 Baracken in Fertigbauweise, die erhöht auf Holzplattformen in den Tunneln standen, um ein Schmelzen des Eises darunter zu verhindern. Jede der warmen, gut beleuchteten Unterkünfte hatte einen eigenen Aufenthaltsbereich und wurde regelmäßig vom inoffiziellen Maskottchen des Lagers, einem Schlittenhund namens Mukluk, besucht.

    Foto von W. Robert Moore, Nat Geo Image Collection

    Jeden Morgen wachte Kovacs zu den Klängen eines Liedes auf. Eine Frauenstimme, die aus den Lautsprechern des Camps schallte. „Es war damals ein beliebter Song“, sagt er. „Aber nach einer Weile, nach Wochen und Wochen, wurde es mir zu viel – ich wollte einfach nur, dass sie ruhig ist.“ Seitdem ist viel Zeit vergangen und Kovacs kann sich weder an den Namen des Liedes noch den der Sängerin erinnern. Er weiß nur noch, wie die Musik durch die Dunkelheit schallte. „Ich wünschte, ich wüsste noch, wie sie hieß.“

    Bahnbrechende Forschung durch Zufall

    Während Kovacs mit seiner Forschung beschäftigt war, warteten andere Männer den Reaktor oder untersuchten die Bewegungen des Schnees. In den Tiefen des Camps bohrte ein Team ein Loch ins Eis. Im Jahr 1966, nach mehreren Jahren Arbeit, hatten sie den Grund des Gletschers und die Erdoberfläche von Grönland erreicht. Über 1.200 Meter hatten sie sich vorgearbeitet und dabei den ersten Eisbohrkern aus einem Eisschild extrahiert. Aus einer Laune heraus bohrten sie weiter und sammelten dabei einen 3,5 Meter langen Bohrkern aus uraltem, gefrorenem Boden. Sie hörten erst auf, als ein Bohrlager den Geist aufgab.

    Diese Bodenproben, mit der damals niemand etwas anzufangen wusste, sollten eines der wichtigsten Vermächtnisse von Camp Century werden. Nach der Stilllegung der Militärbasis lagerten sie zunächst tiefgekühlt in Buffalo im Bundesstaat New York. Dann wurden sie nach Dänemark gebracht. Nichts deutete zu diesem Zeitpunkt auf die bahnbrechenden Erkenntnisse hin, die in ihnen schlummerten – auch weil das nötige Werkzeug fehlte, um sie ihnen zu entlocken. Erst im Jahr 2019 begannen der Geowissenschaftler Paul Biermann von der University of Vermont und seine Kolleg*innen damit, die Bohrkerne zu erforschen.  

    Was sie herausfanden, stellte alles, was man zuvor über das einstige Klima von Grönland zu wissen geglaubt hatte, auf den Kopf – und lässt Schlüsse auf zukünftige klimatische Bedingungen auf der Erde zu. Denn in den Proben fand das Forschungsteam Reste von Blättern, Zweigen, Moosen und sogar Insekten. Diese stammen wahrscheinlich aus einer Zeit, als das Gebiet eisfrei war. „Wir können viel über die Eisschilde lernen“, sagt Biermann. „Allerdings nicht, indem wir das Eis untersuchen, sondern indem wir das erforschen, was darunter liegt.“

    Bodenproben erlauben Blick in die Zukunft

    Aufgrund der Bodenproben musste die bisherige Annahme, dass Grönlands Eiskappe mehrere Millionen Jahre alt ist, revidiert werden. Gemeinsam mit einem Dutzend anderer Forschenden konnte Biermann belegen, dass sie tatsächlich bedeutend jünger ist, als sich irgendjemand hätte vorstellen können. Wie die Untersuchung des Bodens ergab, war Grönland noch vor rund 400.000 Jahren eisfrei. Damals war es in dem Gebiet etwas wärmer und der Meeresspiegel wesentlich höher als heute.

    Biermann zufolge lässt sich aus den Daten ableiten, wie eine Zukunft aussehen könnte, in der Abermilliarden Liter Süßwasser, die derzeit noch in der grönländischen Eiskappe eingeschlossen sind, schmelzen und in den Ozean fließen. Wenn das passiert, wären die Effekte überall auf der Welt spürbar. Küstengebiete und -städte würden von den Meeren verschluckt, Milliarden von Menschen zu Klimaflüchtenden werden.

    „Es ist leicht, über Grönland zu sagen: ‚Ach, das ist ja nur die Arktis, die geht mich nichts an‘“, sagt Biermann. Doch die Bodenprobe aus Camp Century stehe in direkter Verbindung zu den drängenden Problemen unserer Zeit. „Vom Jahr 1966 über den globalen Klimawandel zum Schmelzen der Eiskappe Grönlands – das ist bedeutsam.“

    Während die US-Armee im Geheimen die nukleare Mission des Lagers vorantrieb, sammelten Forschende im Camp Century ...

    Während die US-Armee im Geheimen die nukleare Mission des Lagers vorantrieb, sammelten Forschende im Camp Century Proben des Eises und des darunter liegenden Bodens. Die wiederentdeckten Bohrkerne werfen ein neues Licht auf den Klimawandel.

    Foto von U.S. Army Corps of Engineers

    US-Militärbasis vom Eis verschluckt

    Project Iceworm war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Über ihre Ambitionen im Kalten Krieg vergaß die Armee völlig, dass sie ihre Tunnel quasi in lebendiges Material gruben. Gletscher verschieben sich, sie schrumpfen und wachsen und gleiten. Eine Struktur, die in einer solchen Umgebung erbaut wird, ist nicht nur instabil, sondern erfordert auch ein hohes Maß an Wartung. Durch die Bewegungen des Eises bestand das Risiko, dass sich Stahlschienen verbiegen und darauf lagernde Atomraketen umfallen – und auch der Reaktor war gefährdet.

    In den engen Tunneln kämpften Arbeiter mit Kettensägen gegen den eindringenden Schnee. Doch schließlich blieb der Armee nichts anderes übrig, als sich einzugestehen, dass die ganze Sache eine schlechte Idee gewesen war. Im Jahr 1963 wurde der Atomreaktor heruntergefahren, drei Jahre später war Camp Century Geschichte.

    Als Kovacs 1969 für spätere Untersuchungen in die Militärbasis zurückkehrte, fand er nur noch eine Ruine vor. Die Fotos, die er damals machte, bilden ein Minenunglück in Zeitlupe ab: Schnee, der in Tunnel gerutscht ist, Stahlkonstruktionen, die in sich zusammengefallen sind, Holzbalken, die wie Knochen gesplittert sind. Die Aufnahmen dokumentieren das so mächtige wie unsichtbare Gewicht des Gletschers. Die Menschen hatten den Ort erst vor relativ kurzer Zeit verlassen und doch war das unausweichliche Schicksal dieses Experiments bereits deutlich sichtbar: Seine Reste würden vom Eis zerstört und auf alle Ewigkeit verschluckt werden.

    Nachdem es länger als ein halbes Jahrhundert in Vergessenheit geraten war, ist Camp Century heute ein Paradebeispiel für den Exzess des Kalten Kriegs und erinnert an Zeiten, in denen man vor wahnwitzigen Projekten nicht zurückscheute. „Man muss sich all die Energie und die Ressourcen vor Augen führen, die in diese Sache investiert wurden“, sagt Biermann. „Diese Tunnel zu bauen, Soldaten dorthin zu bringen – das ist Science Fiction.“ Heute käme wohl niemand auf die Idee, so einen Plan in die Tat umzusetzen.

    Bei aller Tollkühnheit hätten sich die Erbauer von Camp Century vermutlich nicht träumen lassen, dass sein Vermächtnis letztlich in der Forschung liegen würde, die dort betrieben wurde – mit dem einzigen Ziel, vom wahren Zweck der Militärbasis abzulenken. Forschende wie Biermann sind froh über diese ironische Wendung. „Vor allem, wenn man sich bewusst macht, dass diese Männer, die 1966 die Bohrung durchgeführt haben, keine Ahnung hatten, wofür sie einmal gut sein würde“, sagt er. „Sie waren sich des Werts ihrer Arbeit nicht im Geringsten bewusst – und sie haben trotzdem weitergemacht.“

     

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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