Der gefährlichste Tauchgang der Welt

Die sogenannten Blauen Löcher der Bahamas gehören zu den kaum erforschten Ökosystemen.

Von Andrew Todhunter
Foto von Wes C. Skiles

Wir tauchen in den Schacht hinab und lassen unsere Lampen durch die Leere wandern. In dieser Höhle namens „Stargate“ tref­fen wir 15 Meter unterhalb der Wasseroberfläche auf einen bläss­lichen Dunst. Er erinnert an ein silbriges Gespinst aus Spinnweben. Es ist eine Schicht aus Schwefelwasserstoff: ein giftiges Gas, das von Bakterienkolonien und verwesender organischer Materie abgesondert wird. Wenn Taucher in dieses Gas hineingeraten, erleben sie möglicherweise ein Hautjucken, Kribbeln oder Schwindelgefühl. Manche neh­men auch den Geruch fauler Eier wahr, da der Schwefelwasserstoff durch die Haut in den Kör­per eindringt und über die Lungen wieder abgebaut wird. Zunächst ist die Gasdichte rela­tiv niedrig, aber als wir tiefer gehen, wird mir erst einmal kurz übel.

Ich werfe einen Blick hinüber zu meinem Tauchführer Brian Kakuk. Er ist einer der besten Höhlentaucher der Welt, und ihm scheint das Gas nichts auszumachen. Doch in meinem Kopf beginnt es zu pochen, ich reagiere offenbar un­gewöhnlich empfindlich auf das Gift. Dieser rätselhafte Dunst scheint wie ein Trennvorhang zu wirken, der Eindringlinge von den tieferen Regionen der Höhle fernhält. Blue Holes – Blaue Löcher – gibt es im Meer und an Land. Die Meereshöhlen sind mit dem Ozean verbunden, und drinnen wie draußen zeigt sich die Wirkung der Gezeiten. Hier wie dort findet man auch die gleichen Tierarten. Blue Holes an Land hingegen sind dank ihrer Geologie und der chemischen Beschaffenheit des Wassers absolut einzigartige Lebensräume. Der geringere Wasseraustausch führt in solchen überfluteten Landhöhlen wie „Stargate“ auf der Bahamasinsel Andros zu scharf voneinander abgegrenzten Wasserschichten.

Eine Schicht Süßwasser, vom Regen gespeist, liegt auf einer dichteren Schicht Salzwasser. Das Süßwasser isoliert wie ein Deckel das Salzwasser vom Sauerstoff in der Atmosphäre und verhindert, dass Bakterien die organischen Stoffe zersetzen. Die Bakterien in der darunterliegen­den Salzwasserschicht überleben, indem sie das darin gelöste Sulfat zerlegen; bei diesem Vor­gang produzieren sie Schwefelwasserstoff.

An Land kennt man diese Substanz als Be­standteil von Sumpf- oder Faulgas. Schwefelwasserstoff kann in höheren Dosen geistige Verwirrung oder gar den Tod verursachen. Als lebende Laboratorien sind Blue Holes das wis­senschaftliche Äquivalent zu Tutanchamuns Grab. Für Taucher eine ebenso große Heraus­forderung wie für Bergsteiger der K2 oder der Mount Everest. Ihre Erkundung setzt viel Erfah­rung und ein hoch spezialisiertes Training vor­aus. Höhlentaucher stehen noch stärker als Alpinisten unter extremem Zeitdruck. Falls etwas schiefgeht, sie das Problem nicht lösen können und den Weg zurück zum Höhleneingang nicht schaffen, bevor ihnen die Atemluft ausgeht, ist ihr Leben in Gefahr.

Nur eine Handvoll Wissenschaftler hatte sich bis Mitte des vergangenen Jahres in die Blue Holes hinabgewagt. Doch im Sommer und Herbst 2009 untersuchte ein interdisziplinäres Team von Höhlentauchern und Forschern zwei Monate lang die Höhlen von Andros, Abaco und fünf weiteren Inseln der Bahamas.

Die „Bahamas Blue Hole Expedition“ wurde gemeinsam von der National Geographic Society und dem Nationalmuseum der Bahamas finanziert. Der erfahrene Höhlenforscher Kenny Broad, der die Tauchexpedition konzipiert hatte, übernahm die Leitung der Gruppe. Verantwort­lich für die Sicherheit war Brian Kakuk. Der Höhlenforscher Wes Skiles begleitete die Gruppe als Fotograf und Kameramann.

Die Expeditionsteilnehmer unternahmen rund 150 Tauchgänge in Dutzenden von Blue Holes. Die gesammelten Daten vertiefen unsere Kenntnisse in unterschiedlichen Disziplinen: von der Geologie und der Chemie der Gewässer über die Biologie, Paläontologie , Archäologie bis zur Astrobiologie, der Suche nach Leben im Weltall .

Dass es nun zu dieser Expedition kam, hat viele Gründe. Falls der Meeresspiegel tatsächlich in den kommenden hundert Jahren bis zu einem Meter ansteigen sollte, werden viele Höhlen im Binnenland in wenigen Jahrzehnten mit Meer­wasser volllaufen. Ihre empfindliche chemische Balance würde gestört werden und ihr großer Wert für die Wissenschaft verloren gehen. Zu­dem werden Blue Holes heute oft als Müllkippen missbraucht. Dadurch könnte den Inseln die wichtigste natürliche Süßwasserquelle abhan­denkommen. «Die Welt der Tiefe hat große Be­deutung», sagt Kenny Broad. «Aber für die meis­ten Menschen bleibt sie unsichtbar – deshalb hat ihr Schutz keine Priorität.» Sein Team hat es sich daher auch zum Ziel gesetzt, die Bedeutung der Blue Holes und deren Bedrohtheit in der Öffentlichkeit besser bekannt zu machen. Für die Menschen liegt es auf der Hand, dass zum Leben Sauerstoff erforderlich ist. Aber auch bevor es dieses Gas gab, bevölkerten mehr als eine Milliarde Jahre lang Lebewesen unsere Erde.

Die sogenannte Sauerstoffrevolution kam durch Bakterien in Gang, die dieses Element nur als „Abfallprodukt“ herstellten. Die Astrobiolo­gin Jenn Macalady erforscht die chemische Zu­sammensetzung des Wassers in den Blue Holes der Bahamas. Sie kann dort Bedingungen un­tersuchen, die den frühesten, noch sauerstofflosen Lebensumständen sehr ähnlich sind. Sie interessiert sich besonders für den Zeitraum, der vor vier Milliarden Jahren mit den ersten Le­bensformen begann und vor 2,5 Milliarden Jah­ren zur Sauerstoffrevolution führte. Die Erfor­schung der Bakterien in den sauerstofflosen Gewässern der Blue Holes erlaubt auch Rück­schlüsse, welche Lebensformen auf fernen Pla­neten existieren könnten, auf denen es flüssiges Wasser, aber keinen freien Sauerstoff gibt.

«Überall im Universum gibt es vermutlich dieselben Elemente», sagt Macalady. «Auch be­wohnbare Planeten werden in vielerlei Hinsicht ähnlich sein: Es wird dort eine für Lebewesen erträgliche Temperaturspanne und Wasser geben.» Viele Astrobiologen halten es für möglich, dass solche Bedingungen in Wassereinschlüssen tief unter der Oberfläche des Mars oder unter der gefrorenen Kruste des Jupitermonds Europa existieren könnten – ganz zu schweigen von Lichtjahre entfernten Welten, die unserer Erde womöglich noch ähnlicher sind.

Macalady untersucht die Wahrscheinlichkeit von Leben auf fernen Planeten. Obwohl sie aktive Höhlenforscherin ist, taucht sie selber nicht, sondern weist das Team der Taucher nur an, Wasser-, Bakterien- und Schwefelwasserstoff­proben zwischen der Oberfläche und Tiefen bis zu 80 Metern zu nehmen. Die meisten ihrer Forschungen – DNA-Tests, Bakterienkulturen sowie die Suche nach molekularen Fossilien – müssen warten, bis sie wieder ihr Labor zur Ver­fügung hat. Schwefelwasserstoff aber ist zu instabil, um transportiert zu werden, deshalb untersucht sie den Schwefelgehalt in den unter­schiedlichen Wassertiefen mit einem tragbaren Spektrometer direkt an der Tauchstelle. Auf diese Weise findet sie heraus, wo sich die verschiede­nen Bakterienarten konzentrieren – und mit welchen Mechanismen sie ihr Überleben sichern.

«Damit ihr euch vorstellen könnt, wie einzig­artig jedes dieser Löcher ist, haben wir die DNA von Mikroben aus fünf Blue Holes im Binnen­land analysiert», sagt Macalady: «Keine Art, die wir fanden, kam in einer zweiten Höhle vor!» Sie ist immer wieder überrascht, mit wievielen ver­schiedenen Methoden Höhlenorganismen sich mit Energie versorgen. «Manche wenden Tricks an, die wir für chemisch unmöglich hielten: Wenn wir genau verstehen, wie sich diese Mikroben am Leben halten, wissen wir, wonach wir in sauerstofflosen Welten suchen müssen.»

(NG, Heft 8 / 2010, Seite(n) 120)

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