Tierrettung im Amazonas: Überlebende im Flammenmeer

In einer provisorischen Klinik arbeiten Ärzte und Helfer rund um die Uhr, um den oft schwer verletzten Tieren zu helfen, die sich vor den Flammen retten konnten.

Von Natasha Daly
bilder von Juan Pablo Ampudia
Veröffentlicht am 27. Sept. 2019, 14:22 MESZ
Dieses Gürteltier ist eines der 70 Tiere, die aus den verbrannten Bereichen rund um Santa Cruz in Bolivien gerettet wurden. Die Tiere werden im Centro de Rescate para Víctimas de Incendios Biotermal behandelt. Das Hotel in der kleinen Gemeinde Aguas Calientes wurde zu einer Tierklinik umfunktioniert. Der Hotelbesitzer José Sierra versucht, das Tier vor seiner Freilassung zu beruhigen.
Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic

In den letzten 35 Tagen war der Biologe Raúl Ernesto Rojas fast jeden Tag zusammen mit freiwilligen Helfern unterwegs, um am Rande der Brandherde nahe der bolivischen Stadt Santa Cruz nach Tieren zu suchen. Meistens finden sie nur verbrannte Knochen und Kadaver. Für eventuelle Überlebende, die sich verstecken, legen sie Wasser und Mais in Palmkernschalen aus.

„Wir haben aufgehört zu zählen, weil es zu viele waren“, sagt Rojas über die toten Tiere.

Eine Überraschung ist das allerdings nicht. Nichts im Amazonas ist auf die Waldbrände ausgelegt, die derzeit in weiten Teilen Boliviens, Brasiliens, Perus und Paraguays wüten. Die meisten wurden absichtlich gelegt, um schnell und einfach große Waldflächen zu roden. Bislang sind in der Region Chiquitanía rund um Santa Cruz fast 2,5 Millionen Hektar abgebrannt, wie die Stadtregierung mitteilt. Noch ist unklar, wie viel Regenwaldfläche durch die diesjährigen Feuer insgesamt verloren ging, aber laut dem Weltraumforschungsinstitut Boliviens waren es die schlimmsten Brände der Geschichte.

Jeden Tag suchen Angestellte und Freiwillige des Rettungszentrums nach überlebenden Tieren. Meist finden sie nur zahlreiche verkohlte Skelette. Für potenzielle Überlebende, die sich versteckt halten, legen sie Mais und Wasser aus.
Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic

BELIEBT

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    Die Tierärztin Fabiola Suárez hält im Rettungszentrum in Aguas Calientes ein verwaistes Pekariferkel auf dem Arm. Das Jungtier wurde in einer Brandzone gefunden und überlebte die Nacht nicht.
    Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic
    Junge freiwillige Helfer aus Roboré, einer kleinen Stadt etwa 30 Kilometer entfernt von Aguas Calientes, bekämpfen die Flammen. Die jungen Männer arbeiten in Gruppen, um die Brände zu löschen, die bereits mehr als 2,5 Millionen Hektar Wald in der Region vernichtet haben.

    Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic

    Die Verluste, die das Feuer unter den Wildtieren des Amazonas anrichtet, können womöglich nie beziffert werden. Augenzeugenberichte geben allerdings einen Einblick in das Schicksal einzelner Tiere – und die enormen Herausforderungen für ihre Helfer.

    „Wir haben eine Menge Skelette gefunden“, sagt Rojas, der für die Stadtverwaltung von Santa Cruz arbeitet. Die Tiere „haben versucht, vor dem Feuer zu fliehen. Aber die Flammen haben sie eingeholt und verbrannt. Wir sehen überall Tod und Zerstörung. Alles ist Asche.“

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    Sogar tote Affen finden sie immer wieder. Wenn selbst so schnelle und behände Tiere den Flammen nicht entkommen können, ist das „ein ganz schlechtes Zeichen“ für langsamere Geschöpfe. „Seit 15 Jahren habe ich schon mit solchen Katastrophen zu tun, aber das hier übertrifft alles.“

    Die Stadt Santa Cruz hat Rojas und fünf andere Mitarbeiter der Stadtverwaltung das Hotel Biotermal Aguas Calientes als temporäres Hauptquartier zugewiesen. Es wurde vorübergehend in ein Zentrum zur Wildtierrettung und –rehabilitation umfunktioniert. Fünf freiwillige Helfer von der Santa Cruz University und einem lokalen Wildpark sind ebenfalls Teil des Teams. Das Centro de Rescate para Víctimas de Incendios Biotermal, wie die Notfalleinrichtung nun heißt, eröffnete am 21. August in Aguas Calientes. Die kleine Stadt bei Santa Cruz hat gerade mal 900 Einwohner. Von den zwölf derartigen Einrichtungen in Bolivien ist die in Aguas Calientes die einzige, die sich speziell den Opfern der Waldbrände widmet.

    Im September war der weibliche Ameisenbär Valentina eines von 70 Tieren, die von den Angestellten einer provisorischen Tierklinik aus der Brandzone um Santa Cruz in Bolivien gerettet wurden. Sie erlitt an allen vier Pfoten Verbrennungen vierten Grades. Auf diesem Bild genießt sie trotzdem gerade ein bisschen Milch und Termiten.
    Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic
    Die Biologin Daniela Vidal überwacht die Vitalzeichen des Ameisenbären Valentina. Kurz nachdem das Tier mit Verbrennungen dritten Grades in das Rettungszentrum gebracht wurde, fiel es ins Koma.
    Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic
    Valentinas Pfoten stecken in dicken Verbänden. Auch wenn ihre Heilung ein langer Prozess sein wird, sind ihre Tierärzte optimistisch, dass sie wieder vollständig genesen wird.
    Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic

    Bislang hat das Team 70 Tiere behandelt, darunter Rotbauch-Schmuckschildkröten, Sittiche, Tukane und einen Dachs. Vor zwei Wochen nahmen sie einen Großen Ameisenbären auf, dessen Pfoten mit Verbrennungen dritten Grades übersät waren. „Ihre vier Beine waren völlig verbrannt“, sagt Flora Cecilia Dorado. Die Tierärztin von der Stadtverwaltung von Santa Cruz leitet das Rehabilitationsprojekt. Dorado zufolge war der Ameisenbär, den sie Valentina getauft haben, bisher ihr heikelster Fall. Kurz nach ihrer Ankunft fiel sie in ein 18-stündiges Koma. „Sie hat allen einen gehörigen Schrecken eingejagt“, sagt Dorado. „Valentina hat noch einen langen Weg vor sich.“

    Der Fall des Ameisenbären ist eher ungewöhnlich: Die meisten Tiere, die mit dem Feuer in direkten Kontakt kommen, sterben. Deshalb hat das Zentrum bisher auch noch keine 100 Tiere gerettet: Die Kadaver sind um ein Vielfaches zahlreicher als die Überlebenden. Die meisten Tiere, die den Flammen entkommen können und zum Zentrum gebracht werden, sind am Verhungern oder stark dehydriert.

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    Auch die Einwohner von Aguas Calientes und den umliegenden Orten helfen mit. „Die Gemeinden in der Nähe sind zum Überleben auf die Jagd angewiesen“, sagt José Sierra. Ihm und seiner Frau Claudia Mostajo Hollweg gehört das umfunktionierte Hotel (das für Gäste vorübergehend geschlossen ist). „Trotzdem bringen uns viele Leute [verletzte] Tiere vorbei“, zum Beispiel vier verwaiste Nabelschweine oder Pekaris. Ein Dorfbewohner fand die Jungtiere, die um ihre verstorbene Mutter herumrannten, und brachte sie zum Rettungszentrum.

    Dorado beschreibt ihre Pflegearbeit als zermürbend und emotional belastend. Die Tiere brauchen eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, weshalb Dorado nur etwa drei Stunden pro Nacht schläft. Fünf Tiere, darunter ein Tukan und ein Wasserschwein, sind seit ihrer Rettung verstorben. Andere – darunter Papageien, Schildkröten und ein Dachs – sind wieder vollständig genesen.

    Laut Dorado minimieren sie und ihre Pfleger den Kontakt zu den Tieren, da diese so schnell wie möglich wieder in die Freiheit entlassen werden sollen. Letzte Woche konnten sie einen Habicht auswildern, kurz zuvor ein ausgewachsenes Gürteltier. Exemplare, die nicht wieder freigelassen werden können – beispielsweise ein sehr junges Gürteltier –, übergibt das Team an den Zoo von Santa Cruz.

    Zeit und Ausrüstung sind Mangelware

    Trotz der Unterstützung der Gemeinden und der unermüdlichen Arbeit der freiwilligen Helfer sieht es für das Zentrum nicht gut aus. Die Angestellten der Stadtverwaltung von Santa Cruz, darunter auch Rojas und Dorado, könnten jederzeit wieder abgezogen werden. Es gibt keinerlei Ausrüstung, um innere Verletzungen zu diagnostizieren. Einer der Patienten des Zentrums war ein Pferd namens Milagros („Wunder“). Nachdem es auf einer umzäunten Weide vom Feuer eingeschlossen worden war, erlitt es am ganzen Körper Verbrennungen vierten Grades. José Sierra zufolge vermuteten die Mitarbeiter des Zentrums, dass die Lunge und die Leber des Pferdes durch den Rauch schwer in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Allerdings konnten sie keine genauere Untersuchung vornehmen. Milagros starb.

    Milagros („Wunder“) erlitt Verbrennungen viertes Grades an Kopf und Hals, als sie in einem eingezäunten Feld vom Feuer eingeschlossen wurden. Als sie im Rettungszentrum eingeliefert wurde, hatte sie bereits mehrere Tage unter ihren Verletzungen gelitten. Trotz der Bemühungen der Tierärzte starb Milagros.
    Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic

    Das Team befürchtet, dass es weder die Ausrüstung noch die Ressourcen erhalten wird, um die Tiere langfristig zu betreuen. „Aktuell spielt sich hier eine Tragödie ab“, sagt Dorado. „Am wichtigsten ist jedoch die Frage, was passieren wird, wenn das alles vorbei ist.“

    In Bolivien findet aktuell Wahlkampf statt, und die lokalen Amtsträger kommen nur zu gern vorbei, wenn Tiere freigelassen werden, um ihr Gesicht in die Medien zu bringen, sagt Rojas. Allerdings macht er sich Sorgen, dass diese Aufmerksamkeit nicht lange anhalten oder dazu beitragen wird, dass das Zentrum in eine permanente Einrichtung umgewandelt wird und vernünftiges Equipment erhält.

    „Das muss man immer wieder ganz deutlich sagen“, so Rojas. Wenn der Regen kommt und die Brände löscht, „werden uns alle vergessen. Nach den Wahlen wird niemand mehr an die Tiere denken. Die werden aber noch viele Monate lang unsere Aufmerksamkeit brauchen. Die Menschen müssen diese Initiative unterstützen.“

    Kaum Hilfsmöglichkeiten

    Für die Tiere in Brasilien sieht die Lage ähnlich aus wie in Bolivien, erzählt João Gonçalves. Er ist der brasilianische Kommunikationsmanager für World Animal Protection, eine gemeinnützige internationale Organisation, die sich für das Tierwohl einsetzt. Viele Tiere entkommen den Flammen nicht und sterben. Die Überlebenden sind oft verwaiste Jungtiere oder haben schwere Verbrennungen.

    Es gibt keine zentral gelenkten, landesweiten Rettungsprojekte, um Tieren zu helfen, die durch die Brände verletzt wurden, sagt Gonçalves. Die Rettungsaktionen sind allesamt lokal organisiert und auf freiwilliger Basis. Wie groß die Hilfsprojekte sind, ist von Region zu Region verschieden. Im Großteil des Landes bleiben die Entscheidungen an den Feuerwehrleuten hängen. Wenn sie bei ihrer Arbeit verletzten Tieren begegnen, können sie sie in ein lokales Rettungszentrum bringen – wenn es in der Nähe denn eins gibt, was nur selten der Fall ist.

    Freiwillige Feuerwehrleute aus Roboré bahnen sich mit Taschenlampen den Weg zum Brand.
    Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic
    Eine Luftaufnahme von verbrannten Zitronenbäumen in Roboré verdeutlicht das Ausmaß der Zerstörung.
    Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic
    Freiwillige Helfer aus der Stadt San Lorenzo bereiten sich auf ihren Einsatz vor. Sie müssen neue Brände bekämpfen, die sich ihrer Stadt nähern.
    Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic

    Für gewöhnlich verfügen Feuerwehrleute über keinerlei Training zur Rettung von Wildtieren. Außerdem haben sie keine Erste-Hilfe-Ausrüstung für Tiere oder sonstige Hilfsmittel wie Haken, mit denen sie Schlangen hochheben können, oder Kisten zum Transport. World Animal Protection organisiert deshalb in Partnerschaft mit den Feuerwachen rund um Rio Branco, wo aktuell noch die Brände wüten, Kurse und Material, um die Tierrettung zu unterstützen.

    Das Rettungszentrum in Rio Branco betreut unter anderem zwei verwaiste Faultierbabys, die von Feuerwehrleuten gerettet wurden. Aber selbst die Rettungsteams können eben nur das Leid einzelner Tiere mindern. Die gewaltigen Brände hingegen bedrohen ganze Populationen.

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    Die globale Organisation Panthera, die sich dem Schutz von Großkatzen verschrieben hat, schätzt, dass die Brände allein in Bolivien und Brasilien bereits 500 Jaguare getötet oder ihrer Lebensgrundlage beraubt haben könnten. Das sind 500 Tiere einer ohnehin schon rückläufigen Population, die durch den Verlust und die Fragmentierung ihres Lebensraums sowie die Jagd bedroht ist, sagt Esteban Payán, der Panthera-Regionaldirektor für Südamerika.

    „Die Geschwindigkeit dieser Verluste“ sei das Gefährliche daran, wie er sagt. „Jäger könnten niemals hunderte Jaguare binnen zwei Wochen töten.“

    Hoffen auf ein Umdenken

    Für die Bolivier, die im Rettungszentrum von Aguas Calientes arbeiten, ist jeder Erfolg ein Sieg. „Jedes Leben ist wichtig. Jedes Tier ist wichtig“, sagt Rojas, der Biologe, der täglich die ausgebrannten Bereiche nach Überlebenden absucht.

    „Was hier passiert ist, tut weh“, sagt Dorado. Sie hofft, dass die Geschichten der einzelnen Tiere – der Ameisenbär Valentina, die mutterlosen Pekariferkel, das Pferd Milagros, das seinen Verletzungen erlag – den Menschen die Augen für die Folgen ihres Handelns öffnen. „Ich hoffe, die Leute können sich bewusst machen, dass der Mensch die Hauptursache für das ist, was den Tieren und der Natur angetan wird. Ich hoffe, sie wachen auf.“

    Angestellte des Rettungszentrums in Aguas Calientes und Vertreter der Stadt lassen einen Habicht frei, der sich wieder erholt hat. Die provisorische Einrichtung wurde temporär von der Stadtverwaltung genehmigt, aber der Besitzer José Sierra betont, dass daraus ein permanentes Rettungszentrum werden muss. Nur so können finanzielle Förderung, Ausrüstung und Angestellte zur Verfügung gestellt werden.
    Foto von Juan Pablo Ampudia, National Geographic

    Am 14. September, einem Samstag, hat Dorado im Rettungszentrum ihren langjährigen Lebensgefährten geheiratet. „Er hat immer gesagt ‚Lass uns das morgen machen, wenn wir mehr Geld haben‘. Aber nachdem ich das hier gesehen und 15 Tage hier gearbeitet hatte, habe ich zu ihm gesagt ‚Ich will dich hier heiraten. Weil es kein Morgen gibt.‘“

    Am darauffolgenden Tag fuhr sie Valentina in aller Frühe zur Behandlung nach Santa Cruz. Kurz darauf begann der Ameisenbär wieder zu laufen.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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