Größtes Blauwalfossil der Welt spaltet die Forschergemeinde

Die Meeresriesen sind schon seit Jahrmillionen in den Ozeanen zu Hause. Aber noch herrscht Uneinigkeit darüber, wann und wie sie so stattliche Größen erreichten.

Von Tim Vernimmen
Veröffentlicht am 27. Mai 2019, 15:04 MESZ
Eine Luftaufnahme zeigt einen etwa 24 Meter langen Blauwal im Meer von Kalifornien. Ein in Italien ...
Eine Luftaufnahme zeigt einen etwa 24 Meter langen Blauwal im Meer von Kalifornien. Ein in Italien entdecktes Fossil zeigt, dass Blauwale eine solch stattliche Größe schon vor etwa 1,5 Millionen Jahren erreichten.
Foto von Flip Nicklin, Minden Pictures

Der Blauwal ist nicht nur das größte heute lebende Tier der Welt, sondern auch das schwerste, das überhaupt je gelebt hat. Eine Analyse eines Fossils, das am Ufer eines italienischen Sees gefunden wurde, gibt Hinweise darauf, wie das Tier zu einem solchen Giganten werden konnte.

Der gewaltige Schädel, der im Fachmagazin „Biology Letters“ beschrieben wurde, lässt darauf schließen, dass der Blauwal, zu dem er gehörte, mit knapp 26 Metern Körperlänge das größte bekannte Walfossil darstellt, das je gefunden wurde. Damit war das Tier nur ein wenig kleiner als die größten bekannten Blauwale unserer heutigen Zeit, die bis zu 30 Meter lang werden können. Die Wissenschaftler überrascht dabei vor allem, dass ein Wal von solcher Größe schon vor etwa 1,5 Millionen Jahren in den Meeren des frühen Pleistozäns schwamm – deutlich eher als bisher angenommen.

Eine Illustration zeigt das Größenverhältnis zwischen einem Menschen und dem prähistorischen Wal.
Foto von Illustration by Alberto Gennari

„Die Tatsache, dass es einen so großen Wal schon vor so langer Zeit gab, lässt vermuten, dass es große Wale generell schon seit einer Weile gibt“, sagt der Co-Autor der Studie, Felix Marx, ein Paläontologe am Königlichen Belgischen Institut für Naturwissenschaften in Brüssel. „Ich glaube nicht, dass sich eine so große Art über Nacht entwickeln kann.“

Riesenfund

Da große Walfossilien aus den letzten 2,5 Millionen Jahren der Erdgeschichte eher selten sind, war es bislang gar nicht so einfach herauszufinden, wie genau Wale so groß werden konnten. Dieser Fossilmangel lässt sich wahrscheinlich durch eine Reihe von Eiszeiten erklären, die der Planet in dieser Zeitspanne erlebte. Als große Wassermassen zu Eis gefroren, sank der Meeresspiegel dramatisch ab.  Die Überreste der Wale, die zu dieser Zeit starben, liegen daher vermutlich viele Meter tief unter dem heutigen Meeresspiegel. 

BELIEBT

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    Im Jahr 2006 entdeckte ein Landwirt nahe der süditalienischen Stadt Matera ein paar riesige Rückenwirbel, die am Ufer jenes Sees aus dem Lehmboden ragten, mit dessen Wasser er seine Felder bewässert. Im Laufe von drei Herbsten – als der Wasserstand abgesenkt werden konnte, ohne die Ernte zu gefährden – gruben der italienische Paläontologe Giovanni Bianucci von der Universität Pisa und sein Team die Überreste aus.

    Damals vermuteten die Forscher bereits, dass es sich um ein Blauwalfossil handeln könnte. Anatomische Studien konnten diesen Verdacht schließlich bestätigen.

    Das versteinerte Bruchstück des Wals von Matera (links) half Wissenschaftlern dabei, den gesamten Schädel des Tieres für ihre anatomische Analyse zu rekonstruieren.
    Foto von Akhet s.r.l., Zeichnung und Kompsition von G. Bianucci und F. Marx

    Das neue Fossil könnte auch offenbaren, dass die Wale ihre beachtliche Körpergröße eher schrittweise erreichten. 2017 analysierten Forscher im Rahmen einer Studie die Körpergrößen aller Bartenwale, von denen einige nur von Fossilfunden bekannt sind. Die Ergebnisse ließen vermuten, dass ihre Körpergröße ziemlich rapide anstieg. Vermutlich ereignete sich diese Veränderung vor etwa 300.000 Jahren, möglicherweise aber auch schon vor 4,5 Millionen Jahren.

    Als Marx das neue italienische Fossil in die Analyse einbezog, „verschob sich der wahrscheinlichste Zeitpunkt auf 3,6 Millionen Jahre in der Vergangenheit – vermutlich sogar noch weiter, eventuell bis auf 6 Millionen Jahre.“

    Überschuss an kleinen Fossilien

    Graham Slater von der University of Chicago, der die ursprüngliche Analyse durchführte, verweist darauf, dass auch 3,6 Millionen Jahre immer noch in das recht große Zeitfenster passt, das sich in seinem Ergebnis widerspiegelt. Selbst, wenn der wahrscheinlichste Zeitpunkt für die Größenzunahme der Wale so weit in der Vergangenheit liegt, sind 3,6 Millionen Jahre ihm zufolge eine sinnvolle Annahme.

    Zu dieser Zeit veränderten sich die Meerestemperaturen und damit vermutlich auch die Menge des verfügbaren Futters für Blauwale. Durch kaltes Wasser, das aus der Tiefe aufstieg, entstanden Bereiche mit einer sehr hohen Beutedichte, was „wichtig für die Ernährung sehr großer Wale ist“, wie er erklärt. Slater stimmt Marx allerdings nicht darin zu, dass die neue Analyse einen noch früheren Ursprung für die gewaltige Größe von Blauwalen favorisiert. (Weltraumwale und fliegende Echsen: Die Tiere des Kosmos)

    Drohnenaufnahmen eines Blauwals beim Fressen

    Es stimme schon, dass die Analyse selbst ein solches Szenario nicht direkt bestätigt, gibt Marx zu. Seine Sichtweise gründet sich eher auf hypothetischen Funden, mit denen er in Zukunft rechnet. Da es schwierig ist, große Walfossilien zu bergen, zu untersuchen und zu beschreiben, könnte unser Verständnis von der Evolution ihrer Körpergröße verzerrt sein.

    Marx ist derzeit an einem Projekt in Peru beteiligt, bei dem diverse Walfossilien entdeckt, aber noch nicht geborgen wurden. Auch wenn es aktuell nur vorläufige Daten gibt, scheint ihre Einbeziehung in die Analyse die Wahrscheinlichkeit für eine plötzliche Größenveränderung weiter zu verringern, wie er sagt.

    „Ich weiß von mehreren großen Walen, die mindestens genauso alt sind und noch nicht [in wissenschaftlichen Publikationen] beschrieben wurden“, so Marx. Er ist überzeugt davon, dass jedes zusätzliche große Walfossil, das wir finden und dokumentieren, das Szenario eines allmählichen Größenwachstums wahrscheinlicher machen wird.

    Diese Darstellung zeigt, wie sich die Körpergröße der Bartenwale im Laufe der Zeit verändert hat. Die roten Punkte repräsentieren den Blauwal von Matera und drei peruanische Fossilien, die noch nicht vollständig ausgegraben wurden.
    Foto von Diagramm angepasst von Graham J. Slater et al., Blauwal gezeichnet von Carl Buell

    Der Paläontologe Cheng-Hsiu Tsai von der National Taiwan University hat die spärlichen Überreste des vermutlich zweitgrößten je gefundenen Walfossils beschrieben, ein Finnwal aus Kalifornien. Er vertritt schon seit einiger Zeit die Position, dass Bartenwale viel eher als allgemein vermutet zu ihrer eindrucksvollen Körpergröße gelangten. Er stimmt mit Marx’ Schlussfolgerungen größtenteils überein.

    „Um ehrlich zu sein, überrascht mich dieses Fossil kein bisschen“, sagt Tsai. „Ich gehe davon aus, als wir bald etwas noch Größeres und Älteres finden werden.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

    Blauwale

    Tiere1:48

    Womöglich erste Aufnahmen eines "Hitzelaufs" von Blauwalen

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